Hallo zusammen,
“Brooklyn“ habe ich beendet. Beeindruckend, wie eine solch einfache Erzählweise so tiefgehend sein kann. Der einfach gehaltene Erzählstil ist absolut passend, da auch Eilis aus einfachen, bescheidenen Verhältnissen kommt. Ihre Sichtweise ist somit beschränkt, ihr Erfahrungsschatz als junge Frau noch spärlich. Eine authentische Schilderung, und überhaupt ist erstaunlich, wie gut sich
Colm Tóibín in diese junge Frau hineinversetzen kann. Nachdem mir als Leserin erzählt wurde, wie es dazu kam, dass Eilis in die USA auswandert, ahnte ich, welch Kummer ihr dort bevorstehen würde. In diesen konnte ich mich dank Colm Tóibíns einfühlsamer Schilderung ihres Lebens in der ihr fremden Welt sehr gut einfühlen. Ebenso in ihr meist passives Verhalten, durch das sie sich dann auch in eine Situation bringt, die ihr kaum Möglichkeiten zu einer freien Entscheidung lässt. Psychologisch gut nachvollziehbar.
Besonders beeindruckt hat mich, wie Colm Tóibín die Zerrissenheit schildert, die das Verlassen der Heimat mit sich bringt. Das Leben in zwei Welten. Ich kann das so gut nachvollziehen, da mein Mann ja in der Türkei großgeworden ist. Und ich stelle jedesmal, wenn er seine Heimat besucht fest, dass als anderer Mensch zurückkehrt. Er braucht immer ein paar Tage, bis er wieder der ist, den ich kenne. Ich habe dafür eine Zeit gebraucht, um zu verstehen, woran das liegt. Ich kann mich da inzwischen gut rein denken und fühlen. Es so stimmig in diesem Roman geschildert zu bekommen, fand ich faszinierend. Es bestärkt mich in meiner Erkenntnis, die ich über Ayhans Zerrissenheit habe. Und diese Erfahrung aus meinem eigenen Leben ließ mich Eilis Zerrissenheit noch stärker nachfühlen. Toll gemacht!
Am Ende wurde mir schwer ums Herz. Eilis stellt selber fest, dass es den einen richtigen Weg nicht gibt. Dass sie, egal was sie tut, jemanden verletzen würde. Und ich fragte mich auch, welches Leben das für sie wirklich bessere gewesen wäre? Ich glaube man kann das gar nicht klar sagen. Das Buch hallt noch in mir nach, was ich nicht gedacht hätte. Ich habe es abschließend an mein Herz gedrückt. Das mache ich manchmal, wenn mir Figuren in einem Roman sehr nahe gehen. Dass Eilis mir so nahe geht, habe ich beim Lesen gar nicht so stark bemerkt. Aber ich konnte ihre Situation so gut nachvollziehen, dass sie sich ganz unmerklich in mein Herz geschlichen hat.
Aufgefallen ist mir übrigens, dass zweimal (ganz lose) eine Frau namens Nora Webster erwähnt wird. Ich frage mich, ob er die Figur für seinen späteren Roman „Nora Webster“ verwendet hat. In „Brooklyn“ ist sie allerdings offenbar mit einem Mann Namens Michael verheiratet, der unterrichtet. In „Nora Webster“ heißt Noras Mann Maurice; auch er unterrichtet, so viel ich weiß. Ich halte mir das mal fest für den Fall, dass ich „Nora Webster“ mal lese. Gefunden habe ich die Hinweise auf Nora Webster auf Seite 249 und 270 in „Brooklyn“
Ebenfalls beendet habe ich gestern
“Der Zauberberg“. Der Roman wird mir unvergesslich bleiben, ebenso seine Figuren. Allen voran Hans Castorp. Die Art in der
Thomas Mann erzählt, hat mir allergrößtes Vergnügen bereitet! Auch zum Schluss hin staunte ich über seine Art zu formulieren. Da bauen sich ganz eigene höchst lebhafte und herrlich komische Bilder auf, denen es dennoch nicht an Ernsthaftigkeit fehlt. Einzigartig und überaus beeindruckend!
Sehr fordernd (und manches Mal auch überfordernd) waren die Gespräche zwischen Settembrini und Naphta. Ich konnte oftmals nicht folgen, auch können die beiden gewaltig nerven! Nicht selten sagte ich bei mir, sobald sie auftauchten: „nicht schon wieder die!“ Lustig daran finde ich, dass es Hans Castorp ja durchaus selbst manches mal so ging. Und auch den Begleitern (Wehsal, Ferge), die den Gesprächen oft beiwohnten, erging es teils so. Durch ihre Haltung konnte ich augenzwinkernd darüber hinwegsehen, wenn ich einem Thema nicht mehr vollends folgen konnte, da es ihnen ebenso erging. So fühlte ich mich in guter Gesellschaft. Nicht alle Themen zwischen Naphta und Settembrini waren interessant, manche dafür umso mehr. Und da das sehr subjektiv ist, gibt es da auch gar nichts weiter drüber zu sagen.
Fertig bin ich innerlich mit dem Roman noch lange nicht. Es kann gut sein, dass ich irgendwann die ungekürzte Lesung höre, gerne mit Abstand von ein paar Jahren. Etwas früher sicher das Hörspiel, auf die Umsetzung wäre ich sehr neugierig.
