Hallo zusammen,
ein Viertel des dicken Wälzers liegt nun hinter mir. Und ich stimme Shaftoe zu:
"Das kalte Blut" entwickelt einen ungeheuren Lesesog.
Ausschlaggebend dafür, dass er sich so süffig liest, und auch dafür, dass man über diese schrecklichsten Taten halbwegs unbeschadet lesen kann, ist der Humor, mit dem diese Familiengeschichte aus der Sicht Koja (Konstantin) Solms erzählt wird. Wohlgemerkt dem Humor eines Verzweifelten. Denn anders als sein Bruder (Hubert Solm) wird Koja hineingezogen in die Täterschaft. Was ihn nicht weniger schuldig macht.
Kraus soll über seinen eigenen Roman gesagt haben, dass er in gewisser Weise eine Persiflage eines Entwicklungsromans sei. Denn anders als in einem Entwicklungsroman üblich findet sich die Hauptfigur (Koja) nicht, sondern sie verliert sich, so meint Kraus. Aber eine Entwicklung ist das allemal. Und eine nachvollziehbare. Vielleicht nicht in der (schelmenhaften) Art wie sie erzählt wird, aber in der Art wie Koja zum (Mit-)Täter wird. Wie so viele andere auch. Und darum ging es Chris Kraus u. a.: Zu ergründen wie die Menschen zu (Mit-)Tätern werden konnten (wie auch Kraus' eigener Großvater).
Davon bekommt man eine starke Idee beim lesen. Ich bin Chris Kraus für die ironisch, sarkastische und vielleicht auch satirische Art diese Ungeheuerlichkeiten (von denen wir alle wissen, und die uns doch immer wieder schier entsetzen, wenn wir uns damit auseinandersetzen) zu erzählen sehr dankbar. Denn diese Art ermöglicht dem Leser alles mit ein bisschen Abstand zu durchleben.
Bisher habe ich zu dem Thema nur Bücher gelesen, die von Schriftstellern geschrieben wurden, die ganz unmittelbar diese Zeit miterlebt haben (wie z. B. "Nackt unter Wölfen" von Bruno Apitz - dieser war zwar noch ein Baby, aber der Abstand zu dieser, seiner eigenen Geschichte, fehlt natürlich dennoch, "Jeder stirbt für sich allein" von Hans Fallada oder zuletzt auch "Suite française" von Irène Némirovsky). Einen Abstand beim Lesen konnte ich dort weniger wahren, als es mir hier gelingt. Beides hat seinen Reiz. Ohne den Abstand kommt man noch näher heran. Mit dem Abstand ist es erträglicher, und nicht weniger wahrhaftig.
Ich bin sehr gespannt darauf wie es weiter geht, und auch auf den Blick den Chris Kraus auf die Nachkriegszeit richten wird, und die Tatsache dass viele Nationalsozialisten und Mitläufer Karriere in der neuen Bundesrepublik gemacht haben, wie in diesem Roman die Brüder Solm beim BND etc..
In der Handlung befinde ich mich im Jahr 1942. Inzwischen hat Koja das erste Mal selbst getötet, gezwungener Maßen, denn wäre er seinem natürlichen Instinkt gefolgt wegzurennen anstatt selbst Täter zu werden, hätte er mit dem eigenen Leben bezahlt. Eine Schlüsselszene wie ich vermute. Denn er hat damit vermutlich eine Grenze/Hemmschwelle durchbrochen.
Shaftoe, an der Stelle abermals Danke fürs aufmerksam machen auf das Buch!
@Ina und Didonia: Sehr schöne Leseerlebnisse, ich habe Eure Berichte genossen.
Ina, auf "Die Falle" bin ich schon mehrmals aufmerksam geworden, durch Dich nun ein weiteres mal. Ich habe ihn nun als Hörbuch auf meinen Merkzettel bei Audible gepackt.
Was mich besonders freut ist, dass Du Dir dies Jahr die Zeit zum Lesen (und berichten - hab Dank!) nimmst. Mir geht es dies Jahr auch so, dass ich das Lesen wieder in mein Leben integrieren konnte (gesundheitlich, aber auch zeitlich habe ich mir Räume geschaffen), und weiß welche Freude es ist, wenn man sich das Lesen zurückerobert hat. Genieße es!
Ich bin gespannt mit was Du weiter machst, wo Du den Zugang zu "Meine geniale Freundin" gerade nicht findest.