Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Petra » So 12. Feb 2012, 00:16

Hallo zusammen,

da Tolstoi in „Anna Karenina“ das Thema Ehebruch aufgreift, interessiert mich nun erneut die “Kreutzersonate“. Ich habe vor, sie bald als ungekürzte Lesung zu hören. Ich las sie damals, ohne etwas anderes von Tolstoi zu kennen, und fand das Buch, und das darin enthaltene Gedankengut schrecklich. Ja, sogar einem wahnsinnigen Geist entstammend. So fanatisch schaute Tolstoi auf das Thema Ehebruch, und körperliche Begehrlichkeiten. Betrachtet man nun seine Gedanken zum Thema in „Anna Karenina“ wird umso deutlicher, was auch sein Lebenslauf zeigt: Die fanatische Einstellung hat er erst in späteren Jahren entwickelt. Im Bezug darauf, wie gut er sich in die Liebenden und Untreuen in „Anna Karenina“ einfühlen konnte, vermute ich, dass auch in ihm Sehnsüchte lebendig waren, gegen die er angekämpft hat. In der „Kreutzersonate“ hingegen verteufelt er das verführerische Weib, das an allem Schuld ist. Gegenüber Anna Karenina ist er so nachsichtig, so verständnisvoll. Die damaligen Konventionen haben viel Unglück über Liebende gebracht. Gegenüber der weiblichen Figur in seiner „Kreutzersonate“ hat er kein Verständnis. Eine Wut auf die Frevelhaften schäumt in ihm auf, und entlädt sich in einer Hasstirade. In Kenntnis von „Anna Karenina“ möchte ich gern noch mal den späteren Tolstoi über dieses Thema hören. Und dann gern auch die Gegennovelle “Eine Frage der Schuld“ von seiner Frau lesen, wenn die Eindrücke der „Kreutzersonate“ wieder präsent sind. Manesse hat da ja einen tollen Band, in dem beide Werke enthalten sind. Schön auch, dass das Cover die Porträts der Eheleute abbildet. Gefällt mir sehr.

Auch “Lied ohne Worte“ möchte ich im Anschluss lesen oder hören (davon gibt es glücklicher Weise auch ein Hörbuch). Die Geschichte, die Sofja Tolstaja darin erzählt, erinnert ebenfalls derart an die „Kreutzersonate“ ihres Mannes, dass es Rückschlüsse auf ihre Ehe zulässt und sicher auch beabsichtigt. Und Tolstoi soll ja sehr eifersüchtig auf Besuche eines Musikers geschaut haben, den seine Frau regelmäßig empfing. Mich interessiert ihre Sicht auf die Dinge, mit den Augen einer Frau (Tolstois Frau) ungemein. Besonders nachdem ich die wutschäumenden ihres Mannes kenne.

Kennt jemand beide Romane von Sofja Tolstaja? Sie scheinen mir sehr ähnlich. Ist das so? In welchen Punkten unterscheiden sie sich?

Auch "Auferstehung" interessiert mich nun sehr. Denn auch hier greift er ja wieder das Thema des Sündenfalls auf, und der späteren Reue, der Buße. Auch das wird mir einen weiteren Blick auf seinen inneren Kampf mit diesen Themen geben, den er offensichtlich mit sich austrug. Im Hinblick auf "Anna Karenina" kann ich schon besser verstehen, warum er so extreme Gedanken in späteren Jahren zu diesen Themen entwickelte. Denn die Konventionen waren damals ungesund. Sicher hat sich so mancher Mensch damals innerlich zerrissen zwischen Moral, Anständigkeit, Glaube und Liebe, Sehnsucht, Verlangen.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Barbara » So 12. Feb 2012, 09:39

