Charles Dickens

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Re: Charles Dickens

Beitragvon Josie » Fr 20. Jan 2012, 16:03

Hallo zusammen,

ich lese ja immer noch an „David Copperfield“ und bin auch noch nicht sehr weit gekommen.

Der Grund dafür ist, dass ich das Buch nur in kleinen Häppchen lesen kann, weil es mich wütend macht, gleichzeitig aber auch traurig und mitfühlend, um sich im nächsten Moment in Entsetzen zu wandeln. Ich weiß nicht, ob es vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt für das Buch ist.

Aber die einzelnen Charaktere, deren Verhaltensmuster und Gefühle empfinde ich als sehr intensiv beschrieben und durchweg real und so gerne würde ich eingreifen, die Leute wachrütteln, verteidigen, mit ihnen in Diskussion gehen oder sie einfach auch mal anschreien (was im realen Leben gar nicht meiner Art entspricht)… Normalerweise bin ich gar nicht so emotional und hatte dies bei einem Buch in der Form noch nie an mir erlebt, so dass dies eine vollkommen neue Leseerfahrung für mich ist.

Das Rollenverständis der unterwürfigen, sich selbst bis zur Unkenntlichkeit und Selbstverleugnung und -aufgabe stilisierenden Frau(en), die Machtbesessenheit von Männern, die auf Kosten der Frauen und Kinder und unteren Gesellschaftsschichten mit diesem Verhalten die eigenen Charakter- und menschlichen Schwächen zu vertuschen und zu unterdrücken versuchen. Mittendrin David Copperfield als ein eigentlich glückliches, aufgewecktes und intelligentes Kind, was zusehends zur Resignation gezwungen wird und sich doch immer wieder selbst aufzurichten weiß mithilfe von kleinen Glücksmomenten und Begebenheiten und dem eine viel zu große Bürde für ein kleines Kind aufgetragen wird.

Und dies alles so greifbar real – vielleicht für die damalige Zeit sogar irgendwie „normal“, aber und auch auf die heutige Zeit durchaus übertragbar und in irgendeiner Form immer wieder auffindbar.

Keine Ahnung, warum mich gerade dieses Buch derart intensiv berührt. Wären manche Passagen nicht mit einem kleinen Augenzwinkern beschrieben, die einen mal Luft holen lassen, würde ich das Buch – zumindest aktuell – emotional nicht wegstecken. Irgendwie habe ich mir die Lektüre so nicht vorgestellt.
Liebe Grüße
Claudia


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Re: Charles Dickens

Beitragvon NatiFine » Fr 20. Jan 2012, 16:47

Josie hat geschrieben:Und dies alles so greifbar real – vielleicht für die damalige Zeit sogar irgendwie „normal“, aber und auch auf die heutige Zeit durchaus übertragbar und in irgendeiner Form immer wieder auffindbar.


Liebe Josie,

ich habe das Buch nicht gelesen, kenne aber den Inhalt über das Hörspiel des WDR von 1957.
Deine Emotionen kann ich sehr gut nachempfinden, denn mir ging es beim Hören genauso wie dir. Ich denke, dieses Buch, aber auch andere von Charles Dickens, setzen beim Leser oder Hörer Beschützerinstinkte frei.

Und genau das ist es! Die vielfältige Bedrohung einzelner Personen, besonders von Kindern, finden wir in der heutigen Zeit auch noch, wenn wir uns nur richtig in unserer Umwelt umsehen.

Ich wünsche dir, dass du bei diesem Buch durchhältst.

Liebe Grüße
NatiFine
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Re: Charles Dickens

Beitragvon JMaria » Sa 21. Jan 2012, 12:52

Hallo Josie,

so ein intensives Lesen wie du es gerade bei "David Copperfield" erlebst, ist ein Segen und ein Fluch zugleich, wenn ich es mal dramatisch ausdrücken darf. Es wird dir unvergesslich bleiben und oft zehrt man auch positiv noch lange Zeit davon. Ich wünsche dir, dass es dir in positiven Sinne so ergeht.
Schöne Grüße, Maria
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Re: Charles Dickens

Beitragvon Petra » Sa 21. Jan 2012, 19:12

Hallo Josie,

zwar verwundert mich auch, dass Dich die Geschichte des kleinen David Copperfield so intensiv berührt und aufwühlt, aber ich verstehe Dich sehr gut. Ich bin in dem Roman ungefähr auf Seite 250 angelangt, und bin auch oft sprachlos über den Lebensweg, den der kleine David Copperfield gehen muss. Er ist ein Spielball der Erwachsenen. Du hast diese Welt sehr schön zusammengefasst. Die herrischen Männer, die über die Schwächeren (Frauen, Kinder, Arme) dominieren, und ihre Macht auslassen. Und die Frauen, die sich in alles fügen (teils weil sie es müssen, teils weil sie so sehr in ihre Rolle gedrückt sind, dass ihnen eine Alternative nicht in den Sinn kommt).