Während des Lesens, besonders in der letzten Phase, war für mich fraglich, ob „Der Zauberberg“ es in die Liste meiner Lieblingsbücher schafft, da mir die beiden Wettstreiter Naphta und Settembrini doch gehörig auf die Nerven gingen (was ich immer aber auch mit einem Lächeln quittieren muss, da Thomas Mann damit dem Leser gewiss auch auf die Füße treten wollte) und meiner Geduld einiges abverlangt haben. Doch je mehr es aufs Ende zuging, schloss sich für mich der Kreis. Und gerade im Schlusskapitel überkam mich erneut eine starke Bewunderung für Thomas Manns Erzählstil. Hinzu kommt, dass ich zum Schluss hin gespürt habe, wie sehr mir Hans Castorp fehlen wird, wie traurig ich bin, dass ich nichts mehr von ihm hören werde. So dass mir klar ist: doch, das ist ein Lieblingsbuch von mir! Ein ganz besonderes Leseerlebnis!
Ich schließe mich den Erzählern des Romans an, und tue es ihnen nach, und berühre mit der Ringfingerspitze zart einen Augenwinkel, während Hans Castorp langsam aus meinem Blickfeld verschwindet.
Gestern wollte ich mir dann ein neues Buch auswählen. Es standen viele in der engeren Auswahl; so vieles reizt mich gerade zu lesen. Beim reinlesen wurde mir die Wahl dann abgenommen, denn ich konnte mich – wie schon vor ein paar Wochen in der Buchhandlung – dem Sog des Buches nicht entziehen. Es ist:
“Der endlose Sommer“.
Madame Nielsen übt durch die Art in der sie erzählt einen derart starken Sog auf mich aus, dass es kein Entkommen gibt. Weiter und weiter lasse ich mich hineinziehen in die Geschichte dieses endlosen Sommers in Dänemark. Auf dem Umschlag wird zitiert: „Eine literarische Entdeckung. Als Leser wurde ich mitgerissen vom Fluss, der Weisheit und dem Witz des charmanten Erzählers. Als Autor beneide ich Madame Nielsen um ihren meisterhaften Text.“
(Sjòn) Als Leser kann ich dem voll und ganz zustimmen, es ist wirklich ein mitreißender Fluss, in dem Madame Nielsen erzählt. Dass Madame Nielsen von einem Kollegen um ihren meisterhaften Text beneidet wird, kann ich ebenso verstehen, denn Madame Nielsen hat einen absolut eigenen Erzählstil. Ich werde weiter berichten.
@Sonja: Ja, Hans Castorp, das ist schon Einer!
Ich werde ihn sehr vermissen. Das habe ich gestern beim meiner Abreise vom Zauberberg festgestellt. Thomas Mann hat mit ihm eine unsterbliche Figur erschaffen, nicht wahr?! Ich werde deine weiteren Gedanken mit Vergnügen weiter verfolgen. Und ich freue mich, dass deine Gedanken oft zu mir wandern, wenn du z. B. wieder mal mit Naphta, Settembrini und Hans Castorp zusammensitzt.
Da kann man sich nur mitfreuen mit dir, über dein so schönes und besonderes Leseerlebnis mit Ann Patchett, liebe Sonja! Es ist zu spüren, was das Buch in dir alles bewegt hat, und wie sehr es dich (im positivsten Sinne) aufwühlt. Und zu gern würde ich es auch lesen, was wegen der mangelnden Sprachkenntnisse ja nicht geht. Aber wenigstens das kleine Büchlein, das kann ich mir besorgen. Dass es zum Welttag des Buches veröffentlicht wurde, wusste ich gar nicht. Interessant!
Dass dein Exemplar 4,5 Jahre in der Buchhandlung gestanden hat, ist unglaublich! Manchmal wartet ein Buch auf einen, und es findet einen. Genau zur rechten Zeit!
Über „Brooklyn“ habe ich oben jetzt berichtet. Ich bin gespannt was du dazu sagst. Ob sich meine Eindrücke mit deinen decken, oder du andere gewonnen hast.
@Barbara: Interessant, was du zu „Madame Bovary“ (besonders auch die Figur) schreibst. Ich freue mich auf den Roman, mein Exemplar ist inzwischen eingetroffen. Mal sehen, wann der richtige Zeitpunkt ist.
Nun hast du einen neuen Lesestoff für dich gefunden. Klingt nach einer schönen Lektüre.
@Steffi: „Mitternachtskinder“ klingt nach einem sehr komplexen Roman. Wie du, bewundere ich auch Autoren, die derart komplexe Themen in eine Form bringen können. Ich halte den Roman im Auge, du machst neugierig darauf. Schön, dass du dem Roman so viel abgewinnen konntest, gerade weil die Erzählweise es dir nicht immer einfach gemacht hat. Danke für deinen Bericht! Und ich bin gespannt, was du als nächstes liest!
@Maria @Steffi: Was ihr über „Königsallee“ schreibt, klingt interessant. Auch ich tue mich oft schwer mit realen Personen die in eine fiktive Handlung eingewoben werden. Aber wie du so schön sagst, Steffi: Thomas Mann hat das ja selbst auch gemacht.
Ich habe das Hörspiel für mich im Sinn, ich hatte es mir auch letztens heruntergeladen.
Über „erklärt Pereira“ habe ich schon viel Gutes gehört, durchaus ein Buch, das für mich interessant sein könnte. Schöne Wahl, Maria!