T.C. Boyle

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Re: T.C. Boyle

Beitragvon Shaftoe » Sa 10. Mär 2012, 22:02

Hallo Petra,

'America' am nächsten kommt vielleicht 'Talk Talk' und der 'Samurai...'.

freut mich dass ihr Spaß habt mit Boyle.


S.
(steffi: schöne Schilderung von dem seltsamen Völkchen da drüben)
Ich identifiziere mich ab heute als Proton: Ich bleibe positiv
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Re: T.C. Boyle

Beitragvon JMaria » Mo 12. Mär 2012, 11:03

Hallo zusammen,

@Steffi,
dein Erfahrungsbericht macht das ganze noch viel realistischer.

Das Erbauen eines Tores vor der Siedlung 'oben' auf dem Berg grenzt die Menschen mehr aus, als dass es Sicherheit bietet. Erschreckend was für ein Denkmuster dadurch entsteht. Die Weißen leben in ihrer Abgegrenztheit, dem sie einen traditionellen Namen geben, nämlich Arroyo Blanco, im traditionellem mexikanischen Baustil, das man um garkeinen Fall verändern darf, das steht in den Kaufverträgen, alle Häuser müssen weiß sein mit roten Ziegeldächer, wie grotesk.

@Petra,
was du über die Pflaster gesagt hast, ist mir garnicht so ins Bewußtssein gedrungen. Zwar las ich über dieses gabacho-farbene Heftpflaster, aber dass uns so selbstverständlich 'hautfarben' über die Lippen kommt, wenn wir Pflaster sehen/kaufen, bereitet in diesem Fall schon ein Unbehagen.

Die Spannung lässt auch nach 4 Kapitel nicht nach. Ergreifend wie América versucht ihre Situation zu verbessern, auch wenn sie ungeheuer Angst empfindet. Aber sie ist kein Kind mehr, sie ist schwanger und kann nicht darauf warten, dass ihr Mann sie ernährt.
Schöne Grüße, Maria
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Re: T.C. Boyle

Beitragvon Petra » Mo 12. Mär 2012, 15:21

Hallo zusammen,

Zu „América“: Maria, dann sind wir ähnlich weit. Ich befinde mich gerade mitten im 5. Kapitel.

Ein guter Gedanke, Steffi, den Du zu Amerika hast. Denn von Amerika ist hier die Rede, sehr recht. Nicht von den USA, nicht von Mexico, sondern vom gesamten Amerika, von dem Cándido und América ein Teil sind, bzw. sein sollten. Aber sie gehören – zumindest in den USA – nicht dazu.

Ich fand auch sehr interessant, was Du an eigenen Eindrücken geschildert hast, Steffi. Ich stimme Maria zu: Das zeigt, wie authentisch dieser Roman ist in seinen Beschreibungen der Armut jenseits der Grenze, und wie erschreckend der Bruch zum Wohlstand direkt nebenan ist. Auch den bitteren Aberwitz, der sich auch in T.C. Boyles Roman wiederfindet, dass man einerseits die Mexikaner aus dem Leben ausschließen möchte, andererseits sie aber beschäftigt, um Profit zu machen oder sich Arbeiten erledigen zu lassen, bestätigen Deine Erlebnisse.

Interessant finde ich auch, dass Boyle anscheinend gar nichts überspitzt darstellt. Auch nicht die Siedlung Arroyo Blanco, die er hier schildert. Dass es dies im Kleinen gibt, war mir zwar klar. Aber dass er hier gar nicht übertreibt, ist erschreckend. Dass man seine Individualität opfert für eine scheinbare, lediglich gefühlte Sicherheit, ist sehr bedenklich. Danke für Deine Schilderungen Steffi - sehr bereichernd!

