Hallo zusammen,
Seite 320: Langsam beginnt die Situation, in der sich Anna, Wronski und Annas Ehemann Alexej Alexandrowitsch befinden, mich zu beklemmen. Alle drei sind gefangen in ihrer Lage. Anna sehnt sich nach Wronski, ihre Gedanken kreisen nur noch um ihn. Und ist gefangen an der Seite des ungeliebten Mannes. Tolstoi hat sehr gut nachempfunden, wie sie nur noch seine schlechten Eigenschaften sieht, ihn verachtet und er sie mit allem was er tut anekelt. Das ist authentisch. Da hat Tolstoi ganz fein beobachtet. Überhaupt seziert er aufs Feinste diesen Ehebruch, und alle daran beteiligten. So auch Alexej Alexandrowitsch. Wie er lieber wegschaut, als sich den Tatsachen bewusst zu stellen. Wie sein Unterbewusstsein dennoch pausenlos lauert. Und seine Gesundheit unter der angespannten Situation leidet. Wie er die Demütigung unterdrückt, und sie doch verspürt.
Und nicht zuletzt Wronski. Anfangs war ich mir bei ihm nicht sicher, ob er die Liaison wirklich ernst nimmt, oder – wenn auch nicht aus böser Absicht heraus – aus einem verspielten Blickwinkel her betrachtet. Doch Anna scheint in ihm doch ganz andere Gefühle auszulösen, als er sie bisher kannte. Hatte er zunächst darauf gedrungen, dass alles so bleiben solle, wie es ist (also Anna in ihrer Ehe, und sie sich heimlich treffend), so wird die Situation für ihn nun immer unerträglicher. Er möchte ein klares Verhältnis schaffen, will den Bruch zwischen Anna und ihrem Ehemann. Will sie für sich.
Nun ist Anna auch noch schwanger von ihm. Er sieht darin den Grund, endlich Klarheit zwischen ihr und ihrem Mann zu schaffen. Sie sieht für sich und Wronski keine Möglichkeit. Sie schätzt ihren Mann wohl leider sehr richtig ein. Er würde sie nicht gehen lassen, nicht in eine Trennung einwilligen. Seine Gedanken verraten dem Leser dies. Sie war nicht gesprächsbereit, als er über die Situation reden wollte, also will er auch nicht gesprächsbereit sein, wenn sie es suchen sollte. Dabei ist das natürlich verlogen. Auch beim ersten Gesprächsversuch, der von ihm aus ging, war die einzig akzeptable Richtung für ihn, dass Anna ihren intensiven Kontakt zu Wronski einstellt. Hätte sie ihm nicht entsprochen, hätte er auch zu diesem frühen Zeitpunkt keine Einwilligung in etwas anderes gegeben.
Die Sehnsucht, die Demütigungen, die um den Geliebten (die Geliebte / die Betrügerische) kreisenden Gedanken werden spürbar.
Auch den Erzählfaden um Lewin mag ich sehr. Fast bedaure ich es, wenn Tolstoi dann wieder einen Schwenk zur Kernhandlung um Anna macht.
Als letztes las ich nun die Szene beim Pferderennen. Die geklauten Minuten zuvor bei Anna. Dann das eintreffen von Annas Mann, als sie gerade zum Rennen aufbrechen will. Diese unterkühlte, gezwungene, verlogene Atmosphäre. Das Rennen selbst war auch famos geschildert. Beim Sturz des Pferdes regte sich in mir ein lautloses
Nein. Eine falsche Bewegung, und das arme Pferd ist dahin. Vom Sieg mal ganz zu schweigen. Das muss Wronski schwer zugesetzt haben. Und Annas Maske fällt, als sie ihn stürzen sieht. Ist außer Fassung. Das spitzt die Situation zwischen ihr und ihrem Mann zu. Wieviel Demütigung und öffentliche Blamage kann er sich noch gefallen lassen?
Sehr eindringlich. Ich freue mich jedes Mal aufs weiterlesen. Und die Gefühle sind – auch wenn die Konventionen heute anders sind – zeitlos und immer aktuell. Dreiecksgeschichten, die sich nicht so einfach lösen lassen, und an der alle Beteiligten leiden, bleiben wohl immer aktuell.