Uwe Tellkamp: Der Turm

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Di 4. Aug 2009, 11:07

steffi hat geschrieben: Inzwischen, finde ich, ergibt sich immer mehr eine Einheit und ein runderes Bild der Intentionen, die Tellkamp schildern will. Ich denke immer noch, dass er für jeden Protagonist einen anderen Stil, andere Bilder und Atmosphäre einsetzt. Es fügt sich immer mehr zusammen.


Hallo Steffi,

da hast du recht. Ich war schon ziemlich geschockt, als dann in einem weiteren Kapitel die Zusammenhänge zwischen Reina und Richard bestätigt wurden. Was hat der Richard nur für ein Problem *kopf_schüttel*

echt bitter für den Sohn. Robert nimmt das Ganze ja gelassen, auch seine "neue" Schwester. Er geht ungezwungener durchs Leben und kommt vermutlich schneller an sein persönliches Ziel, wie mir scheint.

Die Uhren ticken jetzt immens schnell. Grandios wie Uwe Tellkamp uns dies immer wieder vermittelt.

Edit:
ist dir in dem Kapitel, als der Strom im Krankenhaus ausfällt, dieser Satz aufgefallen? Tellkamp ist informiert... ;)

und in den weiteren Kapiteln kurz vor und nach dem "Finale" kommen nun immer alle 3 Protagonisten in einem Kapitel vor (Christian, Meno, Richard), auch daraus ergibt sich ein Gefühl der Dringlichkeit, dass die Zeit nun schneller voranschreitet, neben dem Ticken der Uhren.

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Do 6. Aug 2009, 11:09

Hallo Steffi,



Im Mahlstrom wird die Zeit deutlich, aber warum heißt das nächste Kapitel, das an Sylvester spielt Walpurgisabend ?

Über das Wetterleuchten der kirchlichen "Veranstaltungen" geht es zum Kostümfest und der Meinungsumschwung wird deutlich, man kann seine Meinung sagen oder ist es doch wieder eine allgemeine Meinung ? Nemo-Meno - ist es dir aufgefallen ?




ja, der Versprecher der betrunkenen Honich ist mir aufgefallen. Sehr bedeutsam!

die nächsten Kapitel haben viel mit "Licht, Tänze und Träume" zu tun.

z.B. das Kapitel "Wetterleuchten"...
hat nichts mit "leuchten" (Licht) zu tun, sondern mit "tanzen" ((mittelhochdeutsch weterleichen zu „weter“ (Wetter) + „leichen“ (tanzen, hüpfen), Wikipedia

Walpurgisabend am Silvester:
eigentlich spricht man ja nicht von einem Walpurgisabend, sondern von einer Walpurgisnacht. Somit bin ich der Ansicht, dass hier ein symbolischer "Vorabend" angedeutet wird, die "Wende" wird angedeutet; man sieht sie am Horizont.

In der Walpurgisnacht findet ja die Frühjahrstagundnachtgleiche und der Sommersonnenwende statt.

ja, und man tanzt ja in den 1. Mai wie im Kapitel "Walpurgisnacht" ziemlich närrisch beschrieben wird.

Auch hier sieht man wieder eine Verbindung zu Thomas Manns Zauberberg. Darin gibt es nämlich auch eine Walpurgisnacht.


Das Kostümfest erinnert mich wieder an ETA Hoffmann, vielleicht gibt es eine ähnliche Geschichte von ihm ?
Dazu hab ich mir heute die Biografie von Safranski ausgeliehen, ich bin gespannt, ob es da zum Turm Hinweise gibt.




du bist die E.T.A. Hoffmann Expertin in der Runde
berichte bitte, wenn du etwas herausfindest.



Endlich lesen wir auch die biografischen Erinnerungen Altenbergs - 'klick' ist wohl das Diktiergerät - die uns am Anfang versprochen wurden. Interessant und wieder ganz anders geschrieben



jetzt hat es bei mir 'klick' gemacht. Danke fürs Erklären, ich fragte mich schon was es bedeutet.

Edit:
im Kapitel "Walpurgisnacht" kommt eine Bildbeschreibung vor, die mich an Friedrich David Caspars Eismeer erinnert. Der Maler verstarb in Dresden:

Ich habe ein Bild gesehen, lieber Eschschloraque, Eisschollen, die durch die gefrorene Oberfläche eines Sees schießen; Relikte waren es, Vergangenheit im Jetzt. Ob es einmal eine Gesellschaft eben wird, die ganz aus Vergangenheiten besteht?