Was Du, Maria, zu der Siedlung im Buch schreibst, habe ich genauso empfunden. Wie krank, sich dort einerseits vor (u. a.) den Mexikanern schützen zu wollen, sie auszuschließen, bzw. sich selbst abzuschotten, aber andererseits diesen spanischen Stil für die Häuser verwenden und zu aller Ironie sich hier und da mexikanischer Arbeitskräfte zu bedienen. Hiervon bekommt man eine Ahnung im 5. Kapitel, als Delaneys Frau über den mexikanischen Gärtner nachdenkt, den sie sonst immer beschäftigt hatten, wenn an Immobiliengrundstücken Arbeiten zu verrichten waren.

Die Stelle mit dem Heftpflaster bereitet mir auch nachhaltig Unbehagen, bzw. die Gedanken die sie ausgelöst hat. Das zeigt doch ganz deutlich, dass die anderen Hauptfarben von uns gar nicht ernst genommen werden. Und das zeigt auch, dass es uns Weißen gar nicht bewusst ist, während es jemandem wie Cándido sehr wohl bewusst ist. Sonst hätte er innerlich die Feststellung ja nicht getroffen, dass das Pflaster gabacho-farben ist. Eine Feststellung, die uns Weißen gar nicht in den Sinn kommt. Denn ich habe darüber zuvor noch nie nachgedacht. Und die meisten anderen sicher auch nicht. Wie anmaßend und wie ignorant, dass wir unsere Hauptfarbe als die einzige wahrnehmen, als gäbe es keine anderen. Durch Cándido wurde mir das so richtig bewusst. Und ich finde es genial, dass Boyle das so nebenher einfließen lässt.

Mir kam schon der Gedanke, dass das sogar eine tolle Geschäftsidee wäre. Das brachte mich jetzt auf den (ich dachte fast) abwegigen Gedanken, im Internet mal für „Heftpflaster für dunkle Haut“ zu suchen. Ich bin fündig geworden. Eine Jamaikanerin hat die Geschäftsidee entwickelt. Ich finde das ganz große klasse, und auch das :arrow: Interview mit ihr auf afrika.net. Sie ist dafür sogar mit einem Preis ausgezeichnet worden. Meinen Beifall hat sie!

Zu anderen Romanen von T.C. Boyle: Wie ich sehe, ist „América“ der Favorit von einigen hier. Für weitere Romane von T.C. Boyle habt Ihr meine Tendenz zu „Der Samurai von Savannah" bestärkt. Mir liegt das Buch sicher, da mich das Thema (auch hier geht es ja um Immigranten, Fremdenhass etc.) einfach sehr interessiert, und es ja auch sehr aktuell ist. Neben „World's End“ ist nun noch „Willkommen in Wellville“ in mein Blickfeld gerückt, denn was Ihr, Steffi und Maria, darüber schreibt, ist verheißungsvoll. Ich denke, das werde ich irgendwann auf jeden Fall versuchen. Und „Talk, Talk“ schaue ich mir nun auch näher an. Den habe ich sogar als Hörbuch. Aber mal sehen, ob ich ihn dann nicht lieber lesen möchte. Danke für Eure Empfehlungen für mich.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: T.C. Boyle

Beitragvon steffi » Mo 12. Mär 2012, 16:26

JMaria hat geschrieben: im traditionellem mexikanischen Baustil, das man um garkeinen Fall verändern darf, das steht in den Kaufverträgen, alle Häuser müssen weiß sein mit roten Ziegeldächer, wie grotesk.


*grins* - solche Häuser im Adobestil gibt es bei meiner Schwester (sie lebt am Rand der Wüste), wir konnten den Bau in der Nachbarschaft beobachten, sie bauen mit Holz und Styropor, nachher verputzt sieht es aus wie Stein.
Ja, so ist das in diesen Siedlungen - man fährt herein und alles sieht gleich aus, z.B. in einer Siedlung mit diesem Baustil wären sicher nur Wüstenpflanzen erlaubt, die Haustür bzw. Garagentür muss in einer bestimmten Farbpalette sein etc. Womöglich ist sogar die Weihnachtsdeko vorgeschrieben ?

