Coetzee, J. M.: Schande

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Coetzee, J. M.: Schande

Beitragvon Petra » Fr 2. Okt 2009, 09:38

Coetzee, J. M.
Schande

Bild

Genre: Erzählung
Seitenzahl: 285 Seiten
Verlag: Fischer Verlag
Preis: 9,95 €
ISBN: 978-3596150984
Bewertung: ****
(* schlecht / ** ganz gut / *** gut / **** spitze)

Inhalt:

Nachdem David Lurie, Professor für Kommunikationswissenschaften, durch eine Affäre mit einer Studentin in Ungnade gefallen ist, quittiert er (unbeugsam) seinen Dienst, verlässt Kapstadt und zieht für eine Weile zu seiner Tochter Lucy aufs Land um sich zu sammeln. Lucy lebt auf einer Farm in ganz einfachen Verhältnissen. Sie baut Blumen und Gemüse an, verkauft ihre Waren auf einem Wochenmarkt und führt eine kleine Hundepension. Für David ist das Leben und die einfache Arbeit dort zunächst befremdlich. Um sich zu beschäftigen, hilft er in einer Tierklinik aus.

Es scheint fast so, als würde es David gelingen sich dort neu zu erden. Doch werden Lucy und ihr Vater Opfer eines brutalen Überfalls. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Und auch David und Lucy finden sich in verschiedenen Lagern wieder. Die Sicht der beiden wie es nun, nach solch einer Tat, weitergehen soll und kann, könnte unterschiedlicher nicht sein…

Meine Meinung:

Anhand von kleinen Beispielen, kleinen Schändungen, zeigt Coetzee die Schändung eines ganzen Landes und ihrer Menschen. Früher die Schwarzen. Heute auch die Weißen.

Man ist ein bisschen sprachlos gegenüber dem Buch. Coetzee erzählt darin so viel über die Gesetze (nicht die niedergeschriebenen, sondern die wortlos herrschenden) und die Situation Südafrikas nach Abschaffung der Apartheid. Über den Zustand der Menschen dort, die all das Unrecht erfahren haben, so dass die Abschaffung der Arpartheid ein erster Schritt ist. Aber die Heilung – wann wird die einsetzen? Was ist unwiderbringlich verwüstet in der Seelenlandschaft der Menschen dort? Wie kann man neu anfangen, mit dieser Vergangenheit, die die Menschen dort im Nacken sitzen haben? Ist ein Neuanfang überhaupt möglich? Coetzee gibt dazu keine klare Antwort – wie sollte er auch. Aber er zeigt anhand seiner Figuren Möglichkeiten auf. Resignation oder aber bereit sein zu opfern, alles aufzugeben, um völlig neu anzufangen. Nicht unbedingt anderswo, sondern durchaus dort in Südafrika.

Das erstaunliche an Coetzee ist, dass er das alles auf subtile Art und Weise vermittelt. Er spricht es kaum direkt an. Er erzählt einfach die Geschichte von David und seiner Tochter Lucy. Von ihren kleinen Schändungen, die sie verhängt oder erlitten haben. Und wie von magischer Hand weiten sich diese Schändungen – besonders die von Lucy – auf ein ganzes Land aus. Coetzee macht sie übertragbar (und somit fühlbar), ohne abstrakt zu werden.

Das erfreuliche ist, dass der Autor sich dazu einer sehr sachlichen, nüchternen Sprache bedient. Er dramatisiert nicht. Er bleibt ganz nüchtern und verschärft somit den Blick auf das Wesentliche, auf das tatsächlich – ungefärbt - Vorhandene. Nichts wird durch ein zuviel an Emotionen subjektiv. Der Leser kann objektiv auf Coetzees Themen schauen. Das tut dem Thema gut – dadurch wird er ihm gerecht. Kalt ist die Erzählung dennoch nicht. Auf keiner Seite.

Auch was Coetzee David, den Kommunikationswissenschaftler, erkennen lässt, finde ich bemerkenswert: Die Wörter müssten in Afrika neu erfunden werden. Denn so viele Worte, die man durchaus im Guten meinen und verwenden kann, sind dort negativ belegt. So z. B. das Wort „Wohltäter“. Ursprünglich ist ein Wohltäter jemand Gutes. Nennt heute ein Schwarzer einen Weißen Wohltäter, so klingt das nicht mehr rein. Nicht mehr gut. Nicht mehr eindeutig. Dies ist eine von vielen Erkenntnissen Coetzees, die mich bass erstaunt und fasziniert haben.

Ein anderes Detail - der Dreh- und Angelpunkt des Buches – das mich begeistert hat, ist der Titel: Schande. Je weiter die Erzählung voranschreitet, umso gewaltiger und umfassender wird dieser Begriff. Denn er findet in ungezählten Varianten in dem Buch Anwendung. Ich habe mir die Mühe gemacht, im Duden nachzuschlagen, was Schande alles bedeutet – u. a. stehen da Begriffe wie: Beschämung, Blamage, Bloßstellung, Demütigung, Entehrung, Erniedrigung, Herabsetzung, Herabwürdigung, Kompromittierung… Und um genau diese Dinge geht es in „Schande“ – im Kleinen und im Großen. Einen so treffenden Titel, der sich erst auf den zweiten Blick in seiner gänzlichen Entfaltung erschließt, habe ich selten gesehen. Der Titel unterstreicht das gesamte Buch. (Unbedingt anschauen sollte man sich nach dem Lesen auch den Artikel zu dem Buch in Wikipedia. Dort erfährt man, dass der Titel im Original noch eine zweite Bedeutung hat, die auf das Buch ebenso anzuwenden ist wie Schande. Die zweite Bedeutung ist Ungnade, die auf David zutrifft. Somit umfasst der Originaltitel auch ihn, was in der Deutschen Übersetzung leider verloren geht.)

Überhaupt lädt dieses Buch ein, darüber Hintergrund-Informationen zu sammeln. Auch hierzu eignet sich der Artikel bei Wikipedia sehr gut.

Für dieses Buch hat J. M. Coetzee zu Recht den Booker Prize gewonnen. Und der Autor ist zu Recht Literaturnobelpreisträger.

Fazit: Dieses Buch kann man in einer Rezension nicht ausreichend erklären. Man muss dieses Buch lesen, um alles darin aufzuspüren, was Coetzee mit dem Erzählten umfasst. Eine erstaunliche Spannbreite, die nur dem Leser des Buches zuteil werden kann, nicht dem Leser dieser Rezension. Also: Bitte lesen! (Petra)

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Liebe Grüße,
Petra


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