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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Do 6. Aug 2009, 11:12

Hallo Steffi,

mensch, jetzt ist mir was dummes passiert. Ich habe aus Versehen, deinen Text bearbeitet, statt ihn zu zitieren und nun ist dein letzter Beitrag weg.

Ich habe seit kurzem, wegen den vielen Spam um sie löschen zu können, Einblick im Moderatoren-Bereich und jetzt habe ich auf den falschen Button gedrückt.

Tut mir ganz arg leid :-(

Deine Anmerkungen zu Proust, Musil, Joyce waren so interessant. Ach menno.

Liebe Grüße
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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon steffi » Do 6. Aug 2009, 13:03

JMaria hat geschrieben:
im Kapitel "Walpurgisnacht" kommt eine Bildbeschreibung vor, die mich an Friedrich David Caspars Eismeer erinnert. Der Maler verstarb in Dresden:


Das Bild hatte ich vor Augen, wusste nur nicht, von wem es ist !

Danke dir für die Erklärung zum "Wetterleuchten" und das mit dem Tanzen ist mir auch nicht aufgefallen, ebenso die Walpurgisnacht bei Thomas Mann.

ETA Hoffmann und der Turm
Folgendes ist mir schon in den ersten Seiten der Biografie aufgefallen:
Hoffmann wuchs ohne Vater im wohlsituierten, standesbewussten Haus seines Grossvaters auf, der aber schon verstorben war. Dem Haushalt gehörte die Grossmutter, zwei unverheiratete Schwestern, ein unverheirateter, arbeitsunfähiger Onkel und die geschiedene Mutter. Hoffmann hatte also nur diesen Onkel als männliche Bezugsfigur und auch die Mutter verfiel eher wieder in die Tochterrolle.(Christian?)

Hoffmann hat ja als Jurist gearbeitet, wäre aber gerne nur Künstler gewesen, er hat sich den äußeren Umständen (Einkommen und Bürgerlichkeit) untergeordnet, aber insgeheim hatte er deshalb immer Selbstzweifel (Meno?) Safranski schreibt dazu:
Die Phantasien über die Risiken des Aussteigens aus der bürgerlichen Sekurität um der Kunst willen verarbeiten jene Scham, die Hoffmann darüber empfindet, es ohne äußere Sicherheit des Lebens nicht ausgehalten zu haben. Quelle: Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann

Hinten im Buch ist eine Zeichnung "Der Kunzische Riss" Hoffmanns abgedruckt, die so ähnlich wie die im Turm ist, Hoffmann hat darauf seine Wohnung und die Umgebung und etliche Figuren seiner Romane gezeichnet.
Es lebe das Internet: http://eta.staatsbibliothek-berlin.de/de/bildergalerie/index3.html , Bild lässt sich vergrößern !

Tut mir ganz arg leid :-(

Deine Anmerkungen zu Proust, Musil, Joyce waren so interessant. Ach menno.


Macht nichts,kommt vor ... *grübel* Ich schrieb, dass mir Richard sehr proustmößig vorkommt mit seiner Suche nach Glück und seiner Hilflosigkeit. Christian wird durch die Lektüre von Proust gerettet vor der Schicht und Proust, Joyce und Musil werden angeführt als Auslöser zur Lust am Entdecken, dem der graue Alltag entgegensteht.
Gruss von Steffi

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Fr 7. Aug 2009, 09:16

Hallo Steffi,

steffi hat geschrieben: Danke dir für die Erklärung zum "Wetterleuchten" und das mit dem Tanzen ist mir auch nicht aufgefallen, ebenso die Walpurgisnacht bei Thomas Mann.


ich habe gestern noch im Kapitel "Walpurgisnacht" im Zauberberg gelesen. Interessant ist, dass das Kapitel nicht in der Nacht zum 1. Mai spielt, sondern an Fasnachtsdienstag, deswegen die Kostümierung.

Die Kostüme im Turm kamen mir auch fehl am Platz vor. Tanzt man in den 1. Mai kostümiert? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Mit diesen Bräuchen kenne ich mich nicht aus.

ETA Hoffmann und der Turm

Hoffmann hatte also nur diesen Onkel als männliche Bezugsfigur und auch die Mutter verfiel eher wieder in die Tochterrolle.(Christian?)