Petra hat geschrieben:Eine Feststellung, die uns Weißen gar nicht in den Sinn kommt. Denn ich habe darüber zuvor noch nie nachgedacht.
Ein wichtiger Gedanke - wir nehmen so vieles als selbstverständlich, deshalb finde ich deine Recherche nach dem Pflaster sehr interessant.

@Petra: Talk, talk habe ich als Hörbuch gehört und es hat mir sehr gefallen !
Gruss von Steffi

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Re: T.C. Boyle

Beitragvon Petra » Di 13. Mär 2012, 18:12

Hallo zusammen,

und wieder eine Stelle, in der Absurdität liegt. Delaney hat sich für seine Kolumne auf eine kleine Wanderung am Canon begeben. Ihn ärgert maßlos die Umweltverschmutzung dort, die verursacht wird durch die illegalen Einwanderer. Die Mexikaner, die dort hausen, haben ihre Schlafsäcke und dort liegen, und ihre Utensilien. Was für Delaney Müll ist, ist für sie ihr Hausrat, ja, sogar ihr ganzer Besitz. Delaney überlegt in seiner Wut sogar, die Sachen zusammenzuraffen und sie wegzuwerfen, so sehr ärgert er sich über die Verschandelung.

Unfassbar. Was für die einen die einzigen Besitztümer, ist für andere Müll. Dass Delaney aber soweit geht, und denkt, dass sie das schöne Naturbild verschandeln, das er so gern genießen möchte, dabei aber völlig übersieht, dass die Mexikaner doch Teil der Natur sind. Er möchte lieber ihnen den Lebensraum streitig machen, als sein Bild verschandelt zu sehen. Seine Augenweide geht ihm vor dem klitzekleinen Wohlergehen dieser armen Menschen. Als hätten sie nicht selbst gern ein Haus. Als würden sie es sich aussuchen, dort zu hausen.

Das schlimme ist, dass Delaneys Denkweise zwar absurd ist, aber dass sie nur widerspiegelt was wir selbst oft in ähnlichen Situationen denken. Die Sichtweise der anderen Seite berücksichtigen wir gar nicht, wenn wir uns durch etwas gestört fühlen, das bei näher Betrachtung vollkommen unwichtig ist.

Interessant auch was Kyra, Delaneys Frau denkt: Wozu lebt sie? Um Häuser zu verkaufen? Ihr dämmert gerade, dass ihr Leben hohl ist. Wer weiß, wie lange das anhält.

Ganz schlimm waren die Szenen, als América endlich Arbeit gefunden hat. Wie weh muss es tun, zu sehen, dass eine so heruntergekommene US-Bürgerin wie Mary mehr Geld für weniger Arbeit bekommt wie sie. Diese Kränkung muss sehr schmerzen. Und was sie sich von dem dicken Mann dann noch an Begrapschungen gefallen lassen muss, wenn sie noch mal wieder Arbeit bekommen will. Schlimm! Ich habe ihre Demütigung mitgespürt.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: T.C. Boyle

Beitragvon JMaria » Mi 14. Mär 2012, 11:12

Hallo Petra,

ich bin erstaunt, welch heiße Themen Boyle in América anfasst. Ich könnte mir vorstellen, dass ihn das bei erscheinen des Buches nicht viele Freunde einbrachte, sicher nicht in Kalifornien. Den Spiegel schonungslos einer Gesellschaft vorzuhalten ist ja immer riskant für einen Schriftsteller.

Ich bin noch mitten im 7. Kapitel (das bisher längste Kapitel) und mich schockt die subtile Gefahr (Jugendliche die Randalieren und das Camp verwüsten) und offene Gewalt (Parkplatz auf dem Supermarkt) .