Liebe Petra,

ich musste schmunzeln, als ich gelesen habe, wie Dich Anna Karenina inspiriert, weitere Bücher von Tolstoi bzw. von Sofja Tolstaja zu lesen. Schmunzeln deshalb, weil es mir damals genauso erging. Nach A.K. begann für mich ein regelrechter Sog bezüglich der Tolstois. Unterstützt wurde es bei mir jedoch vor allem durch die Biografie Mein Leben an der Seite Tolstois. Diese Biografie barg so viel Interessantes aus dem Leben und den Charakteren beider, dass ich unbedingt auch Bücher von ihr lesen wollte.
Ich kann Dir daher beide Bücher nur empfehlen. "Eine Frage der Schuld" als Gegendarstellung zu Kreutzersonate, ganz klar. "Lied ohne Worte" empfand ich nicht als ähnlich. Es hat auch einen anderen Entstehungshintergund. Das Buch basiert auf der wahren "Beziehung" zum russischen Komponisten „Sergej Tanejew“. Die einzige Gemeinsamkeit ist, das das Buch eben auch widerspiegelt, wie die eheliche Beziehung beider zu einander war. Ich habe die Bücher jedoch auch nicht unmittelbar miteinander bzw. nacheinander gelesen, sonder in einigem Abstand, sodass mir die Ähnlichkeit vielleicht auch nicht so auffiel. Außerdem habe ich die beidn Bücher unter anderen Vorzeichen gelesen.
Aber ich bin gespannt, wie Du es dann später, wenn Du sie gelesen hast, empfinden wirst.

Ich habe Dir hier mal eine Beschreibung zitiert:
Der Tod ihrer Mutter stürzt die junge Sascha in eine tiefe Krise. Ihr gutmütiger, aber plumper und wenig sensibler Ehemann, der Versicherungsbeamte Pjotr, kann sie nicht trösten; ein drückendes Gefühl der Leere und Sehnsucht quält sie. Da stellt die Begegnung mit dem Musiker Iwan Iljitsch ihr Leben auf den Kopf: Mit Mendelssohn-Bartholdys «Liedern ohne Worte» schenkt er ihr ungeahntes, rauschhaftes Glück. Ohne dass Sascha es sich zunächst eingestehen will, gilt ihre Begeisterung bald nicht mehr nur der Musik, sondern zunehmend auch dem begnadeten Pianisten.

Einfühlsam und mitreißend erzählt Sofja Tolstaja vom qualvollen Schwanken zwischen Pflichtbewusstsein und Leidenschaft und von der überwältigenden Kraft der Musik. Der ergreifende Roman entstand vor dem Hintergrund eines tragischen Schicksalsschlages. Als der Tod ihres jüngsten Sohnes sie aus der Bahn warf, fand Sofja Tolstaja Trost in der Bekanntschaft mit dem Komponisten Sergej Tanejew, der – zum Ärger ihres krankhaft eifersüchtigen Mannes Lew Tolstoi – häufig in ihrem Haus zu Gast war. Zu Lebzeiten wagte sie nicht, die Geschichte zu veröffentlichen: Allzu leicht und allzu unmittelbar hätten die Leser Rückschlüsse auf ihre bereits zerrüttete Ehe gezogen.


Ich empfand es damals sehr sehr schade, dass es nicht noch weitere Bücher von ihr gibt(?)!!
Auch Auferstehung kann ich Dir empfehlen.
Auch dies ein sehr gutes Buch, dass tief in die Seele des Menschen eintaucht.

Ich beneide Dich darum, dass Du diese Bücher und diesen Lesegenuss noch vor Dir hast!!
"Das Lesen eines Buches ist die Zwiesprache mit der eigenen Seele!"
B.H.

Liebe Grüße
Barbara
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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Petra » So 12. Feb 2012, 11:51

Hallo Barbara,

sicher werde ich, wenn ich „Eine Frage der Schuld“ und „Lied ohne Worte“ gelesen habe, klarer sehen. Mein Eindruck war, dass sich beide Novellen mit den Themen beschäftigen, die auch Tolstoi in „Die Kreutzersonate“ aufgreift, und auch direkten Bezug dazu nehmen. In „Eine Frage der Schuld“ als Gegendarstellung, in „Lied ohne Worte“ als Verarbeitung ihrer tatsächlichen Leidenschaft zu dem Musiker Sergej Tanejew, auf den ihr Mann sehr eifersüchtig gewesen sein soll, und den sie meinte um der Musik willen zu verehren. Das trifft natürlich wieder genau die Themen der „Kreutzersonate“, und daher rührt mein Gefühl, dass es Ähnlichkeiten in den Inhalten der beiden Novellen von Sofja Tolstaja geben könnte. Ich sehe schon, ich habe da noch eine sehr spannende Reise vor mir.

Ich habe zwischenzeitlich auch schon ein wenig recherchiert, und eine Aussage gefunden, die gut widerspiegelt, was ich mit den Ähnlichkeiten meine. Bei :arrow: Wikipedia steht: Olga Martynova erstaunte in der Frankfurter Rundschau, wie offen Tolstoja auch in dieser Novelle zum Dialog mit Kreutzersonate komme. Dennoch sei es im Unterschied zu Eine Frage der Schuld keine Streitschrift sondern ein „poetisches Denkmal“ einer Leidenschaft.