Hoffmann hat ja als Jurist gearbeitet, wäre aber gerne nur Künstler gewesen, er hat sich den äußeren Umständen (Einkommen und Bürgerlichkeit) untergeordnet, aber insgeheim hatte er deshalb immer Selbstzweifel (Meno?) Safranski schreibt dazu:
Die Phantasien über die Risiken des Aussteigens aus der bürgerlichen Sekurität um der Kunst willen verarbeiten jene Scham, die Hoffmann darüber empfindet, es ohne äußere Sicherheit des Lebens nicht ausgehalten zu haben. Quelle: Rüdiger Safranski: E.T.A. Hoffmann

Hinten im Buch ist eine Zeichnung "Der Kunzische Riss" Hoffmanns abgedruckt, die so ähnlich wie die im Turm ist, Hoffmann hat darauf seine Wohnung und die Umgebung und etliche Figuren seiner Romane gezeichnet.
Es lebe das Internet: http://eta.staatsbibliothek-berlin.de/de/bildergalerie/index3.html , Bild lässt sich vergrößern !



das ist ja großartig, was du entdeckt hast. Die Bezüge zu E.T.A. Hoffmann ist nicht wegzudenken. Das ist wirklich offensichtlich. Auch die Zeichnung erinnert an die Turm-Skizzen.

Außerdem bin ich jetzt auch noch neugierig auf diese Biographie geworden. Es scheint, es lohnt sich wirklich, diese noch hinzu zuziehen. Bin begeistert, von deinem Fund. :-)

Gestern habe ich bei ebay günstig die Biographie über Karl August der Starke und seine Zeit von Czok gekauft.


Macht nichts,kommt vor ... *grübel* Ich schrieb, dass mir Richard sehr proustmößig vorkommt mit seiner Suche nach Glück und seiner Hilflosigkeit. Christian wird durch die Lektüre von Proust gerettet vor der Schicht und Proust, Joyce und Musil werden angeführt als Auslöser zur Lust am Entdecken, dem der graue Alltag entgegensteht.


ja, so wars und du hast wieder die Zusammenhänge sofort erkannt. :-) Danke.

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Fr 7. Aug 2009, 14:18

Hallo Steffi,

du hattest auch Anne erwähnt und was sie wohl beim Anwalt getan hat. Das ist mir auch ein rätselhaftes Verhalten gewesen. Richard wartet ! Ob sie tatsächlich ..... ? Um für Christian bessere Bedingungen auszuhandeln?

Jedenfalls ging durch Anne ein Ruck!
Durch das offene Gespräch mit Richard und die Verletzung an ihrer Hand ausgelöst.

Eine verletzte Hand bindete sie an Richard (sie pflegte ihn ja) und eine verletzte Hand, ihre eigene, löste die Bande, wenn sie auch zusammenbleiben und an ihrer Ehe arbeiten bzw. es doch offen bleibt. Sie ist selbständiger geworden, nicht mehr so ängstlich. Sie arbeitet mit Judith Schevola im Untergrund. Eine selbstsichere Anne begegnet uns nun. Aber es war schon heftig zu lesen, dass sie von einem Polizisten verprügelt wurde.

ich bin mit dem "Turm" durch.

Es zieht noch ungemein an zum finalen Höhepunkt. Wenn dieses
Aber dann auf einmal ... schlugen die Uhren kam, verspürte ich schon Aufregung und hatte einen leichten Kloß im Hals.

Alles war in Wandlung und Metamorphose:

Während er sich erinnerte, daß man das Öffnen der Nachtkerzenblüten beschleunigen konnte, indem man die an der Spitze einer dem Bersten nahen Knospe noch geschlossenen Kelchzipfel löste, so daß die gestauten, unter Spannung eingerollten Blütenblätter aufschnellten und die langen Kelchblätter sich in die Sprengung ergaben, ..... (Kapitel Hauptaufgabe)

und man darf auch nicht vergessen, aus welcher Geschichte heraus die DDR entstanden ist. Die Aufzeichnungen (klick) des Alten vom Berg zeigt die grausame Wahrheit.