Auch wie instabil in seiner Denkweise Delaney ist, erstaunt mich immer wieder. Seine Ansätze, Theorie, ist ehrlich und aufrichtig, alle sind im Grunde Einwanderer gewesen, aber er kann sich nicht rühren, auch vor Angst, was auch verständlich ist, wenn der Mexikaner auf dem Parkplatz verprügelt wird.

Durch den Unfall, wird jeder Mexikaner für ihn zu einer Mahnung !
Schöne Grüße, Maria
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Re: T.C. Boyle

Beitragvon Petra » Mi 14. Mär 2012, 16:26

Hallo Maria,

in der Tat soll es einen Aufschrei gegeben haben, als T.C. Boyle diesen Roman veröffentlichte. Bei Wikipedia (im :arrow: Artikel über „América“) steht: Boyle sagt selbst, "dass dies mein umstrittenster Roman war, als er erschien, denn ich behandelte darin das heiße Eisen eines sozialpolitischen Themas - illegale Einwanderung in Südkalifornien - und viele Kritiker nahmen sich das Buch mit starken Vorurteilen vor. Ich musste eine Menge von Beschimpfungen, inkl. (meine Lieblingsbeschimpfung) "menschlicher Abfall" in einer Radiosendung in San Francisco genannt zu werden, hinnehmen. Nachdem die Menschen im Laufe der letzten paar Jahre die Möglichkeit hatten, etwas tiefergründig über das Buch nachzudenken, haben sich die Wogen geglättet und "América" (The Tortilla Curtain) ist zu einem modernen Klassiker geworden. Es ist mein bei weitem populärster Titel, der sowohl in Highschools als auch in Universitäten im ganzen Land viel gelesen wird."

Ein weiterer erfreulicher Hinweis findet sich direkt darunter. Demnach war es schon Pflichtlektüre für das Zentralabitur in einigen Bundesländern. Auch in Schulbüchern für die Sekundarstufe II an deutschen Gymnasien sollen Auszüge aus dem Roman enthalten sein. Sehr erfreulich, denn die Themen Boyles sind so aktuell, keinesfalls nur in Kalifornien.
Ich komme noch mal kurz auf die Stelle zurück, als América auf dem Platz wartet, und hofft, dass sie Arbeit bekommt. Als sich Mary hinzugesellt, fragt sich América ja, wie es nur hat soweit kommen können, dass sie neben einer wie Mary (die nach Alkohol riecht) sitzt. Auf den ersten Blick scheint die Frage eher andersherum zu passen – als wenn Mary sich das umgekehrt fragen würde. Américas Sicht darauf irritiert somit zunächst, besonders da man sofort feststellt, wie recht sie hat. Und dass man es von außen genau andersherum betrachtet hätte. Mich hat dieser Gedanke Américas berührt, und wie so vieles in dem Buch, zum nachdenken gebracht.

Ja, im 7. Kapitel zeigt sich Delaneys Instabilität, als er nicht dazwischen geht, als dem Mexikaner auf dem Parkplatz zugesetzt wird. Und etwas später zeigt er noch mehr, wie wenig gradlinig er ist. Ich hatte bei der Stelle auf dem Parkplatz gedacht, dass Delaney, wenn er alleine dort wäre, dem Mexikaner noch etwas Geld zugesteckt hätte, wenn er ihm schon sonst nicht helfen würde, da er sich nicht traut. Doch kurz drauf musste ich den Gedanken verwerfen, da er den Mexikaner als Störung empfindet. Diesen Gedanken, dass Delaney in die falsche Richtung kippt, fand ich schlimm. Wo ist das Mitgefühl? Wo ist der Delaney, der im Supermarkt noch so groß herumgetönt hat, dass man in einer Demokratie lebe, und man niemanden aussperren dürfe. Kaum gesagt, schaut er doch wieder verächtlich auf den Mexikaner herab. Seine innere Moral deckt sich nicht mit seinem Handeln. Daran sieht man, wie hohl, wertlos und unecht seine Moral ist. Daran verursacht mir ein mulmiges Gefühl, dass die meisten Menschen so sind. Die meisten von uns verspüren Mitleid, wenn sie Bilder von hungernden und armen Menschen im Fernsehen sehen. Aber die Handlungen bleiben aus. Und im nächsten Moment fühlen wir uns wohl auch öfter mal gestört, wenn uns am Hauptbahnhof ein betrunkener, müffelnder Obdachloser anbettelt. Man kann diese Gedanken zahlreich weiterspinnen. Somit ist Delaney gar nicht so weit von uns entfernt. Vom einen etwas mehr, vom anderen etwas weniger. Aber zu Gedanken kann er uns alle anregen.

