Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon Petra » Do 14. Jan 2010, 15:26

Hallo Maria und Wolf,

heute mittag habe ich "Im Zentrum der Geschichte" gelesen. Wieder eine Erzählung in der die Gedanken gewälzt werden. Teilweise - für mich - belanglose. Teilweise aber auch interessante. So z. B. die Umkehrschlüsse, die sie zieht. Z. B. dass Blasphemie ein Beweis für den Glauben an Gott ist. Und die Tatsache, dass sie den Teufel vergessen hatte. Und dass das bedeuten müsse, dass er in ihrem Glauben zur Zeit keinen Platz habe. Obwohl (wie sie verwundert erwähnt) schon an die Macht des Bösen glaubt.

Diese Dinge fand ich letztendlich interessanter als die, die sich um das Zentrum einer (der) Geschichte drehen.

Ebenso fand ich das mit dem religösen Frieden interessant. Im Schlusssatz kommt das (zusammen mit zwei anderen, ebenfalls sehr interessanten Aspekten) noch mal zum Ausdruck: (Sinngemäß) das Zentrum bleibt leer... "... es ist aber da, aber leer, auf die gleiche Art wie der Mann krank war, aber nicht starb, der Hurrikan näher kam, aber nicht traf und sie von religösem Frieden erfüllt war, nicht aber von Glauben.

Überhaupt die Auseinandersetzung mit Glauben und Religösität fand ich gerade sehr interssant, da ich kurz vorher den Roman "Die einsame Passion der Judith Hearne" von Brian Moore gelesen habe und Judith Hearne darin mit ihrem Glauben hadert (sehr sogar)! Es würde zu weit führen hier all die Facetten aufzuführen, die in Brian Moores Roman zum Ausdruck kommen, aber diese Erzählung hier von Lydia Davis traf gerade den richtigen Nerv. :-)

Das mit dem Zentrum der Geschichte kann ich nicht näher einordnen. Habt Ihr dazu eine Idee? Und wie sind Eure Eindrücke und Gedanken zu dieser Erzählung?
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon Wolf » Mo 18. Jan 2010, 23:15

Hallo Petra und Maria,

ich reihe mich jetzt auch mal wieder in die Leserunde ein. :-)

"Der Frischwassertank" erinnerte mich an ein Forellenaquarium in einer Gastwirtschaft, das ich als Kind immer wieder mal angesehen habe. Außerdem kommt mir da noch der etwas dämliche Slogan "Erst beim Bestelln stirbt die Forelln" in den Sinn, mit dem verdeutlicht werden sollte, daß die Fische wirklich frisch auf den Tisch kommen. An diese Fische in dem Glasbecken kann ich mich noch gut erinnern, ich fand es als Kind sehr traurig, daß die Forellen da eigentlich nur noch zum Sterben herumschwammen. Wenn sie frisch geangelt worden wären, hätte mir das nichts ausgemacht, weil sie dann ja vorher noch in der Freiheit gewesen wären, aber daß sie ihre letzten Stunden in so einem kahlen Glasbecken verbringen mußten, fand ich dann doch schon ziemlich fies. :shock:

"Das Zentrum der Geschichte" habe ich gerade zu lesen begonnen, ich lese es heute abend noch fertig und schreibe dann mehr dazu. Es ist ja offenbar eine Geschichte über eine Geschichte, was mich an die "Gedichtgedichte" von Oskar Pastior erinnert. Das sind Gedichte, in denen beschrieben wird, wie die einzelnen Zeilen eines Gedichtes aussehen oder was in ihnen passiert. Lydia Davis mit ihrem indirekten Erzählen macht hier etwas Ähnliches.

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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon JMaria » Mi 20. Jan 2010, 13:08

Hallo zusammen,

Das Zentrum der Geschichte
lässt mich etwas ratlos zurück.