Ich mag an Dickens diese Mischung. Er prangert die Missstände in der Gesellschaft an, und das Ungleichgewicht zwischen den Armen und den Reichen, den Mächtigen und den Wehrlosen. Anderseits mildert er durch die Lichtpunkte (einige Menschen, die ehrlich und gut sind) die Trostlosigkeit ab, so dass es erträglicher für den Leser wird. Vielleicht verzeiht man ihm deswegen die Schwarz-Weiß-Malerei, die sich in seinen Romanen immer wieder findet. Es gibt durch und durch schlechte Figuren, und durch und durch gute Figuren. Grauzonen findet man bei ihm höchst selten. Das verleiht dem Ganzen immer einen märchenhaften Touch. Gut und Böse. Und das Gute siegt am Ende immer. Aber anders wäre das alles auch vielleicht nur ganz schwer zu ertragen.

Ich bewundere an ihm, dass ihm immer die Gratwanderung gelingt, trotz der Überzeichnungen und der Schwarz-Weiß-Darstellungen ein so realistisches Bild der Umstände damals zu zeichnen.

Mich wühlt Charles Dickens auch immer auf. Bei mir überwiegt allerdings die Rührung über die guten Menschen, die auch immer wieder den Weg der kleinen Helden kreuzen. Dass es bei all der Hoffnungslosigkeit doch auch immer wieder einen Lichtblick gibt, und das Gute siegt, rührt mich in seinen Romanen immer sehr. Besonders durch seine ganz besondere Art diese Szenen aufzubauen. Keiner ähnelt ihm darin.

Was NatiFine schreibt, empfinde ich auch so: Auch heute noch gibt es viele Kinder, die es sehr schwer haben, einen guten Weg einzuschlagen. Da sie vernachlässigt werden, und nicht die Möglichkeit haben, sich gegen die Grausamkeit der Erwachsenen zu wehren. Mir fällt dazu das Buch "Bonbontag" von Markus Nummi ( :arrow: Rezension) ein, das ich letztes Jahr gelesen habe. Das hat mich auch bewegt. Oder "Und morgen sind wir glücklich" von A. M. Homes ( :arrow: Rezension).

Ich hoffe, dass es für Dich erträglich bleibt, und Du den kleinen David weiter auf seinem Lebensweg begleiten kannst. Mir ging es übrigens so bei Emily Brontes „Sturmhöhe“. Diese Ungerechtigkeiten gingen mir so sehr ans Herz, dass ich einmal sogar in Tränen ausbrach. Ganz untypisch für mich. Aber wie Maria schrieb: Solche Bücher sind ein Segen und ein Fluch zugleich. „Sturmhöhe“ ist mir aufgrund seiner Intensität immer noch sehr präsent. Ein unvergessliches Buch für mich, da es mich so aufgewühlt hat.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Charles Dickens

Beitragvon JMaria » So 22. Jan 2012, 10:11

Hallo zusammen,

so zelebriert England ihren Dickens:
http://www.dickens2012.org/
Schöne Grüße, Maria
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Re: Charles Dickens

Beitragvon steffi » Mo 23. Jan 2012, 12:01

JMaria hat geschrieben:Hallo zusammen,

so zelebriert England ihren Dickens:
http://www.dickens2012.org/


Beeindruckend ! Da möchte man am liebsten teilnehmen ! Zumindest werde ich mir dieses Jahr auch noch einen Dickens vornehmen !
Gruss von Steffi

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Re: Charles Dickens

Beitragvon Josie » Mo 23. Jan 2012, 21:59

Hallo Ihr Lieben,

ja, vielleicht sollte ich die Lektüre mitsamt seinen Gefühlen, die es gerade in mir auslöst, tatsächlich als Bereicherung sehen und ebenso die guten Charaktere mehr in den Vordergrund stellen. Im Moment überwiegt bei mir eher die Sicht auf die Bösen der Geschichte und das macht mich so wütend. Vermutlich hadere ich aber auch gerade mit meinen eigenen Emotionen, weil ich das in Bezug auf Bücher bei mir so gar nicht kenne.