Du sprichst die subtile Gefahr an, Maria, die Dich schockiert. Das ist interessant, denn das hat mich genauso geschockt. Gestern lag ich auf der Couch und las (das 7. und 8. Kapitel), und mich beschlich dieses Gefühl der subtilen Bedrohung ebenfalls. Ich war erschüttert darüber, in welcher Angst Cándido und América (und wer weiß wie viele Menschen) leben müssen. Angst davor entdeckt zu werden, Angst davor, dass man ihnen Gewalt antut, Angst vor Abschiebung, Angst davor, keine Arbeit (für den nächsten Tag – wir reden hier nicht mal von einer Stelle für längere Zeit, die Angst beginnt jeden Tag von Neuem) zu bekommen. Und Américas Angst vor dem Arbeitgeber. Das hat mich auch sehr schockiert. Denn mir wurde eindringlich bewusst, dass jemand, der illegal im Land ist, keine Rechte hat. Jemand wie der dicke Mann, der América Arbeit gibt, hat mir das bewusst gemacht. Mal angenommen, er würde sie weiter sexuell belästigen, gar vergewaltigen. Sie könnte sich nirgends ihr Recht holen. América und Cándido sind nicht nur Illegale, sondern auch Entrechtete.

Ganz beklemmend fand ich auch die Angst von Cándido, was passiert, wenn América nicht zum Lager zurück findet. Oder wenn ihn die Migra aufgreift und aus dem Land abschiebt. Wie sollen sich América und Cándido wiederfinden? In einer Zeit (und einem Land), in dem alle technischen Möglichkeiten gegeben sind, hält man ein Problem wie dieses nicht für denkbar. Wie berechtigt Cándidos Furcht ist, hat mich betroffen gemacht.

Was América im Kapitel 8 widerfährt (ich möchte nicht zu viel verraten), bestätigt all das was mir an Gedanken kam nur noch ein weiteres mal. Was für eine traurige Geschichte, weil sie trotz der Fiktion so real ist und so viele Menschen betrifft. Und wir schaffen es trotzdem daran vorbei zu leben, und es wie Delaney zu halten. Uns ab und an mal gestört fühlen, in unserem heilen wunderbaren Leben. Von einem Schandfleck, von etwas Fremden.

Irgendwo im Internet habe ich die Frage gelesen, ob Delaney ein Rassist ist. Zum jetztigen Zeitpunkt würde ich sagen: nein. Obwohl er sich so verhält. Aber ich glaube nicht, dass er das bewusst macht. Ich glaube ihm seine Moral, die er innerlich zeigt. Aber ebenso glaubhaft sind seine Taten. Dieser Widerspruch zeigt mir, dass er einfach nur ignorant ist. Seine Belange gehen ihm vor den (viel ernsteren) Nöten eines Mexikaners.