Das bringt wahrscheinlich die Bezüge der Bücher zueinander auf den Punkt, aber auch die Unterschiede der beiden Romane Tolstajas.

Die Biografie, die Du gelesen hast, beginnt mich auch zu interessieren. So würde ich gern genauer nachlesen, wann Tolstoi „Die Kreutzersonate“ und Tolstaja „Eine Frage der Schuld“ schrieb. Wenn ich es richtig herausgefunden habe, merkwürdiger Weise bevor Sofja Tolstaja diese Freundschaft mit dem Musiker hatte, die sie dann ja in „Lied ohne Worte“ zum Thema nimmt. Welch merkwürdige Schicksalsregung, dass Sofja Tolstaja und Leo Tolstoi im wahren Leben eine so ähnliche Situation durchleben, wie das Ehepaar sie vormals in ihren Novellen dargestellt haben. Meine Quelle für diese zeitliche Einordnung der drei Novellen findet sich in dem Artikel von Olga Martynova in der :arrow: Frankfurter Rundschau.

Das wird in jedem Fall eine interessante Reise für mich. Sowohl die direkte Auseinandersetzung Tolstajas mit der „Kreutzersonate“, als auch die spätere Verarbeitung ihrer eigenen Erlebnisse nach dem Tod ihres Sohnes, der sie in so tiefe Verzweiflung stürzte, die Linderung in der Musik fand, und eine Leidenschaft zur Musik (und zum Musiker) in ihr entzündete, und auf so verblüffende Weise der Situation in der „Kreutzersonate“ ähnelt.

Ich habe eben auch direkt mal nach der Biografie Ausschau gehalten. Ich möchte sie unbedingt als gebundenes Exemplar. Leider ist diese Ausgabe schon vergriffen. Ich werde abwarten, bis ich ein neuwertiges Exemplar bekomme. Eine Leseprobe brachte auch gerade interessantes zu Tage. Demnach soll Tolstoi in „Anna Karenina“ in der Szene, in der Lewin und Kitty getraut werden, den Ritus seiner und Sofjas Trauung unübertrefflich beschrieben haben. So findet sich also auch an der Stelle (an der ich zufälliger Weise gerade bin) autobiografisches in der Figur des Lewin wieder. Sehr interessant. Überhaupt soll sie sehr viele Zeitzeugnisse, Auszüge aus Tagebüchern und Briefen enthalten, und viel über das Leben damals erzählen, was wichtig ist, um seine Romane in Gänze zu verstehen. Das macht sie für mich umso interessanter.

Mich freut auch sehr, dass mich „Anna Karenina“ auf vieles andere von Tolstoi und seiner Frau neugierig gemacht hat, bzw. den letzten Anstoß gegeben hat, mich näher damit beschäftigen zu wollen. Und wenn ich sehe, dass ich von Dir beneidet werde, Barbara, dass ich diese Vergnügungen noch vor mir habe, dann freue ich mich umso mehr. Denn sie haben Dich, wie ich sehe, nachhaltig beeindruckt. Ich bin sicher, das wird mir auch so gehen. :-)
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon steffi » Mo 13. Feb 2012, 09:46

Hallo Petra,

ich verfolge gespannt deine Leseberichte, vorallem auch, da ich Tolstoi bisher nur aus älteren Verfilmungen kenne. Ganz toll und sehr interessant schilderst du deine Eindrücke ! Auch finde ich es schön, dass dich Anna Karenina zu weiteren Büchern inspiriert, für mich ein untrügliches Zeichen, dass es ein sehr intensives und beglückendes Lesen ist. Viel Spaß weiterhin damit !
Gruss von Steffi

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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Petra » Mo 13. Feb 2012, 10:23

Hallo Steffi,

ganz lieben Dank für Deine Resonanz! Es freut mich sehr, dass meine Beiträge auf so großes Interesse stoßen. Zumal ich zwischen den Zeilen von „Anna Karenina“ in der Tat so vieles entdecke, was zu weiteren Recherchen und zu weiterer Lektüre anregt.

