Lost Girls

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Lost Girls

Beitragvon Wolf » Do 6. Nov 2008, 14:51

Hallo zusammen,

hier wurde ja neulich über "Fernsehsendungen zum Thema Bücher" diskutiert, u.a. auch über "Druckfrisch" von Denis Scheck, wo ich neugierigerweise mal via Internet hineingeschaut habe, einen Fernseher habe ich nämlich nicht. ;-)

Dort sah ich, daß Denis Scheck in der letzten Sendung vom 2.11. auch den Comic "Lost Girls" von Alan Moore und Melinda Gebbie empfohlen hat, den ich vor einiger Zeit gelesen habe. Hier ist der zweiminütige Ausschnitt, in dem er neben drei anderen Büchern auch diesen Comic vorstellt: http://www.ardmediathek.de/ard/servlet/content/1078138

Seinen Vergleich mit dem Zauberberg fand ich allerliebst. :-) Mit dem Zauberberg hat dieses Buch allerdings nur entfernt zu tun, Denis Scheck meinte das natürlich auch nicht bierernst, das Szenario ist ähnlich: der Comic spielt in einem österreichischen Hotel kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, und es werden die amourösen Verwicklungen der Hotelgäste beschrieben - um es einmal zurückhaltend auszudrücken. ;-)

Der Text und das Szenario stammen von Alan Moore, einem berühmten englischen Comic-Autor, gezeichnet wurde der Comic von Melinda Gebbie. Inzwischen sind die beiden ein Ehepaar, denn sie lernten sich über der langjährigen Arbeit an diesem Comic näher kennen, verliebten sich ineinander und heirateten schließlich.

Die drei weiblichen Hauptfiguren Alice, Dorothy und Wendy sind gewissermaßen den drei Kinderbüchern "Alice im Wunderland" (1865), "Der Zauberer von Oz" (1900) und "Peter Pan" (1904) entnommen. Da der Comic im Jahr 1913 spielt, sind das keine Mädchen mehr, sondern sie sind entsprechend gealtert, Alice ist also die älteste: eine grauhaarige aber immer noch äußerst lebenslustige ältere Dame. Wenn die drei Frauen einander von ihren Jugend-Erlebnissen erzählen, sind das immer Spiegelungen der Handlungen aus den erwähnten drei Kinderbüchern, bekannte Motive daraus werden aufgegriffen und umgedeutet. Wendys Mann hat übrigens eine auffällige Ähnlichkeit mit Freud, was sicherlich kein Zufall ist. Der Titel des Comics, "Lost Girls", spielt auf die "Lost Boys" in Peter Pan an.

Sehr schön finde ich die pastellhaften Zeichnungen von Melinda Gebbie, deren phantasievolle Buntheit bisweilen einen merkwürdigen aber sehr reizvollen Kontrast zu der Derbheit der dargestellten Szenen bilden. Beim oberflächlichen Durchblättern sieht das alles sehr bunt und harmlos aus, aber das täuscht, es geht da schon richtig zur Sache; in allen Variationen: Nicht nur Mann mit Frau, sondern auch Frau mit Frau und Mann mit Mann, wobei die beteiligten Personen in ihren freizügigen Reden kein Blatt vor den Mund nehmen und auch die entsprechenden Körperteile ohne Feigenblatt ins Bild gesetzt werden. ;-) Einige Kapitel sind im Stil berühmter erotischer Künstler gestaltet, die in die Zeit gehören, in der der Comic spielt: Beardsley, Schiele, Bayros und andere. Es gibt auch viele Anspielungen auf die einschlägige erotische Literatur dieser Zeit. Das ist sehr schön gemacht. In der folgenden Rezension auf der Website des Hessischen Rundfunks ist eine Bilderstrecke, wo man sich einige Bilder aus dem Comic ansehen kann: Alan Moore & Gebbie Melinda: "Lost Girls"

Was in der Rezension nicht so betont wird: besonders im dritten und letzten Teil wird die Geschichte doch schon recht düster, es spielen Themen wie Vergewaltigung und Mißbrauch eine Rolle, die Schattenseiten der Lust und der egoistischen Begierde werden gezeigt. Das Buch endet mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, also dem endgültigen Einbruch der Barbarei und Brutalität, im letzten Panel wächst allerdings eine Blume aus den Trümmern, was etwas Hoffnung verspricht.

Ein sehr beachtlicher und phantasievoller Comic mit vielen Anspielungen auf Literatur und Kunst, mit teilweise wunderschönen Bildern, streckenweise aber auch verstörenden Bildern und Handlungen, die an die destruktive Seite der Lust gemahnen.

Kein billiger Comic: 75 Euro, das ist eine Menge Geld. Dafür bekommt man aber auch drei großformatige (größer als DIN-A4) in weißes Leinen gebundene Bände mit schönen Schutzumschlägen. Die Papier- und Druckqualität ist tadellos. Der Schuber sieht auch klasse aus. Erschienen ist "Lost Girls" in deutscher Übersetzung beim Cross-Cult-Verlag.