Danke Wolf für die Erklärung über den Aufbau der Geschichte. Diese verschiedenen Zeitebenen, die sie zusammenfügt, am liebsten zu einem "Zentrum der Geschichte", hat mich verwirrt. Es ist zum Teil so verschachtelt, dass es mir wie eine geometrische Figur erscheint, die sich durch Drehung und Wendung gestaltlich verändert.

und auch die Farben, hauptsächlich die Farbe gelb, hat mir die Geschichte regelrecht flirrend gemacht. (Gelber Himmel, gelbes Altartuch).

ich denke es gibt kein Zentrum der Geschichte. Und im wirklichen Leben? Doch auch immer wieder eine Verschiebung des Zentrums und manchmal kann das Zentrum auch leer sein.

Der letzte Abschnitt in der Geschichte scheint die Lösung zu verbergen. Aber vielleicht scheint es nur so?

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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon Petra » Do 21. Jan 2010, 10:45

Hallo Maria und Wolf,

Eure Gedanken zu "Das Zentrum der Geschichte" finde ich sehr interessant und aufschlussreich. Schon dass Du, Wolf, es aussprichst, dass es eine Geschichte über eine Geschichte ist. Aber besonders dann auch Deine Eindrücke dazu, Maria, sind sehr aufschlussreich: Dieses ständige drehen und wenden und das Verschieben des Zentrums. Und letztlich: Vielleicht ist das Zentrum gar leer. Du hast auch ein schönes Sinnbild für die Art wie das Ganze erzählt ist benutzt:

JMaria hat geschrieben:Es ist zum Teil so verschachtelt, dass es mir wie eine geometrische Figur erscheint, die sich durch Drehung und Wendung gestaltlich verändert.


Das hast Du sehr gut auf den Punkt gebracht!

Besonders gefällt mir auch der Gedanke, ob es im wahren Leben nicht auch so ist, dass das Zentrum sich immer wieder verschiebt. Das Zentrum unserer Gedanken, aber auch des Lebens selbst. Interessanter Gedanke dazu!

Deine Gedanken zu "Der Frischwassertank" sind auch sehr interessant, Wolf! Richtig, grausam ist das. In solch ein Becken gesperrt zu sein um zum sterben abgeholt zu werden. Da schaudert es mir. Auch fällt mir dazu gerade noch ein, dass der Mensch einerseits zu großem Mitgefühl fähig ist. Auch gegenüber Tieren. Andererseits können die Menschen (oft die gleichen, die ihren Hund fast wie einen Menschen behandeln) ihren Verstand vollkommen ausschalten. Können übersehen, dass da in dem Becken LEBEWESEN schwimmern. Der Mensch kann einfach drüber hinwegsehen, dass dort ein Tier drin schwimmt - ein Tier, wo man doch so tierlieb ist. Und man bestellt sich eine Forelle, als gäbe es zwischen dieser Bestellung und diesem Frischwassertank keinen Zusammenhang. Davon schließe ich mich selbst nicht mal aus. Zwar ist mir - und auch Euch beiden - noch bewusst, dass man da gerade den Tod eines Wesens entscheidet. Aber man brächte es vielleicht trotzdem übers Herz. Andere Menschen gehen noch eine Stufe weiter und schalten den ganzen Gedanken aus und machen es einfach mechanisch ohne das was da geschieht ins Bewusstsein dringen zu lassen. Hier hat Lydia Davis wirklich eine große Gedankenkette angestoßen. Finde ich bewundernswert.

mit "Liebe" haben wir ja wieder eine Kürzestgeschichte. Und hier frage ich mich wieder, was sie mir sagen will? Oder will sie vielleicht "nur" ein schöner Text sein über das Gefühl Liebe und über den Tod. Wie man über den Tod hinaus weiter lieben kann. Sich durch Gegenstände des Verstorbenen ihm nahe fühlen. Und durch die Nähe zu seinem Grab (sehr schön und poetisch geschrieben mit dem Keller).