Besonders freut mich auch, „Die Kreutzersonate“ in einem neuen Licht sehen zu können. Der Eindruck ist nicht weniger verstörend als zuvor. Aber mit den Lebenshintergründen Tolstois und im Vergleich zu seinem früheren Blick auf diese Themen in „Anna Karenina“, erklärt diese Novelle. Und aus der Folge werden die Novellen von Sofja Tolstaja hochgradig interessant. Und hierdurch wiederum die Biografie über Sofja Tolstaja, da diese zum einen den schlechten Ruf der nörgelnden Schriststellerinnen-Gattin revidieren wird, und zum anderen auch einen interessanten Blick auf ihre Ehe mit Tolstoi werfen wird, und seinen geistigen Umbrüchen, die die Ehe immer mehr zerrüttet haben (und sich in der „Kreutzersonate“ auch schon eindrucksvoll erahnen lassen).

Du hast Recht, diese Querverbindungen zu anderen Büchern, die sich beim Lesen ergeben, sind ein untrügliches Zeichen dafür, wie intensiv „Anna Karenina“ auf mich wirkt, und welch schönes Leseerlebnis es ist. Ein episches Werk, dem ich mich nicht entziehen kann. Und das auch viel von Tolstoi selbst enthält. In seiner Figur des Lewin kommen seine Gedanken über die geeignete Lebensform zum Ausdruck. Eine Frage, die Tolstoi sich immer wieder gestellt hat, und die auch zu Veränderungen in seinem Denken und Handeln hervorriefen, so intensiv beschäftigten ihn diese Fragen.

Auch „Krieg und Frieden“ wird nun noch interessanter für mich, da ich während meiner Recherche auf eine Information stieß, dass er seine eigenen Kriegserlebnisse darin verarbeitet hat. Das wird sicher sehr authentisch sein, und somit hochinteressant. Davon abgesehen, hatte mich vor einiger Zeit das reinlesen in die Neuübersetzung, die im Hanser Verlag erschienen ist, davon überzeugt, dass ich das Buch unbedingt lesen muss. Es hat etwas außerordentlich anziehendes. Ich werde mir diese Ausgabe demnächst endlich gönnen. Sie ist sehr teuer, aber ganz gewiss ihr Geld wert.

Bei „Anna Karenina“ freue ich mich auch auf die Anmerkungen (ich werde sie erst zum Schluss lesen), die diverse Passagen oder Begriffe noch eingehender erklären, und auf das Nachwort.

Ich habe noch gut 500 Seiten vor mir. Ich bin also schon weit gekommen. Aber immer noch verspüre ich keine Sehnsucht nach dem Ende. Ich gehe ganz auf in der Welt der Familien, von denen hier erzählt wird. Und werde nun noch freudiger weiter berichten, wo ich weiß, dass Du meine Berichte so interessiert verfolgst. :-)
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Petra » Di 21. Feb 2012, 16:24

Hallo zusammen,

letzte Woche bin ich nicht viel zum lesen gekommen. Ich befinde mich nun auf Seite 860.

Inzwischen ist Lewins Bruder gestorben. Es zeichnete sich ja schon lange ab, dass er nicht mehr lange Zeit zu leben haben wird. Der Gedanke an den bevorstehenden Tod des Bruders hatte Lewin bereits sehr zugesetzt. Jetzt, da es soweit ist, nimmt Lewin es immer noch sehr schwer. Erst wollte er seine Frau nicht an seiner Seite habe, in dieser Situation. Doch Kitty hat sich durchgesetzt und zeigt, dass Frauen oft besser mit solchen Situationen umgehen können. Die Berührungsängste dem Sterbenden gegenüber sind nicht so ausgeprägt wie bei Lewin, und sie vermag auf den Todkranken viel besser einzugehen, und ihm so etwas Zuspruch zukommen zu lassen. Lewin zeigt sich anschließend doch dankbar, dass Kitty an seiner Seite war, da er merkt, dass er dem Bruder in keinster Weise etwas hätte leichter machen können.

Die Sterbeszene ist sehr realistisch geschildert. Auch die Gefühle aller beteiligten. Der noch so am Leben hängende Sterbende, die empfundene Ungerechtigkeit, dass die um ihn stehenden gesund sind, und er keine Hoffnung mehr haben darf. Wie schwer muss das sein. Tolstoi hat sich sehr gut eingefühlt, und ein beklemmendes Gefühl ergreift von Lewin, aber auch vom Leser Besitz.

