Hallo,
nach mehreren Anlaeufen mit Haruki Murakamis "
Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki"[gelesen von
Wanja Mues] bin ich nun fast am Ende angekommen und wieder einmal traurig, dass der Abschied von den Personen dieses Romans nun bald bevorsteht.
Zuerst hatte ich grosse Probleme, mich an den Sprecher zu gewoehnen, und hatte schon vor, hier spaeter enttaeuscht davon zu berichten, dass dieses Hoerbuch eine arge Enttaeuschung fuer mich sei.
Es war meine erste Hoerbegegnung mit dem Sprecher Wanja Mues, und nach den Murakami-Hoerbuch-Erlebnissen mit David Nathan und vor allem [natuerlich] mit Ulrich Matthes [!] war ich zunaechst enttaeuscht.
Vielleicht geht es Euch aehnlich: wenn man eine Sprecherin/einen Sprecher vom allerersten Hoeren an nicht so mag, dann stechen einem gerade auch Kleinigkeiten besonders unangenehm ins Ohr, wie z. B. im Falle von Wanja Mues, das vernuscheln bzw. verschlucken von Endsilben, vorzugsweise am Satzende, und man kommt zu dem Schluss: das geht absolut gar nicht! Und man ist dann enorm sensibilisiert, konzentriert sich dann auf genau solche Kleinigkeiten und aergert sich bereits in der Erwartung all jener Stellen, die unweigerlich noch auftauchen werden und achtet fortan z. B. ganz besonders auf verschluckte Endsilben am Satzende.
Als sehr farblos empfand ich die Vortragsweise von Wanja Mues zudem auch noch. Und da ich beim Hoeren generell oft einschlafe und dadurch manchmal an ueberlangen Kapiteln laenger verweilen darf, wirkte die als farblos empfundene Sprechweise von Wanja Mues, die keinen Gebrauch macht von dramatischen Variationen der Tonlage und Lautstaerke, sondern eher sanft "daherplaetschert", als besonders schnelle und effiziente Einschlafhilfe.
Aber ich wollte nicht vorschnell aufgeben.
Und wurde reichlich belohnt.
Nach einigen Kapiteln empfand ich die farblose Stimme als passend. Im Mittelpunkt des Romans steht ja der "farblose" Herr Tazaki.
Und es war dann, ab einer bestimmten Entwicklung der Ereignisse, ein regelrechter Sog, in den mich die Geschichte hineingezogen hat. Hoernaechte erstreckten sich ploetzlich bis in die fruehen Morgenstunden. Ich konnte einfach nicht aufhoeren! Nun, das ist keine neue Erfahrung fuer mich bei Murakami-Hoerbuechern, sondern die Regel.
Wie unglaublich tief einen Menschen der Verlust einer Freundschaft treffen kann, das wird in diesem Roman eindrucksvoll vorgefuehrt. Der erste Satz des Romans:
"Vom Juli seines zweiten Jahres an der Universitaet bis zum Januar des folgenden Jahres dachte Tsukuru Tazaki an nichts anderes als an den Tod."
Diese Erfahrung des Verlustes ist existentiell, und es gibt wohl keinen Menschen, der mehr oder weniger tiefe Wunden einer solchen Katastrophe nicht auch in sich traegt.
Besonders schlimm ist es, wenn die Gruende fuer einen Bruch zunaechst vollkommen im Dunkeln bleiben. Und besonders hart trifft dies dann besonders sensible Naturen.
Wie sich die Geschichte aufloest, fand ich spannend wie ein Krimi.
Tazaki findet nicht nur heraus, was damals passiert war, sondern auch einiges ueber sich selbst. So farblos, wie sich manche Menschen empfinden, sind sie oft nur in ihrer Selbstwahrnehmung. Ueberhaupt ist es spannend zu beobachten, wie tief oft die Kluft ist zwischen der eigenen Selbstwahrnehmung und der durch andere Menschen. Wie hohl sind Menschen oft innerlich, die aeusserlich Glanz ausstrahlen. Und umgekehrt besitzen Menschen oft eine innerliche Tiefe und einen inneren Glanz bei aeusserlicher "Farblosigkeit". Und allen gemein ist vielleicht eine ganz tiefe Sehnsucht nach einer inneren Heimat und Geborgenheit.
Spannend auch hier wieder die Abgruende vorgefuehrt zu bekommen, die sich wohl, mehr oder weniger, in jeder menschlichen Existenz auftun. Wie gut kennt man eigentlich den Menschen, den man meint, besonders gut zu kennen? Und wie gut kennt man sich selbst? Es gibt wohl Anteile bei dem Menschen, den man besonders gut zu kennen glaubt, die man nie kennenlernt, die im verborgenen bleiben. Manchmal ist es vielleicht eher unbedeutend, dass man sie nie kennenlernt, manchmal aber auch ein Segen, oder ein Fluch.
Ich bewundere den Mut, den Herr Tazaki aufgebracht hat, sich einer Art Selbst-Therapie zu unterziehen, auch wenn der Anstoss von aussen kommt. Von seiner Freundin Sara, die spuert, dass die Beziehung zu ihm nicht gut gehen wird, wenn seine seelischen Wunden nicht heilen koennen. Und das koennen sie so lange nicht, wie er der wahren Ursache dieser tiefen seelischen Wunde nicht auf den Grund kommt.
Bei Murakami begegnet man immer wieder ganz bestimmten Musikstuecken, die erwaehnt und leitmotivisch einsetzt werden, Musikstuecke, die seinen Protagonisten in den Sinn kommen oder die sie sich immer wieder anhoeren in bestimmten, emotional oft besonders bewegenden Situationen. Hier ist es ein Stueck aus den "Années de Pèlerinage", einem Klavierzyklus von Franz Liszt, mit dem Titel "Le mal du pays". Fuer mich ist dieses Stilmittel sehr inspirierend, und es traegt dazu bei, mich in das Selenleben seiner Figuren noch besser hineinfuehlen zu koennen.
Wie immer in den Romanen von Murakami, spielt auch hier die Sexualitaet eine grosse Rolle. Vermutlich wirkt die sehr direkte Sprache auf manche Leser verstoerend, und manche moegen sie gar als pornographisch empfinden. Als ich erstmals mit Murakami in Kontakt kam ["Mister Aufziehvogel"], war ich auch sehr ueberrascht von der Direktheit der Sprache, in der er sexuelle Aktivitaeten schildert [wurde sein Roman "Gefaehrliche Geliebte" nicht zuletzt auch aus diesem Grund neu uebersetzt?]. Und nicht zuletzt war das ja auch im "Literarischen Quartett" ein Thema, das die Wellen hochschlagen liess. In der "Zeit" fand ich dazu ein interessantes Interview mit Murakami, wo er sich auch zu diesem Thema aeussert:
Es gibt nicht nur eine RealitaetDas Hoerbuch kann ich sehr empfehlen.
Aber, wie eigentlich immer, letzten Endes empfindet jede/r anders und fuer andere mag Wanja Mues nicht der ideale Sprecher fuer diesen Roman sein. Ich kann sagen: dass mich dieser Roamn so tief beruehrt hat, liegt auch an der Stimme von
Wanja Mues.