Was mir dann dennoch komisch vorkommt ist, dass sie sich erst in ihn verliebt hat, als er schon tot war. Was könnte das zu bedeuten haben?
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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon JMaria » Do 28. Jan 2010, 17:30

Petra hat geschrieben: mit "Liebe" haben wir ja wieder eine Kürzestgeschichte. Und hier frage ich mich wieder, was sie mir sagen will? Oder will sie vielleicht "nur" ein schöner Text sein über das Gefühl Liebe und über den Tod. Wie man über den Tod hinaus weiter lieben kann. Sich durch Gegenstände des Verstorbenen ihm nahe fühlen. Und durch die Nähe zu seinem Grab (sehr schön und poetisch geschrieben mit dem Keller).

Was mir dann dennoch komisch vorkommt ist, dass sie sich erst in ihn verliebt hat, als er schon tot war. Was könnte das zu bedeuten haben?


Hallo zusammen,

also mir kommt die Geschichte etwas "blaubart-artig" vor; der hatte seine Frauen auch lieber tot; würde mich interessieren welche Haarfarbe die Frau hat ;-)

Baut ein Haus über sein Grab und verweilt im Keller um ihm nah zu sein. Das ist für mich gruslig. *schauder*

jedenfalls hat sie ihren "Liebsten" wohl lieber tot. Durch seinen toten Zustand kann sie selbst nicht verletzt werden.

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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon Wolf » Fr 29. Jan 2010, 14:56

Hallo Petra und Maria,

ich habe jetzt die Geschichten "Liebe" und "Unsere Freundlichkeit" gelesen.

Noch kurz zu "Das Zentrum der Geschichte": diese Geschichte fand ich nicht so ansprechend, da fehlte wohl wirklich das "Zentrum". ;-) Ich habe die Geschichte im weiteren Verlauf mehr überflogen als gelesen, eben weil mich das Thema nicht ansprach.

Zu "Liebe" habt Ihr ja schon einiges Zutreffendes geschrieben, offenbar hat sich die Frau ja erst in den Mann verliebt, als er schon tot war. Aber sie kannte ihn vielleicht schon vorher, lebte wohl in seinem Haushalt, weil sie ja sein Sakko ausbürstet und sein Tintenfaß abstaubt. Zwangsläufig ist das eine völlig einseitige Beziehung und Liebe, sie kann ja nichts mehr von dem Mann bekommen oder erwarten. Wenn sie dann ununterbrochen im Keller bei seinem Grab sitzt, dann bedeutet das ja, daß sie selbst schon so gut wie tot ist, denn sie führt ja kein eigenständiges Leben mehr, sondern sitzt nur noch im Dunkeln. Aufgefallen ist mir übrigens noch das Wort "elfenbeinen". ;-) Ich würde "elfenbeinern" sagen, aber es geht wohl beides.

Die Geschichte "Unsere Freundlichkeit" schildert ebenfalls keine besonders harmonische Paar- oder Familienbeziehung; überhaupt sind die Beziehungen zwischen den Menschen in Lydia Davis' Geschichten meist eher distanziert oder jedenfalls irgendwie problembelastet. Auffallend ist, daß in der Geschichte nicht von "ich" die Rede ist, sondern von "wir", was wohl andeuten soll, daß es weniger um ein individuelles als um ein allgemeineres Problem geht. Der Mann bzw. die Familie will, daß die Frau zuhause bleibt, was aber eher indirekt gesagt wird, indem der "alte Wagen" vorgeschoben wird. Wenn gegen Ende von "diesen drei Menschen" die Rede ist, dann ist wohl ihre Familie gemeint. Ausgerechnet gegenüber diesen drei Menschen fällt der "Wir-Erzählerin" das Freundlichsein von allen Menschen am schwersten.

Schöne Grüße,
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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon JMaria » Do 4. Feb 2010, 15:55

Hallo Petra, hallo Wolf

Wolf hat geschrieben:Wenn sie dann ununterbrochen im Keller bei seinem Grab sitzt, dann bedeutet das ja, daß sie selbst schon so gut wie tot ist, denn sie führt ja kein eigenständiges Leben mehr, sondern sitzt nur noch im Dunkeln.


wie wahr. Was für eine bedrückende Geschichte doch im Endeffekt. Sie hat eine starke Wirkung finde ich.