Und wie so oft im Leben, vergeht das eine, und tritt das andere ins Leben. So geht Kittys Schwangerschaft sicher nicht zufällig mit dem Tod des Bruders einher. Das Leben geht weiter. Das ist einerseits tröstlich und gut so. Andererseits ist es entmutigend. Einer stirbt, und ist einfach weg. Als hätte es sein Leben nie gegeben.

Annas Gefühlsleben wird auch erneut beeinträchtigt. Einerseits ist sie glücklich, mit Wronski in Italien unterwegs. Andererseits weiß sie den Sohn verlassen, und möchte an seinem Geburtstag zu ihm. Die Zerrissenheit der Gefühle, auch als sie dieses Wiedersehen möglich macht (und mit welchen Mitteln), sind sehr gut getroffen. Und der arme Junge kann einem leid tun. Wird mit Halbwahrheiten von allen Seiten versorgt, damit er Ruhe gibt. Doch welche Wunde muss ihm das Ganze sein?

Tolstoi spiegelt die Gefühle jeder seiner Figuren absolut glaubhaft wider. So auch Wronskis Gefühle. Einerseits aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, andererseits endlich die geliebte Frau an seiner Seite. Dann die aufkommende Langeweile, und die Konflikte, die sich wie ein Schatten über das (erzwungene) Glück legen. Das ist keine gute Basis, und man spürt es in jeder Zeile.

Eine Kleinigkeit ist mir aufgefallen. Als Anna Karenina ihren Sohn wiedersieht, wird beschrieben, dass er hager, ja, sogar abgemagert ist. Dann wieder heißt es, dass Anna den pummeligen Körper ihres Sohnes umarmt. Etwas später heißt es wieder, wie mager er geworden ist. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es eine Nachlässigkeit Tolstois ist, da er alles so genau beschreibt und beobachtet, und scheinbar nie den Überblick über sein Panorama verliert, obwohl es so opulent ist. Ob es wohl Übersetzungsschwierigkeiten sind? Oder der Begriff Pummeligkeit damals etwas anders gedeutet wurde? Vielleicht weiß dazu ja jemand mal irgendwann etwas. Ich wollte es hier erst mal festhalten
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Petra » Fr 2. Mär 2012, 17:59

Hallo zusammen,

ich habe „Anna Karenina“ nun ausgelesen. Am Wochenende werde ich mir noch Zeit nehmen für die Anmerkungen zu diversen Textstellen und für das Nachwort. Schön, dass ich dieses intensive Leseerlebnis somit sanft ausklingen lassen kann, und nicht allzu abrupt aus der Welt der Karenins, Demitritschs, Wronskis, Oblonskis etc. lösen muss. Das Buch und seine Figuren haben mich sehr gefangen genommen. Wie viel mehr, als bloß eine Geschichte über eine unglücklich verliebte verheiratete Frau hat Tolstoi hier geschrieben!


Seite 860 bis 1227 (Ende): Anna geht es zunehmend schlechter. Ihre seelische Verfassung verschlimmert sich. Einmal durch ihre ungewisse Situation, in der sie von der Gesellschaft ausgeschlossen ist, aber auch dadurch, dass sie ihren Sohn aufgeben musste, um mit Wronski zusammen sein und diese verzehrende Leidenschaft ausleben zu können. Zudem zerreißt sie innerlich der Zweifel an Wronskis Liebe. Sie fühlt sich ihm ausgeliefert, da es in seiner Macht steht, sie zu halten oder fallen zu lassen. Diese Gedanken setzen sich so sehr in ihr fest, dass sie eifersüchtig wird, auf die Zeit die er ohne sie verbringt, auf Frauen, die nur in ihrer Fantasie existieren, und dass sie an seiner Liebe zweifelt, ohne einen Grund zu haben. Das ist alles sehr nachvollziehbar geschildert. Man mag Anna vorwerfen, dass sie ihren Sohn verlassen hat, um mit Wronski leben zu können. Man mag ihr vorwerfen, dass sie die Tochter, die sie mit Wronski hat, nicht liebt. Doch wer schon einmal krank vor Liebe und Sehnsucht war, der wird sie wenigstens verstehen, und auch, dass ihr diese Gefühle, die sie ständig erfüllen, unerträglich werden. So sehr, dass sie sie zunächst betäubt mit Morphium, und später doch so unerträglich werden, dass sie nur noch einen Ausweg sieht: den Tod. Wie sie in der Zwischenzeit immer mehr von der Realität in ihre schmerzliche Traumwelt abgleitet, und später Wahnvorstellungen bekommt, wird durch diese Mischung (Gefühlsverwirrtheit und Morphium) erstaunlich nachvollziehbar.

