Desai, Kiran: Erbin des verlorenen Landes

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Desai, Kiran: Erbin des verlorenen Landes

Beitragvon Petra » Fr 16. Jul 2010, 15:22

Desai, Kiran
Erbin des verlorenen Landes

Bild

Genre: Erzählung
Seitenzahl: 429
Verlag: Bvt Berliner Taschenbuch Verlag
Preis: 10,50 €
ISBN: 9783833305214
Bewertung: 10 Punkte
(von 10 möglichen Punkten)

Inhalt:

Indien, mitte der 80er Jahre: In einem vonTermiten zerfressenen Anwesen in Kalimpong, am Fuße des Himalaja, lebt der pensionierte Richter Jemubhai Patel mit seiner Hündin Mutt. Weitere Bewohner sind seine Enkelin Sai, in der eine erste Liebe zu ihrem Hauslehrer Gyan erwacht, und der Koch, der aus dem Vorhandenen das Essen bereitet, während sich sein Sohn als Küchenhilfe im fernen Amerika durchschlägt.

Als der Monsun aufzieht und Aufständische das Anwesen überfallen, gerät ihre Welt aus den Fugen. Während die nepalesichen Inder Land für sich beanspruchen, zerbricht Sais zarte Liebe. Der Richter wird oft an seine Vergangenheit erinnert, die ihn nach Großbritannien – dem Land der indischen Kolonialherren – führte, wo er immer fremd und minderwertig war. Und der Koch wünscht sich für seinen Sohn unterdessen ein besseres Leben, während dieser in Amerika mit ganz anderen Problemen - den Hindernissen eines Imigranten – zu kämpfen hat.

Meine Meinung:

Nie wird Kiran Desai zu politisch. Dieses Thema entfaltet sich von selbst, allein dadurch was die Figuren ihres Romans erleben. Denn sie bewegen sich – ganz natürlich – im Rahmen ihrer (politischen) Situation. Sai ist liebeskrank – in Mitten von politischen Unruhen. Das Leben des Richters verlief in den Spuren der Kolonialherrschaft. Der Koch will für seinen Sohn Biju ein besseres Leben, als er es in seiner sozialen Stellung in Indien hätte. So reibt sich Biju an den Problemen eines in die USA imigrierten.

Bis hinein in die kleinste Nebenfigur erlebt der Leser anhand der hier gezeichneten Leben die Auswirkungen von sozialen Unterschieden und Missständen. Und diese zeigen zwar ein Bild von Indien, gleichwohl aber auch ein globales Bild. Armut, soziale Missstände, Besetzungen und Unruhen im Kampf um Unabhängigkeit und eigenes Land, Migrantentum, Auswirkungen von Kolonialherrschaft, fremd sein, illegal sein… all das trifft nicht nur auf die indische Bevölkerung zu. Sondern auf so viele Teile der Welt.

Auch über die Menschen an sich erzählt das Buch. In ganz eigenwilligen Szenen erlebt der Leser mit, wie ein Liebender zu einem Hassenden wird. Wie sich eine Gemeinschaft in Lager aufspaltet. Wie Menschen sich selbst demütigen, um Gnade zu erfahren. Wie unerbittlich der plötzlich Überlegene seine angestaute Wut entlädt. Wie man plötzlich mitläuft… Aber auch das, was einen Menschen menschlich macht, findet seinen Platz. Z. B. da, wo ein Hund geliebt wird. Oder dort, wo ein Sohn seinem Vater, der alle Hoffnung in seinen Sohn setzt und für ihn ein besseres Leben wünscht, diese Hoffnung nicht rauben kann. So groß die Kluft zwischen der Vorstellung des Vaters und dem wirklichen Leben des Sohnes auch ist. Lieber den Vater in dem Glauben wiegen, dass die Trennung von seinem eigen Fleisch und Blut nicht vergebens ist. Sondern dem Sohn ein besseres Leben beschert.

Trotz dieses schier unglaublichen Spektrums an gewichtigen Themen (die man hier niemals ganz aufzählen könnte), wirkt das Buch nie überladen. Kiran Desai zeigt all das allein durch die Situationen auf, in denen sich ihre Figuren befinden. Und ihre Leben bewegen sich nun mal innerhalb ihrer gegebenen Grenzen. Grenzen, die sie durch ihre soziale Stellung nicht überwinden können. Oder Grenzen, die Aufständische ihnen auferlegen und die ein Land wie Indien ihnen setzt.

Kiran Desai gelingt aber noch etwas anderes hervorragend. Sie schaut nicht mit Mitleid auf ihre Figuren. Sie schildert die Lage dort aus der Sicht der Figuren selbst. Und für die sind ihre Lebensumstände ganz normal. Dadurch passiert aber etwas erstaunliches. Der Leser erlebt alles auf den ersten Blick somit durch die Augen der Figuren. Im zweiten Blick, der sich wie ein Vergrößerungsglas über den ersten legt, betrachtet der Leser die Geschehnisse jedoch aus der objektiven Sicht. Denn für den Leser sind die Lebensumstände, die dort geschildert werden, nicht normal. Umso intensiver wird das Bild, das hier gezeichnet wird. Weil die Autorin nicht um Mitleid für ihre Figuren wirbt. Sondern sie sich einfach im Rahmen ihres Lebens bewegen lässt. Der wissende Blick des Lesers übernimmt die Auswertung schon von ganz allein. Und so manches beschämt beim lesen. Denn vieles, was in dem Roman geschieht, ist beispielhaft für das, was auch um uns herum passiert. So vieles können wir beim lesen erkennen oder wiedererkennen.

Als wäre das alles nicht schon imposant genug, besticht die Autorin auch noch durch eine ganz eigenwillige und wunderschöne Sprache. In einem Satz liegt manchmal so viel Wahres und Gewichtiges. Nie erklärt die Autorin einen Umstand. Er ergibt sich von ganz allein aus ihren Sätzen, die ein ganzes Panorama entfalten. Dabei sind ihre Sätze und Beschreibungen oft eher karg. Kiran Desai hat eine ganz eigene Stimme, der ich unsagbar gern zugehört habe.

Den Booker Prize hat das Buch absolut zu Recht gewonnen. Ein Buch, das einen so schnell nicht loslässt. Die Figuren bleiben unvergessen, die Themen wirken lange nach und die Melodie der Sprache verklingt nur ganz allmählich, nachdem der Leser Kalimpong verlassen hat. (Petra)

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Liebe Grüße,
Petra


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