Wolf hat geschrieben:Die Geschichte "Unsere Freundlichkeit" schildert ebenfalls keine besonders harmonische Paar- oder Familienbeziehung; überhaupt sind die Beziehungen zwischen den Menschen in Lydia Davis' Geschichten meist eher distanziert oder jedenfalls irgendwie problembelastet. Auffallend ist, daß in der Geschichte nicht von "ich" die Rede ist, sondern von "wir", was wohl andeuten soll, daß es weniger um ein individuelles als um ein allgemeineres Problem geht. Der Mann bzw. die Familie will, daß die Frau zuhause bleibt, was aber eher indirekt gesagt wird, indem der "alte Wagen" vorgeschoben wird. Wenn gegen Ende von "diesen drei Menschen" die Rede ist, dann ist wohl ihre Familie gemeint. Ausgerechnet gegenüber diesen drei Menschen fällt der "Wir-Erzählerin" das Freundlichsein von allen Menschen am schwersten.



zu dieser Geschichte Worte zu finden, fällt mir sehr schwer, obwohl sie so einfach gestrickt wirkt. Dieses "Wir" gibt der Geschichte eine gewisse Nähe, als ob die Autorin den Leser in dieses "Wir" mit einbeziehen möchte und, ehrlich gesagt, mag ich das nicht sehr. ;-)

oder möchte die Erzählerin der Geschichte sich aus dem "Ich" befreien und wählt das "Wir"? Ist ihr eigenes "Ich" ihr peinlich, weil sie IHRE Unfreundlichkeit zu den Menschen in engerer Beziehung damit herunterspielen möchte, da das "Wir" andeutet, anderen Frauen/Müttern/Ehefrauen ginge es genauso?

Liebe Grüße
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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon Petra » Fr 5. Feb 2010, 17:07

Hallo Wolf und Maria,

Was die Erzählung "Liebe" betrifft, so fand ich einen Satz von Dir prägnant, Wolf: Es scheint in der Tat eine sehr einseitige Liebe zu sein. Eine, in der er ihr nicht nahe ist. Sie aber ihm nahe sein will. Das aber nur im Stillen(/Toten) kann.

Und noch etwas sehr wichtiges hast du gesagt/erkannt, finde ich: Sie scheint selbst so gut wie tot zu sein. Innerlich.

Den blaubart-artigen Aspekt fand ich auch interessant, wenn ich ihn auch (wegen Unkenntnis) nicht selbst erkennen kann. Aber interessant, dass Du darin einen siehst, Maria. Wäre ich (durch meine Unkenntnis) von allein nicht drauf gekommen.

Und vielleicht hat sie ihn auch LIEBER tot. Weil sie ihm dann ENDLICH nahe sein kann. Näher vielleicht als im Leben?

Eine beklemmende Geschichte!

Ich sehe schon, durch die Auseinandersetzung mit Euch, bekommt so manche Erzählung von ihr noch mal ein neues, stärkeres Gewicht. Weil wir gemeinsam so einiges zusammentragen. Schön ist das.

"Unsere Freundlichkeit" - besonders die ersten Worte hatten mich gepackt. Denn ich stelle auch (leider) manchmal an mir fest, dass ich zu Fremden (zu denen ich - wäre ich ehrlich - gar nicht nett sein wollen würde) freundlicher bin als dann zu Hause zu meinen Lieben. Vielleicht weil man (ich) seinen angstauten Frust irgendwo los werden muss und es dann am Partner (anderen Familienmitgliedern) auslässt? Das konnte ich mir zum Glück sehr abgewöhnen. Aber ich kenne das. Das erkannte ich in der Geschichte.

Aber auch Eure Aspekte, dass es eben eine nicht glückliche Beziehung ist. Und dass der Mann die Frau am liebsten nur zu Hause sähe. Und ihr kein eigenes Leben - außerhalb seines Wirkungskreises - eingestehen möchte.

Wolf hat geschrieben:Auffallend ist, daß in der Geschichte nicht von "ich" die Rede ist, sondern von "wir", was wohl andeuten soll, daß es weniger um ein individuelles als um ein allgemeineres Problem geht.