Mein vollstes Mitleid hatte Wronski. Ich hatte anfangs gedacht, dass er ihr Grund geben würde, sich durch ihren Selbstmord rächen zu wollen, da er ein Lebemann war, und sich wohl nach dieser Unabhängigkeit von damals zurücksehnen würde. Doch ich als Leserin lag damit genauso falsch wie Anna, die ihm das unterstellt hat. Wie geschildert wird, dass er verzweifelt geweint hat an der Leiche seiner Anna, zerreißt einem fast das Herz. Und sein Entschluss mit seinem Körper im Krieg als Hilfe für die Serben gegen die Türken wenigstens noch etwas nutzbringendes zu leisten, da seine Seele bereits tot ist, tröstet nicht.

Eine große Liebe – ein fatales Ende. Die Liebe kann große Schmerzen bereiten. In einer Zeit, in der eine Frau von der Gesellschaft ausgestoßen war, wenn sie die Ehe gebrochen hatte und mit ihrem Geliebten zusammenlebte, umso mehr. Dass in solch einer Situation trotz der besten Voraussetzungen zwischen zwei Menschen keine Liebe zu finden ist, sondern vor allem Unzufriedenheit, Unglück, Rastlosigkeit, Leid und Bruch, ist zwangsläufig. Und das zeigt Tolstoi hier auf.

Doch dieses monumentales Werk hält viel mehr bereit, als diese tragische Liebesgeschichte. Durch Lewin spricht Tolstoi all die Themen an, die damals von Bedeutung waren, und zeichnet somit ein großangelegtes Panorama. Erstaunlich ist, dass die Aktualität der Themen heute noch zum Teil genauso gegeben ist. Nimmt man die Gedanken zur Landwirtschaft aus, so bleiben Themen, die uns heute genauso beschäftigen: Wozu leben wir? Wie sollte man leben? Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Gibt es Gott? Wie gelingt es, an ihn zu glauben? Lewin sucht Antworten, und findet sie. Eine nach der anderen. Im letzten Teil geht es ihm, den Ungläubigen, um Gott. Auch diese Gedanken sind sehr interessant und gut ausformuliert.

Neben den Hauptthemen gibt es eine Vielzahl von Nebenthemen, die auch ausgesprochen interessant sind. So z. B. auch um das Aufkommen einer öffentlichen Meinung. Und die Frage, wie gut oder schlecht eine öffentliche Meinung ist, und wer sie macht, und wem sie etwas einbringt. Spannend, dass Tolstoi sich damals so intensiv Gedanken um diese Themen gemacht hat, und alles zu diesem epischen Werk zusammengetragen hat.

Nachdenken möchte ich noch über diesen Punkt: Durch Tolstois „Kreutzersonate“ weiß ich, wie Tolstoi später über den Ehebruch gedacht hat, und über frevelhafte Frauen, die die armen hilflosen Männer verführen. Wobei, wenn man „Die Kreutzersonate“ gelesen hat, fragt man sich, was die Frau darin wohl schlimmes getan haben soll, dass Tolstois sie (und ihresgleichen) so sieht. Denn entgegen Tolstois Auffassung passiert darin nichts anderes, als dass der Mann einer schönen Frau erliegt, die ihn jedoch in keinster Weise ermuntert oder gar verführt hat. Er erliegt seinen eigenen Trieben, und diese Triebe, die sind es, die Tolstoi wahrscheinlich eigentlich verteufelt, und einen Schuldigen (eine Schuldige) finden will. Für mich war das Ausdruck der damals krankhaften Moral, die jegliches natürliche körperliche Verlangen verteufelt. Dass solch eine Einstellung krank machen muss, liegt klar auf der Hand. Wer ständig seine Bedürfnisse und sein Verlagen unterdrücken muss, kann bestimmt darüber seinen Verstand verlieren. Nun möchte ich überdenken, wie Tolstoi zu „Anna Karenina“ steht. Er verurteilt sie nicht. Er schaut mit Mitgefühl auf sie. Und doch sind Anklänge des späteren Tolstoi in dem Roman zu erkennen. Aber nicht in der Figur der Anna Karenina, sondern in der Figur des Lewin, dem Tolstoi ja viel von sich selbst zugeschrieben hat. Lewin reagiert ausgesprochen eifersüchtig auf alle Männer die in die Nähe seiner Frau Kitty kommen. Diese rasende (unbegründete) Eifersucht ist etwas, was sich auch in der „Kreutzersonate“ findet, und die auch im Leben Tolstois stattgefunden haben soll. Warum er gegenüber Anna Karenina so nachgiebig ist, möchte ich noch ergründen. Vielleicht wird mir auch die Biografie über seine Frau Aufschluss darüber geben.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Josie » Sa 3. Mär 2012, 23:05