Doch es reicht auch nicht aus, wenn man wie Barsano glaubte:

Wir haben geglaubt, daß alle Menschen im Grunde gut sind. Wenn wir ihnen genügend zu essen geben, Wohnung, Kleidung, dann müßten sie nicht mehr böse sein, es wäre nicht mehr nötig. Ein Irrtum, werch ein Illtum.

interessant diese Buchstabenverdreher ! und wie tragisch !

Das letzte Kapitel "Magnet" fand ich sehr wagnerianisch (Siegfried, Tannhäuser, Rhein...)

ja, und kein "Punkt" am Ende ;-)

Was fiel dir noch auf?

Liebe Grüße
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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon steffi » Mo 10. Aug 2009, 11:48

Hallo JMaria !

Ich bin auch fertig. Das letzte Kapitel beinhaltet nochmal ganz verschiedene Stilrichtungen, neben realitischem Stil auch wieder Menos experimentellen, intelektuellen Stil und auch das moderne Drama mit Eschschlaroque ist vorhanden. Ein Hinweis, dass sich für die Zukunft viele verschiedene, individuelle Richtungen auftun ? Dann noch das wagnerianische, romantische Element ... ein fulminantes Ende. Wobei ich mir ja immer etwas aussagekräftigere Enden wünsche ;)

Ich danke dir für den wunderbare, sehr ergiebigen und anregenden Gedankenaustausch ! Es hat mir wieder sehr viel gebracht und ich habe das Gefühl, einen weiteren Schritt in eine bestimmte Richtung getan zu haben !

Weiterhin ist die Hoffmann-Biografie von Safranski sehr interessant. Ich habe momentan ein bißchen den Eindruck, dass Tellkamp das Ende der DDR mit dem Ende der Aufklärung/Beginn der Romantik vergleicht, als Mittelpunkt ETA Hoffmann alias Meno/Christian/Richard
(3 Vornamen=3 Protagonisten - herrlich wieviel man in den Turm hineindeuten kann, nicht?)

Safranski stellt den damaligen Zeitumschwung in etwa so dar:
Königsberg (in der Zeit ETA H.s, seine Geburtsstadt) unter preußischer Herrschaft aber eine Zeitlang russisch besetzt (russenfreundlich!), dann wirtschaftlicher Abstieg, Versuch der Verbesserung (karikiert in Klein Zaches) durch viele Verordnungen u. Regeln, dadurch auch Wegfall von Bräuchen (Trachten, Singspiele usw.), die Geselligkeit verschiebt sich in die Häuser, in die Bürgerlichkeit. Förderung der Musikkultur in Form von Hausmusik.
Vielleserei, vor allem Romane, entsteht; zwischen 1750 und 1800 verdoppelt sich die Zahl der Alphabeten in Deutschland. Zugleich steigt die Zahl der veröffentlichten Romane sprunghaft. Literatur ersetzt Lebenserfahrung (Werther, Don Quijote). Philosophisch entsteht das "Ich", das Innere bestimmt die Weltanschauung, Subjektivismus, neue Ideen und Werte entstehen, "Ich-Enthusiasten" (Kant, Fichte, auch Hölderlin, Hegel, Schelling). Daneben als Gegenpol zur Aufklärung Aberglaube und Magie, Geheimbünde, Lust am Geheimnisvollen und Wunderbaren. Literatisch entsteht der Bundesroman (Geisterseher, Wilhelm Meister, William Lovell etc.), in dem ein harmloser Mensch sich im Netz einer unsichtbaren Organisation verfängt (!).
Gruss von Steffi

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Mo 10. Aug 2009, 22:08

Hallo Steffi,

stimmt, die letzten Kapitel vermischen nochmals die verschiedenen Stilrichtungen, das reinste Kaleidoskop an Stile.


steffi hat geschrieben:
....ein fulminantes Ende. Wobei ich mir ja immer etwas aussagekräftigere Enden wünsche ;)


*g* - was jedoch nicht zum Gesamtstil passen würde, wir haben es mit dem "Turm" doch mit einem recht offenen Erzählstil zu tun, er vermischt Märchen, Gedichte, Philosophie, Kurzgeschichte, Lieder und dennoch ist alles miteinander verbunden. Ein gewagtes Werk, doch das Wagnis hat sich gelohnt.



Weiterhin ist die Hoffmann-Biografie von Safranski sehr interessant. Ich habe momentan ein bißchen den Eindruck, dass Tellkamp das Ende der DDR mit dem Ende der Aufklärung/Beginn der Romantik vergleicht, als Mittelpunkt ETA Hoffmann alias Meno/Christian/Richard
(3 Vornamen=3 Protagonisten - herrlich wieviel man in den Turm hineindeuten kann, nicht?)

