von Petra » Do 9. Okt 2008, 12:30
Hallo Ihr Lieben,
ich habe länger überlegt, ob ich darauf noch irgendwas schreiben soll oder nicht. Doch möchte ich das. Insbesondere, da ich eben in der Mittagspause etwas gehört habe (im Hörbuch „Die souveräne Leserin“, das Christine und einige andere hier kürzlich ebenfalls gelesen oder gehört haben). Da wird ja das Lesen, Literatur, Ihr Sinn und Zweck und das was Literatur leisten kann in einer herrlich nette Geschichte gepackt (die Queen als Leserin – diese Leserin könnte aber auch jeder andere Mensch sein). Und in dieser Geschichte mag sie Henry James nicht so gern. Und sie liest gerade was von Henry James und empört sich zwischendurch laut und sagt etwas in der Art wie: „Jetzt aber mal los!“ Das Dienstmädchen, das sich im Zimmer befindet, fühlt sich angesprochen und zieht mit ihrem Wägelchen los (ich glaube Tee holen). Die Queen meinte sie gar nicht... sondern Henry James. Eine Passage später geht es um Mitgefühl anderen Menschen gegenüber. Die Queen entdeckt an sich, dass sich ihre Fähigkeit sich in andere Menschen hineinzufühlen verstärkt hat und kommt auf den Gedanken, dass es durch die Bücher, durch das Lesen gekommen sein könnte.
Und das ist etwas, was ich persönlich an Literatur sehr schätze: Man muss die Meinung des Autors nicht übernehmen. Es reicht schon, wenn er einen anderen Blickwinkel, eine andere Sichtweise aufzeigen kann. Beweggründe, persönliche Motive, die den ein oder anderen Menschen zu diesem oder jenem veranlassen.
Da fiel mir die Diskussion hier ein. Ein Autor kann einem eine Sichtweise darstellen und einen lehren mitzufühlen. Wenn man die älteren – wie Lenz – die sich mit der Nachkriegszeit und/oder Flüchtlingen auseinander setzen liest, kann man gewiss darüber andere Sichtweisen kennen lernen. Sich in andere hineinfühlen. Dafür ist es gut, wenn man Menschen zuhört. Besonders wenn er älter ist, Lebenserfahrung hat oder einfach etwas miterlebt hat, was wichtig für das Verstehen unseres Hier und Jetzt ist. Es muss ja nicht unbedingt Lenz sein. Aber einfach mal zuhören (lesen) und sich versuchen hineinzuversetzen, kann helfen.
Warum ich das schreibe? Hm. Das soll sich jeder selbst denken.
Noch etwas: Maria, nicht nur Du hast in der Familie persönlichen Bezug zum Thema Flüchtlinge. Meinen Großvater väterlicherseits habe ich leider nie kennen gelernt. Obwohl mein Vater ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist (wir haben 1 Foto – zum Glück wenigstens dies eine), kann ich nicht einschätzen, was er in unsere Familie (Gene) gebracht hat. Denn ich habe ihn nicht kennen gelernt. Er wurde von den Russen vor den Augen meines damals 4-jährigen Vaters seiner Familie entrissen. Er kam nie zurück. In den 80er Jahren kam ein Brief einer Frau. Sie war mit meinem Großvater im Ural im Lager. Als er merkte, dass er es nicht mehr schafft, hat er ihr seine Essensration gegeben, damit sie wenigstens bei Kräften bleibt. Er ist dort gestorben. Wissen wir durch den Brief dieser Frau seit den 80er Jahren endlich mit Gewissheit! Entwurzelt zu sein und neu Fuß fassen zu müssen ist meiner Großmutter nicht leicht gefallen. Sie war ein – so kannte ich sie nur – verbitterter Mensch. Ich glaube ich weiß durch den Hintergrund ein bisschen wieso. Es macht auch nicht wirklich was gut, wenn man dann eine finanzielle Starthilfe bekommt. Die Heimat musste man verlassen und noch viel schlimmer, sicher grausames ertragen, gekrönt dadurch, dass der Ehemann (und Vater ihrer beiden Söhne) entrissen wurde. Mit der Ungewissheit leben, ob er je zurückkommen wird und was mit ihm geschehen ist. Und die Kinder alleine großziehen. Da kann man wenigstens eine Finanzspritze auch wahrlich gut gebrauchen! Um sich ein Bild über solche Schicksale zu machen, muss man – auch oder besonders – älteren Menschen zuhören, die das alles erlebt haben. Um es ein kleines bisschen zu verstehen. Was gewesen ist. Warum die Menschen und Familie so geworden sind, wie sie sind. Und sicher kann man für die Zukunft daraus was lernen.