Liebe Petra,

schön, deinen abschließenden Eindruck von Anna Karenina zu lesen und vor allem, dass es dir so gut gefallen hat. Da kommen wieder Erinnerungen an die liebgewonnen Charaktere hoch. Das Buch hinterlässt bei mir auch nach nunmehr fast einem Jahr immer noch einen bleibenden Eindruck.

Am vergangenen Sonntag kam übrigens bei Arte ein Bericht über Jasnaja Poljana, das Gut von Tolstoi, wo er beispielsweise "Anna Karenina" und "Krieg und Frieden" geschrieben hat. Das Gut und dessen Umgebung diente teilweise ja auch als Vorlage für die ein oder andere Passage in seinen Romanen.

Ich fand den Bericht recht interessant. Die Landschaft fand ich gigantisch und inspirierend und hätte am liebsten auf der Stelle meinen Koffer gepackt und wäre dort hingefahren. Selbst über den Fernseher kam eine gewisse Stimmung und Faszination beim Zuschauer an (zumindest erging es mir so). Das Gut lebt heute in erster Linie von Touristen und viele der Dorfbewohner arbeiten dementsprechend auch dort. Dem Gut ist ferner ein interessantes Tolstoi-Museum angegliedert.

Vor allem hat der Bericht mir aber Lust auf "Krieg und Frieden" gemacht. Das möchte ich nun direkt Anfang nächsten Jahres als Großprojekt in Angriff nehmen.

Der Bericht wird am kommenden Donnerstag, 08.03. um 03:30 h, wiederholt. Nicht gerade eine christliche Zeit, aber vielleicht mag sich der ein oder andere es sich aufnehmen und später anschauen:

http://www.arte.tv/de/Programm/244,broadcastingNum=1377228,day=6,week=10,year=2012.html
Liebe Grüße
Claudia


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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Petra » Mo 5. Mär 2012, 11:30

Hallo Josie,

die Sendung klingt ausgesprochen interessant. Danke, dass Du mir den Wiederholungstermin mitgeteilt hast. Ich habe mir eine Erinnerung in meinem Handy gestellt, da ich nicht versäumen möchte, mir die Sendung aufzunehmen. Das kommt für mich ja gerade richtig. Zumal Tolstois Gut, auf dem „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ entstanden sind, ja auch Pate gestanden hat für das Gut Lewins – Du sagst es. Das macht es hochinteressant!

Dass Dir der Bericht so große Lust auf „Krieg und Frieden“ gemacht hat, und Du das Anfang nächsten Jahres als Großprojekt in Angriff nehmen willst, finde ich klasse! Ich habe mir das Buch auch vor einigen Tagen gekauft, da es mich nach „Anna Karenina“ sehr reizt, auch diesen Roman von ihm zu lesen. Ich habe mich ganz bewusst für die Hanser Ausgabe entschieden. Einerseits wegen der hochgelobten Neuübersetzung. Andererseits weil ich sehr zufrieden mit der Hanser-Ausgabe von „Anna Karenina“ war. Darauf gehe ich in einem separaten Posting noch ein.

Schön, dass Dir mein Bericht über „Anna Karenina“ gefallen hat, und ich in Dir damit die Erinnerungen an die Charaktere und Szenen wachrufen konnte.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Tolstoi und sein Werk: Anna Karenina u.a.

Beitragvon Josie » Mo 5. Mär 2012, 22:23

Liebe Petra,

das ist die 2bändige Ausgabe von "Krieg und Frieden", die du dir gekauft hast? Puh, ein stolzer Preis, aber nun ja, für solch ein gigantisches Werk kann man sich das auch ruhig mal gönnen.

Da ich bald Geburtstag habe.... :roll:

Danke auf jeden Fall für den Hinweis auf die Hanser-Ausgabe. :) Vielleicht erbarmt sich jemand und schenkt sie mir.
Liebe Grüße
Claudia


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