von JMaria » Mo 10. Jun 2013, 14:09
Colm Toibin - Porträt des Meisters in mittleren Jahren habe ich beendet und ich muß sagen, mir hat die Romanbiographie über Henry James sehr gut gefallen. Ein würdiges Buch das 2004 auf der Shortlist des Booker-Prize stand. Originaltitel: The Master.
Gekonnt lässt Toibin Raum für Spekulationen, wo man nur vermuten kann z.b., Henry James unterdrückte Homosexualität, vielleicht auch Bisexualität, seine freiwillig gewählte Enthaltsamkeit (?), im Schatten des Skandals um Oscar Wilde und der als Sodomit angeklagt und verurteilt wurde, dem damalige Begriff für Homosexualität bzw. für sexuelle Handlungen, die nicht der Fortpflanzung dienten.
So beginnt auch die Geschichte im Januar 1895 mit einem Mißerfolg mit Henrys Theaterstück Guy Donville, Henry James ist 52 Jahre, während Oscar Wilde auf dem Höhepunkt seines Schaffens ist; und endet Oktober 1899, also seiner mittleren Schaffenskraft.
Dazwischen wird in Rückblenden von seiner Kindheit, seinen Reisen, seinen Freundschaften erzählt. Rätselhaft ist die Beziehung zwischen ihm und der amerikanischen Schriftstellerin Constance Fenimore Woolson, der Großnichte von James Fenimore Cooper, die sich 1894 in Venedig das Leben nahm. Die Legende sagt, daß Henry James ihr schwarzes Kleid in einer der Lagunen Venedigs entsorgte und daß sich das Kleid aufblähte und wieder auftauchte, so daß er mit dem Paddel darauf einschlugen mußte. Toibin nimmt diese Legende auch in seinem Buch auf, dabei lässt sich Henry James von Woolsons Gondoliere helfen, die gesamte Gardarobe in der Lagune zu versenken.
Zeitlebens scheint sich Henry James als stiller Beobachter seine Inspiration unter seinen Bekannten und Freunden gesucht und gefunden zu haben.
Treffend eine Aussage im Buch, die eine Baronin äußerte und als Motto gilt:
ich erinnere mich, wie sie jung waren und alle Damen Ihnen hinterherliefen... Wir möchten Sie alle, und ich nehme an, Sie mochten uns auch, aber Sie waren zu sehr damit beschäftigt, Material zu sammeln...aber Sie waren wie ein Banker, der unsere Ersparnisse einsammelte. Oder ein Priester, der sich unsere Sünden anhörte. Ich erinnere mich, daß meine Tante uns einschärfte, Ihnen ja nichts zu erzählen.
Henry James gilt als Meister der indirekten Charakterisierung, also aus den Handlungen heraus eine Person zu beschreiben, und auch Toibin verwendet diese Erzähltechnik in seinem Roman über Henry James.
Als nächstes werde ich mir von Henry James "Porträt einer jungen Dame" vornehmen. Ich vermute mal, an dem Titel hat sich die deutsche Übersetzung angelehnt "Porträt des Meisters in mittleren Jahren", erinnert aber auch an James Joyce Roman mit autobiographischen Zügen "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann".
Was auch immer man sich bei dem deutschen Titel gedacht haben mag, ich finde er paßt sehr schön.
Außerdem möchte ich noch folgende Romanbiographien lesen:
David Lodge: Autor! Autor!
Elizabeth Maguire: Fenimore
Beide liegen bereits parat.
Schöne Grüße, Maria
Aktuell:
Christoph Hein: Glückskind mit Vater
Paul Auster: Mr Vertigo (ebook)
Jahresprojekt: Günter Grass + Franz Kafka
Harro Zimmermann: Günter Grass. Biographie
Franz Kafka: Briefe an Felice Bauer
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