Ich glaube auch, dass sie dieses Thema auf niemand bestimmten meint, sondern allgemein auf eine Vielzahl von Menschen/Paaren. Gut formuliert, Wolf!

JMaria hat geschrieben:oder möchte die Erzählerin der Geschichte sich aus dem "Ich" befreien und wählt das "Wir"? Ist ihr eigenes "Ich" ihr peinlich, weil sie IHRE Unfreundlichkeit zu den Menschen in engerer Beziehung damit herunterspielen möchte, da das "Wir" andeutet, anderen Frauen/Müttern/Ehefrauen ginge es genauso?


Nein, da glaube ich würde sie zu stehen! Wie mit der mäkelnden Frau in einer der ersten Geschichten als es ums Essen geht und ihr Mann ihr nichts recht machen kann.

Ich glaube, dass sie ganz bewusst alle (oder viele) ins Boot holt und verallgemeinert, weil dieses Phänomen auf viele zutrifft. Und man fühlt sich vielleicht auch durch das "wir" mehr angesprochen und kann für sich selbst nicken oder protestieren, wenn man meint, man sei selbst aber nicht so. Wir muss ja auch nicht zwingend den Leser einbeziehen. Aber den Leser, der sich angesprochen fühlt (ich mich wie gesagt zum Teil durchaus).
Liebe Grüße,
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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon Petra » Fr 12. Feb 2010, 08:48

Hallo zusammen,

heute morgen habe ich "Eine Naturkatastrophe" gelesen. An Symbolik entdecke ich nichts. Vielleicht Ihr?

Meiner Meinung nach ist es ein Text über die Naturgewalten, die den Menschen vollkommen außer Gefecht setzen können. Der Mensch kann gegen die Kraft der Elemente nicht ankommen. Muss sich ihnen ergeben, ist ihnen unterlegen. Letztendlich, so genial der Mensch auch ist, ist er gegen diese Kräfte machtlos.

Seht Ihr das auch so? Oder habt Ihr etwas anderes herausgelesen? Ich bin gespannt.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Lydia Davis: Fast keine Erinnerung. Stories

Beitragvon JMaria » Di 16. Feb 2010, 11:46

Petra hat geschrieben:Hallo zusammen,

heute morgen habe ich "Eine Naturkatastrophe" gelesen. An Symbolik entdecke ich nichts. Vielleicht Ihr?

Meiner Meinung nach ist es ein Text über die Naturgewalten, die den Menschen vollkommen außer Gefecht setzen können. Der Mensch kann gegen die Kraft der Elemente nicht ankommen. Muss sich ihnen ergeben, ist ihnen unterlegen. Letztendlich, so genial der Mensch auch ist, ist er gegen diese Kräfte machtlos.

Seht Ihr das auch so? Oder habt Ihr etwas anderes herausgelesen? Ich bin gespannt.


Hallo Petra, hallo Wolf,

"Eine Naturkatastrophe"
mir fiel besonders diese Armageddon Stimmung (Endzeitstimmung) in der Geschichte auf. Diese Menschen hatten keine Chance zu überleben und dennoch diese passive Ergebenheit. Und wieder in dieser Wir-Form geschrieben.

Wir sind jetzt in die oberen Räume des Hauses umgezogen und stehen am FEnster und sehen den Fischen zu, die zwischen den Ästen unseres Pfirsichbaums hin und her flitzen. Unter einer Schubkarre lugt ein Aal hervor.

Ich glaube, keine Nation hat soviel über Endzeitkatastrophen geschrieben und gefilmt wie die USA.


In "Sonderbares Verhalten" finden wir wieder eine Kürzestgeschichte. Der erste Satz sagt bereits alles aus:

Da sieht man, dass die Umstände schuld sind.

mehr brauche ich eigentlich nicht zu wissen. Ich brauche mich nicht mehr zu fragen warum dieser Mensch sich Kleenex-Stücke in die Ohren stopft. Ich könnte mich höchstens noch fragen, was er gegen die Stille getan hat, als er sie besaß. Fehlte ihm dann Geräusche, eine menschliche Stimme?

Liebe Grüße
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