Safranski stellt den damaligen Zeitumschwung in etwa so dar:
Königsberg (in der Zeit ETA H.s, seine Geburtsstadt) unter preußischer Herrschaft aber eine Zeitlang russisch besetzt (russenfreundlich!), dann wirtschaftlicher Abstieg, Versuch der Verbesserung (karikiert in Klein Zaches) durch viele Verordnungen u. Regeln, dadurch auch Wegfall von Bräuchen (Trachten, Singspiele usw.), die Geselligkeit verschiebt sich in die Häuser, in die Bürgerlichkeit. Förderung der Musikkultur in Form von Hausmusik.
Vielleserei, vor allem Romane, entsteht; zwischen 1750 und 1800 verdoppelt sich die Zahl der Alphabeten in Deutschland. Zugleich steigt die Zahl der veröffentlichten Romane sprunghaft. Literatur ersetzt Lebenserfahrung (Werther, Don Quijote). Philosophisch entsteht das "Ich", das Innere bestimmt die Weltanschauung, Subjektivismus, neue Ideen und Werte entstehen, "Ich-Enthusiasten" (Kant, Fichte, auch Hölderlin, Hegel, Schelling). Daneben als Gegenpol zur Aufklärung Aberglaube und Magie, Geheimbünde, Lust am Geheimnisvollen und Wunderbaren. Literatisch entsteht der Bundesroman (Geisterseher, Wilhelm Meister, William Lovell etc.), in dem ein harmloser Mensch sich im Netz einer unsichtbaren Organisation verfängt (!).


ich bin beeindruckt. Und mich beeindruckt wieviel Raum es im "Turm" für Spekulationen gibt. Und je mehr man findet, desto schöner und größer wirkt das "Bild".

Also Safranskis ETA Hoffmann Biographie ist nun auch ein Muß für mich. ich werde mir diese noch besorgen.

Auch ich danke dir für diese wunderschöne Leserunde. Ich habe das Lesen, das Buch, das Nachforschen, unseren Austausch in großem Maße genossen!

Liebe Grüße
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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon steffi » Di 11. Aug 2009, 12:01

Hallo JMaria,

JMaria hat geschrieben:*g* - was jedoch nicht zum Gesamtstil passen würde, wir haben es mit dem "Turm" doch mit einem recht offenen Erzählstil zu tun, er vermischt Märchen, Gedichte, Philosophie, Kurzgeschichte, Lieder und dennoch ist alles miteinander verbunden. Ein gewagtes Werk, doch das Wagnis hat sich gelohnt.


Da hast du natürlich Recht, den offenen Stil hält er bis zum Ende durch ! Ich glaube, dass bei einer Zweitlektüre noch so allerhand auffällt. Auf jeden Fall ist der Turm eines meiner interessantesten Bücher.
Gruss von Steffi

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon Yorick » Fr 26. Okt 2012, 13:48

JMaria hat geschrieben:
Gast hat geschrieben:uups, lies: Meno(n) [Hölderlin/Platon/Sokrates ;-)]


Hallo zusammen,

nur kurz:

@Signalgast:
lässt du uns daran teilhaben, wenn du mehr über Meno(n) und Verbindungen zu Hölderlin/Platon/Sokrates herausfindest?

ich komme nun zu Kapitel 45 "Papierfabrik"; Steffi, Nina wie weit seid ihr?

Signalgast hat geschrieben:Ist euch übrigens der nette Verweis auf Günter (Mellis) Grass in der Papierrepublik S.640 aufgefallen der "in der falschen Uniform, unter falschem Abzeichen in ein falsches Lager geriet" und T.'s Meinung dort?


die Verbindung zu Grass wäre mir bestimmt entgangen. Nun kann ich darauf achten.

Übrigens, da ich gerade "Klein Zaches" nebenbei lese, darin kommt ein Fürst Barsanuph vor. Die Namensähnlichkeit mit Barsano fiel mir auf.

Danke für eure Gedanken zur Postmodernen!

Schöne Grüße
Maria


Grass in der DDR beim Schrifstellerverband? Ich denke, hier handelt es sich eher um Hermann Kant!
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