Vielleicht entwickelt er sich aber noch zum Rassisten. Denn im 1. Kapitel des 2. Teils wird ihm sein Auto gestohlen. Und für ihn steht fest (was auch wahrscheinlich so sein mag), dass es Mexikaner waren. Er fühlt sich betrogen. Das Gefühl kann ich verstehen. Das empfindet man in solch einem Moment. Doch der Autoverkäufer, der Delaney ein neues Auto verkauft, bringt es auf den Punkt: man selbst würde es an des Mexikaners Stelle doch genauso machen. Dieser Roman zeigt uns doch, dass das vielleicht irgendwann die einzige Möglichkeit ist, um seine existenziellen Bedürfnisse zu stillen. Welches Unrecht wiegt stärker? Das des Diebstahls? Auf den ersten Blick ja. Oder aber das es dieses Ungleichgewicht zwischen den sozialen Schichten gibt. Auf den zweiten Blick, wenn man alles in summiert, dann möchte man während der Lektüre dem mutmaßlich mexikanischen Autodieb beipflichten. Und jede Wette, wenn uns selbst unser Auto geklaut wird, können wir es nicht mehr so objektiv betrachten, sondern sehen nur unseren eigenen Nachteil?

T. C. Boyle regt ganz geschickt solcherlei Gedanken an. Gedanken über die Menschen, aber auch um uns selbst. Denn so weit sind wir alle von Delaney gar nicht entfernt.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: T.C. Boyle

Beitragvon steffi » Do 15. Mär 2012, 11:00

Begeistert lese ich eure Gedanken zu América !

Ich glaube, dass diese Angst auf beiden Seiten besteht - dass die illegalen Einwanderer eine berechtigte und existenzielle Angst haben, ist klar, aber auch die Amerikaner, bürgerliche, aufgeklärte und intelligente Mittelklasse wie Delaney, haben Angst: vor Überfremdung, vor der anderen Kultur, davor, dass man teilen muss und auch Angst, sich der Realität zu stellen.

Man muss sich vorstellen, dass viele Amerikaner ja ihr Land nie in ihrem Leben verlassen, keine anderen Lebensweisen kennenlernen können. Und auch im Schulsystem wird immer die Individualität gefördert - z.B. keine gemeinsamen Klassenverbände und die Wettkampfmentalität ist ausgeprägt. Kein Wunder, dass ein Gemeinschaftsgefühl gar nicht aufkommt, wie man auch bei der Debatte um ein gemeinsames, solidarisches Krankenkassensystem gesehen hat. Der Zusammenhalt als Gesellschaft beruht eben auf Patriotismus, der sehr leicht in Rassismus umschlagen kann. Ich denke, aus dieser Angst heraus agiert auch Delaney - er hat Angst aus seiner Gemeinschaft, die er als Schutz ja doch braucht und z.B. in der Siedlung findet, herauszufallen, seine humanistischen Gefühle kann er zwar logisch aber nicht gefühlsmäßig verarbeiten.
Gruss von Steffi

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Re: T.C. Boyle

Beitragvon JMaria » Do 15. Mär 2012, 11:07

Hallo zusammen,
hallo Petra

wie komplex die Geschichte ist, sieht man, wenn man gedanklich mal durchspielt, was wäre wenn ....

Delaney nach dem Unfall die Polizei gerufen hätte?


Delaney wäre aus dem Schneider, er hätte ein reines Gewissen, könnte sein Leben weiterführen wie bisher, nichts mahnt ihn ! (... und wir hätten keine Geschichte darüber ;-) )


Obwohl das Problem der illegalen Einwanderer immer noch vorhanden wäre .... doch plötzlich betrifft es einen ja nicht mehr persönlich...


leider ist es ja so, dass man erst zum Nachdenken kommt, wenn man persönlich mit einem Problem betroffen ist. Im Falle Delaney merkt man auf einmal wie alles zusammenhängt. Dass auch die Regierung den Menschen, ob legal oder illegal im Land, im Grunde im Stich lässt mit seiner Politik.

Deswegen finde ich auch die Verbindung die Boyle mit der Natur herstellt so großartig. Alles ist im Großen verbunden.

Ich bin gerade an der Stelle (immer noch Kapitel 7), wo Delaney darüber nachsinnt, eine Artikelserie über eingeschleppte Tierarten zu schreiben.