Schöne Grüße,
Wolf
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Re: Lost Girls

Beitragvon JMaria » Do 6. Nov 2008, 16:35

Hallo Wolf,

du packst ja ganz erhebliche "Reiz"worte in deine Comic-Besprechung; Zauberberg, Hotel, kurz vor dem I.WK...

ich fass es kaum, dass gerade jetzt so ein Tipp kommt. Vor ein paar Tagen habe ich begonnen, mir eine kleine Liste mit "Hotel"-Romanen für 2009 zu erstellen. Ich brauch mal wieder ein neues Projekt *g*

allerdings - ganz schön deftige Bilder :oops:
aber auch künstlerisch. Fürs Herumliegen lassen sind die Bände allerdings nicht geeignet ;-)

Viele Grüße
Maria
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Re: Lost Girls

Beitragvon Wolf » Fr 7. Nov 2008, 12:41

Hallo Maria,

dachte ich mir schon, daß Du beim Wort "Zauberberg" aufhorchen würdest. ;-) Wobei es mich schon etwas verwundert, wie häufig der "Zauberberg" im Zusammenhang mit diesem Comic genannt wird, denn das ist eher eine lose Verbindung, und die drei genannten Kinderbücher sind natürlich die viel wichtigeren literarischen Bezugspunkte. Aber wahrscheinlich läßt einen der Zauberberg nicht mehr los, wenn man ihn einmal gelesen hat. ;-) Auch im Nachwort zur deutschen Ausgabe von "Lost Girls" wird der Zauberberg mehrmals erwähnt. Kann man auch online hier nachlesen, ist aber ziemlich lang: "Die verlorenen Mädchen und der Zauberberg".

Weil ich den Peter Pan nicht so gut kannte, habe ich nach einer deutschen Ausgabe gesucht, es gibt aber offenbar nur bearbeitete Versionen für Kinder. Deshalb habe ich mir bei Reclam die englische Ausgabe gekauft und gelesen. Der Comic macht also auch Lust, die zugrundeliegenden Kinderbücher noch einmal richtig zu lesen. Auch eine antiquarische deutschsprachige Ausgabe von Beardsleys erotischer Novelle "Venus und Tannhäuser" habe ich mir zugelegt, auf die wird ebenfalls in dem Comic zurückgegriffen.

Maria hat geschrieben:Vor ein paar Tagen habe ich begonnen, mir eine kleine Liste mit "Hotel"-Romanen für 2009 zu erstellen. Ich brauch mal wieder ein neues Projekt *g*


Sehr schön! :-) Auf meinem SUB liegt noch der Roman "Hotel Iris" der japanischen Autorin Yôko Ogawa. Habe ich mir mal billig bei Ebay geschnappt, wo die deutsche Taschenbuchausgabe zusammen mit der japanischen Taschenbuchausgabe angeboten wurde. Die japanische Ausgabe schlage ich immer wieder mal zufällig irgendwo auf, um dann mit Wörterbuchhilfe einzelne Zeichen, Wörter und Satzfragmente zu entziffern und zu übersetzen. ;-) Im Ganzen, d.h. auf deutsch, habe ich das Buch noch nicht gelesen, weil die Rezensionen dazu eher ablehnend waren. Auf buecher.de findet man eine Rezension der FAZ: es sei ein "verunglücktes Machwerk" und: "Das alles klingt entschieden mehr nach der populären Takarazuka-Frauenrevue oder Kleinmädchen-Manga als nach Literatur."

Zum Thema "Hotel" fällt mir noch der Gedichtzyklus "Hotels" von Raoul Schrott ein, der ja kürzlich seine Homer-Übersetzung vorgelegt hat. Auch in "Hotels" gibt es viele mythologische Anspielungen, in den einzelnen Abschnitten wird zu Anfang immer das jeweilige Hotel mit Ort und Datum angegeben, Raoul Schrott war und ist ja viel unterwegs, die Hotels sind u.a. in Frankreich, Italien, Griechenland, Ägypten. Hier gibt es ein Interview mit dem Autor zu dem Gedichtband: Diskurs über den Prozeß der Weltaneignung – am exemplarischen Ort Hotel. Die Überschrift klingt etwas verquast, aber das paßt irgendwie ganz gut zu den Gedichten. :D

Schöne Grüße,
Wolf
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Re: Lost Girls

Beitragvon Binchen » Fr 7. Nov 2008, 13:10

Hallo Ihr Zwei,

den Spot von Denis Scheck zu Lost Girls habe ich auch gesehen -

die pikierten Blicke des Menschen, dem dieses Buch empfohlen wurde habe ich auch zur Kenntnis genommen ;)

Reinschauen würde ich auch in das Buch, aber die 75 Euro wären für mich vergeudet, weil das Interesse daran nicht so geweckt ist, wie bei Dir, lieber Wolf, denn so wie Du Dich dann durch das Gesamtwerk arbeitest - hätte ich jetzt keine Lust drauf.

Allerdings finde ich Dein Hotel-Projekt interessant - Magst Du in einem neuen Thread erzählen, worauf Du gestoßen bist - Hotel oder Pension ist für mich auch so ein Reizwort.
Oder ist es ein Geheimprojekt?
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Re: Lost Girls

Beitragvon JMaria » Fr 7. Nov 2008, 16:30

Hallo Wolf,

vorab mal die Info:

Wolf hat geschrieben:
Weil ich den Peter Pan nicht so gut kannte, habe ich nach einer deutschen Ausgabe gesucht, es gibt aber offenbar nur bearbeitete Versionen für Kinder. Deshalb habe ich mir bei Reclam die englische Ausgabe gekauft und gelesen. Der Comic macht also auch Lust, die zugrundeliegenden Kinderbücher noch einmal richtig zu lesen.


es gibt eine Ausgabe von "Dressler Kinder-Klassiker": Peter Pan.
es heißt hier zwar "Kinder-Klassiker" ist aber, lt. Nachwort, die Übersetzung des 1. Buches Peter and Wendy, 1911.

ich habe diese Ausgabe:
Peter Pan

deinen anderen Hinweisen werde ich noch nachgehen. Was du alles entdeckst :-)

Herzliche Grüße
Maria
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