von Petra » Mo 22. Jan 2024, 15:46
“Nebenan“ habe ich sehr gerne gelesen. Kristine Bilkau verwebt darin lose das Leben dreier Frauen in einer kleinen Kreisstadt. Der Leerstand hält mehr und mehr Einzug. Und seit kurzem ist eines der Häuser verlassen, in dem vor kurzem noch eine Familie wohnte.
Das Verschwinden der Nachbarn ist nachvollziehbar. Vermutlich sind sie einfach weggezogen. Und doch mutet es etwas seltsam an. Warum haben sie sich nicht kurz von den Nachbarn verabschiedet? Und warum wurden viele Sachen zurückgelassen? Steckt doch etwas anderes hinter dem Verschwinden der Familie?
Auch das Verhalten der Nachbarn ist nachvollziehbar, und doch etwas überspannt und übergriffig. Und doch wieder überhaupt nicht, sondern einfach Teilnahme an den Mitmenschen. Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass man sich umeinander sorgt. Aber selbst in einer Kleinstadt, wo der Zusammenhalt in der Nachbarschaft in den Siedlungen lange noch ein anderer war als in der Großstadt, interessiert sich kaum noch einer für den anderen. Die Stadt stirbt aus, Geschäfte stehen leer. Und über alles legt sich zunehmend eine Trostlosigkeit und damit einhergehend schleicht sich eine Gleichgültigkeit ein, auch für die Menschen "nebenan".
Alle leben ihr Leben, mit all ihren Sorgen, für sich allein. Sie leben nebeneinander
her. Durch das verlassene Haus Streifen sich die Leben dreier Frauen ganz sachte. Man merkt ihnen ihre Scheu an im Umgang mit ihren Mitmenschen. Ist Interesse gewünscht? Oder wird es als Neugierde ausgelegt und als Einmischung empfunden? Wann sind wir Menschen so geworden? In einer Großstadt erklärt es sich durch die Anonymität. Aber in einer Kleinstadt, in der Siedlung...?
Der Ort wirkt, wie so viele Orte inzwischen, gespenstisch. Die Bewohner auch. Kaum Leben ist sichtbar und spürbar. Kristine Bilkau verdichtet in "Nebenan" die Einsamkeit in der Gemeinschaft. Und so ist auch der Titel sehr treffend gewählt.
Wünschen wir selber Berührung mit unseren Mitmenschen? Oder haben wir uns nicht auch schon längst verschlossen und abgekapselt? In solch einer Umgebung geht das Zusammengehörigkeitsgefühl verloren. Dabei ist dies etwas, wonach sich die Menschen im tiefsten Inneren sehnen.
Aber auch von der Achtlosigkeit im Umgang unserer Umgebung, mit der Natur, ist hier ein Thema.
Ein leiser Roman, der viel über den Zustand mancher Orte und den Zustand der menschlichen Seele in dieser Zeit, in dieser Gesellschaft sagt. Kristine Bilkau erzählt in einer sehr schönen ruhigen Weise, ich bin den drei Frauen in ihren Leben sehr gerne gefolgt, und bin gerne mit ihnen Verbindungen eingegangen. Ganz vorsichtig und umsichtig.
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Im Anschluss habe ich “Hinter der Hecke die Welt“ gelesen. Auf dieses Buch habe ich mich sehr gefreut, da ich vor einigen Jahren den ersten Roman von Gianna Molinari sehr gerne und fasziniert gelesen habe. Und wieder konnte mich Gianna Molinari begeistern.
Erzählt wird von einem kleinen (sehr kleinen!) Dorf, das Angst hat vor dem Verschwinden. Überhaupt würde das Dorf wohl keiner mehr finden, wäre da nicht die Hecke. Die Hecke ist riesengroß, und lockt Touristen an. Und Vermessungsspezialisten, die sich für den enormen Wachstum der Hecke interessieren. Jedoch ebenso vermessen sie die beiden Kinder Pina und Lobo, die aufgehört haben zu wachsen. Woher kommt der Stillstand? Den Dorfbewohnern ist sehr am Wachsen der Kinder gelegen, denn sie sind die Zukunft des Dorfes.
Zweiter Handlungsort ist die Arktis. Dort ist Dora, Mutter von Pina, auf Expedition. Sie und das Team, dem sie angeschlossen ist, beobachten die Arktis. Auch die Arktis befindet sich im Verschwinden. Das Eis schmilzt, und damit verschieben sich Formen und Grenzen.
Toll, wie Gianna Molinari Wachstum und Stillstand auf ihre so eigene Art betrachtet und hinterfragt. Das Dorf stellt sie so reduziert dar, dass es beinahe absurd wirkt. Und doch ist alles da, was sie braucht, um anhand dessen ein Dorf, Wachstum und Stillstand aufzuzeigen, und zum Nachdenken darüber anzuregen. Gerade weil es so reduziert ist.
Ebenso intensive Gedanken löst sie durch die Episoden in der Arktis aus. Gianna Molinari hat gründlich recherchiert, und erzählt absurde Geschichten in ihrer ihr eigenen Art. Und man ahnt bereits, dass diese absurden Geschichten nicht weniger als absolut wahr sind. Und absurd sind damit nicht die Geschichten, die sie erzählt, sondern wir Menschen.
Ich liebe die ungewöhnliche Herangehensweise von Gianna Molinari. In mir hallen ihre Romane lange nach. Auch schätze ich ihre Themen sehr, die absolut relevant sind. Ich hoffe auf mehr, mehr, mehr von dieser Autorin!
Kleiner Hinweis zur Ausgabe: Die Ausgabe ihres ersten Romans „Hier ist noch alles möglich“ wurde sehr schön gestaltet. Der Schutzumschlag zeigt passend zum Inhalt einen Auszug eines Wolfsfells, und ist durch eine Prägung auch fühlbar. Schade, dass der Schutzumschlag von „Hinter der Hecke die Welt“ zwar Heckenblätter abgebildet sind, aber eine Hervorhebung/Prägung wurde hier nicht vorgenommen, so sind sie nicht erstastbar. Nur eine Kleinigkeit, aber ich hätte mir gewünscht, dass der Verlag auch diesen zweiten Roman spürbar gestaltet. Zudem ist leider die Papierqualität deutlich schlechter ausgefallen als beim ersten Roman.
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Jetzt lese ich “Solange wir schwimmen“. Wie schon in „Wovon wir träumten“ erzählte Julie Otsuka in der Wir-Form. So auch in ihrem neusten Buch über das Schwimmen, einen Riss im Schwimmbecken, und die Schwimmerin Alice, durch deren Leben eine Demenzerkrankung einen Riss zieht. Ich werde berichten.