Edit:
und da gefällt mir das Wort "eingeschleppt" eigentlich ganz gut (wie es wohl im Original heißt? ). Denn auch hier gibt es zwei Seiten, eine negative wie positive Seite für die Natur.
Schöne Grüße, Maria
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Re: T.C. Boyle

Beitragvon Petra » Do 15. Mär 2012, 11:54

Hallo Maria, Steffi und alle zusammen,

Steffi hat geschrieben:Ich glaube, dass diese Angst auf beiden Seiten besteht


Das ist sehr richtig, Steffi! Und T. C. Boyle trägt all diesen Ängsten – auf beiden Seiten – Rechnung. Dass er auch die Ängste der US-Bürger aufgreift, fiel mir gestern beim Lesen des 1. Kapitels erstmals richtig auf. Zum Schluss des 1. Kapitels im 1. Teil beschreibt er eine sehr intensive Szene, als Kyra eine der Immobilien aufsucht, die sie betreut. Auf dem Grundstück entdeckt sie zwei Eindringlinge (die beiden Mexikaner, die auch América überfallen haben, und denen auch Delaney schon begegnet ist). Die energische Kyra, die zuvor am dem Parkplatz des Restaurants dem verantwortungslosen Hundebesitzer so zugesetzt hat, wird auf einmal – gegen ihre innere Überzeugung und ihren eigenen Willen – vor lauter Angst ganz kleinlaut (übrigens toll, wie T.C. Boyle ihre Angst einfängt und ihre matte Stimme beschreibt). Sie sagt Dinge, die sie gar nicht sagen will, nur um sich zu schützen. Durch diese bedrohliche Situation kamen mir erstmalig die Ängste der Bevölkerungsgruppe wirklich nah, der Kyra und Delaney angehören. Ein gestohlenes Auto ist ein großes Ärgernis. Aber die Bedrohung der Sicherheit und des eigenen Lebens, die Kyra hier instinktiv spürt, ist etwas anderes. Ich verstehe sie. Und würde mich ganz genauso fühlen, eher noch ängstlicher.

Meine Begeisterung wächst immer mehr. T.C. Boyle beleuchtet das Thema wirklich von allen Seiten, und lässt den Leser verstehen.

So auch diese abstrakte Angst, die Du auch beschreibst, Steffi. Die Angst vor dem Fremden, der anderen Kultur. Auch die feine Grenzlinie zwischen Patriotismus und Rassismus hast Du sehr gut beschrieben – ich stimme Dir zu!

Auch richtig, dass die Summe all dieser Ängste auch Delaneys widersprüchliche Einstellungen erklärt. Mir ging zu ihm und dem Thema Rassismus gestern noch etwas durch den Kopf. Sein Rassismus kommt nicht von innen heraus. Dort, im inneren Monolog und somit im Bewusstsein, ist er kein Rassist. Seine rassistischen Gedanken und Handlungen (spontane Reaktionen) entsprießen seinem Unterbewusstsein. Unwohl wird mir, wenn ich mir klar mache, wie viele Menschen von Delaneys Sorte es gibt, und das ein bisschen was von ihm in uns allen (im Wohlstand lebenden) steckt. Und in der Vielzahl der Menschen, die sind wie Delaney, ist es auch gefährlich, gerade weil man sich selbst (wie Delaney) nicht als Rassist wahrnimmt. So lässt sich (auch vor sich selbst) eine Vielzahl an Rechtfertigungen finden, für unkorrektes Verhalten. Wie z. B. Kyra, die vor sich selbst behauptet, dass es nichts gegen die Mexikaner persönlich ist, aber dass sie um ihres Berufes Willen etwas dagegen unternehmen muss, dass sie mehr und mehr Gebiete besetzen, auf denen Grundstücke und Häuser stehen, die sie verkaufen will und muss.

