von Petra » So 11. Jun 2017, 20:07
Hallo zusammen,
“Hundert Jahre Einsamkeint“ habe ich beendet, und ich bin voller Eindrücke, die ich festhalten möchte:
Schon Ursula (Familienoberhaupt der Familie Buendía) beschlich oft das Gefühl, dass die Zeit nicht fortlaufend, sondern im Kreise verläuft. Und auch die Kartenleserin Pilar Ternera hat keine Mühe in den Buendías zu lesen, weil sich deren Besessenheiten und Leidenschaften von Generation zu Generation wiederholen.
So wundert es denn auch nicht, warum Gabriel García Márquez sich dagegen entschieden hat, jedem Abkömmling der Buendías einen individuellen Namen zu geben. Er macht das nicht etwa aus Mühelosigkeit oder um sich einen Spaß mit dem Leser zu erlauben. Er nutzt die Namensähnlichkeiten dazu, die Gemeinsamkeiten der Familienmitglieder der unterschiedlichen Generationen aufzuzeigen. Ihm gelingt es, dass man sie mehr und mehr miteinander vermischt. Er legt sie übereinander. Und nicht nur die Lebenden, nein, auch die Toten. So wird die Namensgleichheit umso verwirrender, wenn sich zu den noch lebenden Buendías im Fortlauf der Geschichte immer wieder auch Verstorbene mischen. Alles legt sich übereinander. Die Generationen, und die Zeiten, obwohl er zumeist fortlaufend (bis auf ein paar Rück- oder Vorgriffe) erzählt. (Einem seiner Geister bin ich auf den Leim gegangen. Er war, glaubhaft, als in einem fernen Land gestorben geschildert; als er dennoch zurückkehrt, dachte ich, er habe das Fieber, dem er erlegen sein soll, doch überlebt. Erst sehr spät begriff ich, dass er nur als Geist einigen Buendías erschienen war. Sehr kunstvoll!)
Um der Handlung möglichst gut folgen zu können, habe ich mir alle Namen und die familiären Verbindungen beim Lesen notiert (das hat mir Spaß gemacht, da ich eine diebische Freude an García Márquez‘ Namensverwirrungen hatte). Die Notizen werde ich abtippen, um sie hier im Forum zur Verfügung zu stellen. Vielleicht helfen sie jemandem irgendwann den Überblick beim Lesen des Romans zu behalten.
Zum Schluss hin wird der Flecken Erde, den die Gründer hundert Jahre zuvor dem Urwald abgetrotzt haben, von der Natur zurückerobert. Das Dorf befindet sich im Verfall, Unkraut und Gewächse durchwuchern die Häuser, die Ameisen zerfressen alles Gebälk, und entreißen so den übrig gebliebenen Menschen (die der Plage nicht mehr Herr werden) die Häuser. Und in einem hellsichtigen Moment wird Aureliano folgendes bewusst: „…, daß sie sich weiterhin in ihrer Natur als Gespenster lieben würden, lange nachdem andere Arten künftiger Tiere den Insekten das Elendparadies entrissen haben würden, das eben diese Insekten vollends den Menschen entrissen.“ Hierin finden sich zwei Motive des Romans: Das Aufzeigen der Natur, und deren ewigen Fortlauf. Und parallel den ebenfalls ewigen Fortlauf der Seelen. (Ich habe bewusst verkürzt zitiert, weil sich die gesamte Bedeutung dieser dort geschilderten Erkenntnis nur in Verbindung mit dem zuvor gelesenen Roman ergibt.)
Aureliano (der letzte) entschlüsselt überdies in dem Moment die Prophezeiungen des die Familie Buendía durchs Jahrhundert begleitenden Zigeuners Melchíades in dem Moment, als ein gewaltiger Sturm das bereits marode Dorf vollends zerstört. Wie man vielleicht sein eigenes Leben, und alle Rätsel unserer Existenz erst mit dem Eintritt des Todes versteht, erschließen sich Aureliano in dem Moment, wo ihm klar wird, dass ihn der Sturm tötet, Melchíades Prophezeiungen über seine Familie und ihn selbst.
Gestern habe ich neuen Lesestoff ausgesucht. Entschieden habe ich mich für etwas unterhaltsames, da mein Kopf erst mal ein bisschen Pause braucht. Ich bin ja ein Leser, der sich gern den Lesestoff nach den Jahreszeiten auswählt. Ein Buch befindet sich seit ein paar Jahren in meinem SUB, von dem ich wusste, dass ich es unbedingt im Sommer lesen will. Doch so ein Sommer ist schnell rum, und so hat es nun ein paar Jahre gebraucht. Aber nun habe ich ihn begonnen, den Folgeband “Kleine Tierkunde Ost-Afrikas“ von Nicholas Drayson um den liebenswerten Mr. Malik und seiner Angebeteten Rose Mbikwa. Es wird schon munter spekuliert über den (echten) Kriminalfall, der in der Gegend vor langen Jahren verübt wurde, und über den in diesem Buch wohl eine (fiktive) Aufklärung erfolgen wird. Das habe ich noch im Kopf von Beschreibungen hier im Forum von vor ein paar Jahren. Maria und Steffi haben das Buch gelesen, und ich weiß noch, dass es bei beiden gut ankam. Ich freue mich auf das Lesevergnügen, und anschließend auch auf den Film („Die letzten Tage in Kenia“) über den authentischen Kriminalfall, über den die Figuren in „Kleine Tierkunde Ost-Afrikas“ so herrlich spekulieren.
Ihr habt auch aufregenden Lesestoff!
@Barbara: Wie toll, dass Du „Der große Meaulnes“ begonnen hast, liebe Barbara! Ich bin ausgesprochen neugierig auf Deine Eindrücke. Und mir geht es da wie Dir: sowas kann sehr anregend sein, wenn man sich in Deutungen verlieren kann. Ich muss auf sowas aber gerade Lust haben (ist bei mir sehr vom richtigen Zeitpunkt abhängig). Bitte berichte.
Und dass die schöne Manesse-Ausgabe die schönere Übersetzung hat, ist auch sehr schön.
Dass Dir „Stoner“ gut gefallen hat, freut mich ebenfalls sehr!
Und dass Du Tschechows „Die Möwe“ heute zwischengeschoben hast, ist auch toll, angesichts Deines Theaterbesuchs heute. Ich wünsche Dir einen schönen Theater-Abend!
@Didonia: Tolle Cover! Und inhaltlich klingt das auch ganz nach etwas für Dich. Viel Vergnügen!
@Steffi: Auf „Letzter Mann im Turm“ hast Du mich sehr neugierig gemacht. Es ist recht weit hoch gerutscht auf meinem SUB! Ich schaue ja gerade die alten Sendungen des Literaturclubs (und anderer Literatursendungen) nach, und in einer Folge, die ich kürzlich sah, wurde über diesen Roman diskutiert. Die Kritikpunkte, die Du hier auch anführst, habe ich dort auch gehört, und bin ganz froh darauf vorbereitet zu sein. Mal sehen wie es mir damit geht, dass die Figuren für Typen stehen. Aber darauf vorbereitet zu sein, ist schon mal gut, denn das könnte etwas sein, an dem ich mich störe. Aber ich bin zuversichtlich, da Du schreibt, dass die Figuren alle liebevoll geschildert werden. So scheinen sie dennoch nicht leb- oder lieblos zu sein. Das wäre mir dann unter den Voraussetzungen auch wichtig.
Viel Freude mit dem zweiten Teil der Kafka-Biografie!