@ NatiFine: Tröstlich, dass es dir auch so ergangen ist, denn wie Petra schrieb, kann ich es eigentlich gar nicht glauben, dass es mir bei gerade diesem Buch so ergeht.

@ Petra: Danke schön für die zwei weiteren Buchtipps. Hier würde mich "Und morgen sind wir glücklich" interessieren, aber sicherlich nicht zeitnah zu David Copperfield.

@ Maria: Ich werde es versuchen, als Fluch und Segen gleichzeitig zu betrachten. Und einen wunderschönen Link hast du da mal wieder gefunden. Die Seite lädt zum Stöbern ein.
Liebe Grüße
Claudia


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Re: Charles Dickens

Beitragvon YvonneS » Di 24. Jan 2012, 10:49

@Josie und Petra

Ich glaube, eure Emotionen beim Lesen von „David Copperfield“ hätten Mr. Dickens sehr gefreut. So schrieb Dickens einmal an einen Leser, der sich lobend über „Oliver Twist“ geäußert hat, weil er bei der Lektüre des Buches das Gleiche empfand wie ihr:

„Könnte ich Schöneres sagen als die Worte, dass Ihr Gefühl für die Wirklichkeit des armen Oliver, das Sie von Anfang an gehabt haben, das größtmögliche Lob für mich bedeutet? Keines, mit dem ich bislang bedacht wurde, hat mir halb so viel bedeutet wie diese Anerkennung meiner Absichten und Ziele“.

Ist euch bekannt, dass „David Copperfield“ teilweise autobiographisch ist?

Dickens´ Tochter Mary schrieb z. B. einmal.

„Sein geniales Talent, Charaktere zu skizzieren, steht außer Frage – seine Romanfiguren und ihr Realismus sprechen für sich selbst. … Zweifellos besaß er von frühester Kindheit an eine rasche Auffassungsgabe und den Instinkt, in den Menschen ihre charakteristischen Neigungen zum Guten und zum Bösen zu erkennen, und er hielt diese Fähigkeit zeitlebens für wichtiger als literarisches Talent und geschliffenen Stil.“

Und John Forster, Dickens´ engster Freund schrieb:

„Was mir am Anfang seiner Karriere am bemerkenswertesten erschien, war seine Gleichgültigkeit gegenüber dem rein literarischen Lob für seine Werke im Vergleich zu der ihm wichtigeren Anerkennung als Stücke des wahren Lebens, voll von Bedeutung und Absicht, und seinem Verantwortungsgefühl, die Realität und nicht reine Phantasiegeschöpfe darzustellen“.
Liebe Grüße
Yvonne



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Re: Charles Dickens

Beitragvon Petra » Di 24. Jan 2012, 12:15

Hallo zusammen,

ja, das "David Copperfield" biografische Züge hat, war mir bekannt. Umso lieber stelle ich mich den Gefühlen des kleinen David. Da sie die Wirklichkeit so manchen Kindes widerspiegel. Das Zitat aus dem Brief Dickens an den Leser ist Gold wert. So kann man sich ganz gewiss sein, dass es die Wirkung ist, die er erzielen wollte. Und dass seine Rechnung aufgeht. Danke Yvonne für das Zitat!

Josie, ich würde es an Deiner Stelle auch so versuchen. Also einen verstärkten Augenmerk auf die Figuren legen, die es gut mit David meinen. Und ansonsten Charles Dickens vertrauen, dass er einer der Autoren ist, der am Ende Gerechtigkeit walten lässt. ;-) Das hilft Dir bestimmt über die Stellen hinweg, in denen man David so übel mitspielt.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Charles Dickens

Beitragvon Josie » Di 24. Jan 2012, 21:44

Liebe Yvonne,

danke für diese wunderbaren Zitate von und über Dickens. Das hat mich jetzt gefreut, dass dieses Wecken von Emotionen ihm sehr am Herzen lag und für ihn wichtig war, und ihm dies scheinbar bis heute bei seiner Leserschaft gelingt.

Über die autobiographischen Inhalte weiß ich ebenfalls Bescheid. Das ist für mich sicherlich auch einer der Gründe, warum mich David Copperfield derart rührt.

Ich denke auch, dass ich am Ende sicherlich versöhnlich das Buch schließen werde, bis dahin werde ich mich tapfer hindurchlesen und mitleiden und mich hoffentlich auch mit ihm freuen.
Liebe Grüße
Claudia


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