Maria, Du sagst es: die Geschichte ist komplex. T.C. Boyle spricht durch diese Geschichte ein unglaubliches Spektrum an. Er eröffnet uns ein ganzes Universum. Mich berührt besonders intensiv das Universum der Mexikaner, das er mir durch Cándidos und Américas Geschichte geöffnet hat. Ich merke, wie die beiden mir immer näher gehen. Zwei Figuren in der Literatur, die ich sicher nie vergessen werde. Auch lässt er einen, wie Du so schön erläuterst, Gedanken weiterspinnen. Was würde passieren, wenn Cándido und América sich verlieren? Hätten sie die Möglichkeit sich je wiederzufinden? Oder Dein Beispiel, das mir sehr gefallen hat: Was, wenn Delaney die Polizei gerufen hätte? Du bringst es auf den Punkt: Er hätte vor sich (wie Kyra in meinem Beispiel) selbst gerechtfertigt, dass er nichts gegen Mexikaner hat, aber dass er das einzig richtige getan hat. Und er würde nicht ständig diesen Mexikaner vor sich sehen. Er würde gar nicht mehr die Mexikaner sehen – wie zuvor, als er sie gar nicht wahrgenommen hat, weil sie neben seiner eigenen Welt hergelebt haben –, und das, obwohl die illegalen Einwanderer noch genauso da sind wie zuvor. Lediglich einer weniger wäre es gewesen. Aber richtig geschlussfolgert: Delaney wäre dann nicht mehr persönlich betroffen. Wie wichtig die persönliche Betroffenheit für die Wahrnehmung von Tatsachen ist, ist erschreckend. Guter Gedanke!

Ich bin gerade im zweiten Kapitel des zweiten Teils, und Cándido und América berühren mich mit jeder Szene mehr. Die kleinen Rückblenden in Cándidos Leben erzählen so viel von seinem Universum. Von seinem Alltag, seinen (nicht vorhandenen) Möglichkeiten, seinem ausgeliefert sein. Als er und seine Kumpels noch ein Stück weiter ins Land fahren wollen, um noch zwei Monate Geld zu verdienen, bevor sie nach Hause zurückkehren, und Candido dabei verloren geht, als sie von der Polizei aufgegriffen werden. Wie er schutzlos dem kalten Wetter ausgeliefert ist, und in seiner Not Hilfe bei einem Bauern sucht. Und wie er – zu seiner (und des Lesers) große Überraschung – dort Hilfe bekommt. Ihn überwältigt diese Freundlichkeit, die so selten ist. Und mich hat sie auch überwältigt. Dabei ging es doch nur um so wenig: 6 Toasts, ein Anruf, eine kleine Autofahrt. Und doch will er vor lauter Dank seinen einzigen Besitz (seinen Glücksbringer) zum Dank hergeben. T.C. Boyle macht, dass ich als Leser diese Dankbarkeit verstehe, und sogar mitfühle.

Die zweite Flucht vor der Einwanderungsbehörde hat solch einen tragischen Ausgang. Auch das hat mich sehr mitgenommen. Die Schuld, die dadurch wohl auf ihm lasten mag. Und dann reißt er sich aus seinen Gedanken und gelangt am Camp bei América an. Und dort erschüttert es ihn gleich erneut, da er erfährt, dass sie überfallen wurde. Er weiß zwar nichts von ihrer Vergewaltigung, aber er ahnt es. América tut einem so leid. Wie sie da sitzt und ihr einziges Kleid zusammenflickt, geschändet und aller Ehre und Rechte beraubt. Und dann auch noch ihres so bitter verdienten Geldes. Wie hoffnungslos muss das stimmen. Am liebsten würde man ihr wenigstens diesen Schaden wiedergutmachen. Was muss sie fühlen?

Mich freut sehr, dass Du, Steffi, so viel Freude an unseren Gedanken hast. Und mich freut ebenfalls sehr, dass wir - Maria und ich - gleichzeitig zu diesem Buch gegriffen haben, Dank Deiner Schwärmerei Steffi. :-)
Liebe Grüße,
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