Lenz, Siegfried: Die Schweigeminute

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Lenz, Siegfried: Die Schweigeminute

Beitragvon Barbara » So 2. Jan 2011, 19:20

Lenz, Siegfried: "Die Schweigeminute" *****

Zum Inhalt:
Stella Petersen war zweifellos eine der beliebtesten Lehrerinnen am Lessing-Gymnasium. Ihre Lebensfreude, ihre Intelligenz und Belesenheit verschafften ihr die Anerkennung und den natürlichen Respekt des Kollegiums wie den ihrer Schüler. Und gewiss führte die Liebe zu ihrem Schüler Christian, die über das ungleiche Paar am Ende der Sommerferien hereinbrach, zu jener Verwirrung der Gefühle deren Intensität und Kraft beide überwältigt. Siegfried Lenz hat eine großartige Novelle geschrieben über die Liebe eines Gymnasiasten zu seiner Englischlehrerin, eine Geschichte über das Erwachsenwerden und das Erwachsensein, eine Geschichte, in der unbeschreibliches Glück neben tief empfundener Trauer steht.

Dieses Buch ist für mich mal wieder der klassische Beweis dafür, dass man Bücher selbst lesen muss, um sich eine objektive Meinung bilden zu können.

Zunächst kannte ich das Buch nur vom Hörn-Sagen. Es reizte mich auch bis dahin noch nicht einen Lenz zu lesen (was ich nun gar nicht mehr verstehen kann…). Eine gute Freundin, die die Bücher von Lenz kennt und auch schon gelesen hat, las das Buch und es gefiel ihr aus verschiedenen Gründen gar nicht. Sie ging sogar so weit zu sagen: „Er hätte dieses Buch besser nie geschrieben.“ Unter anderem kam dabei die Diskussion der Altherren-Liebe, die auch hier in diesem Strang anklang, wieder auf. Damit schwand meine Leselust noch mehr.

Schade, sehr schade, da mir so ein großer Lesegenuss entging, denn ich finde dieses Buch klasse!
Lenz hat mit dieser Geschichte wirklich eine sehr schöne, poetische, warmherzige und sehr gefühlvolle Novelle geschrieben. Auch die Art der Aufbereitung finde ich sehr gelungen: Der typische Erzähler nimmt eine Gedenkfeier zum Anlass, um über die Beziehung zur Toten Revue passieren zu lassen. Dabei wechselt der Erzähler zunächst zwischen Gegenwart und Vergangenheit immer hin und her. Normalerweise empfinde ich solche Wechsel als störend für den Lesefluss. Doch hier passen sie sehr gut. Man kann sich als Leser sehr gut damit identifizieren: Jeder, der schon mal auf einer Gedenkfeier oder einer Beerdigung war, kennt diese Situation: Vorne werden Trauerreden gehalten und innerlich beginnt man zunehmend eine Art „privaten Gedenkrede“ zu schreiben. Man erinnert sich, was einen mit dem Toten verbindet und was man mit ihm erlebt hat und vor allem, wer er für einen selbst war.

Und mithilfe dieser „privaten Gedenkrede“ erfahren wir vom Erzähler, wie er zur Toten steht.
Dabei offenbart uns Lenz eine Beziehung, die man platt, ins Genre „Alt liebt Jung“ ziehen könnte, aber dann würde man diesem Buch nicht gerecht werden. Ich würde sie von diesem Genre trennen. Mehr noch, ich wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, sie damit in Verbindung zu bringen: Nicht nur aus der Tatsache heraus, dass hier eine ältere Frau einen jungen Mann liebt und in dieser Novelle aus der Sicht des Jüngeren berichtet wird und nicht aus der Sicht des älteren Parts.
Die anderen Bücher, die ich aus diesem Bereich kenne: Walser, Marcquèz, Nabokov … erzählen immer aus der Sicht des Älteren. Dabei stehen eher die „fleischigen Begierden, deren Erfüllung, sowie der Wunsch sich dadurch wieder jung zu fühlen bzw. das eigene Altern für kurze Momente zu vergessen oder gar anzuhalten, im Vordergrund.

Lenz lässt hauptsächlich im Kopf und vor allem im Herzen lieben. Auch in den Momenten, in denen es zur tatsächlichen körperlichen Liebe kommt, steht diese nicht im Focus des Lesers. Mit einer sehr zarten, poetischen fast schon keuschen Sprache lässt Lenz seinen Protagonisten all das durchleben, was viele Heranwachsenden „durchmachen“, wenn sie zum ersten Mal lieben. All die Zweifel, Hoffnungen, Erwartungen, die man an das Gegenüber knüpft, von dem man nie richtig weiß, wie es zu einem steht, werden hier gewahr. Ich empfinde die Art, wie Lenz dies schreibt als äußerst authentisch. Was mich in diesem Zusammenhang besonders berührt und beeindruckt hat, war die Fähigkeit dieses Autors, der ja nun schon viele Jahre von solchen Erfahrungen entfernt lebt, diese Gefühle, Gedanken und diesen emotionalen Zwiespalt, in dem man sich als Liebender befindet, sprachlich so einzufangen und so wiederzugeben. Keine abgeklärten oder durch Erfahrungen behinderten Beschreibungen oder Seitenhiebe. Nein, er schreibt wirklich so, als würde er zum ersten Mal lieben. Und auch dies stellt für mich einen großen Unterschied zu den anderen „Altherren-Lieben“ dar.

Seit langer Zeit kann ich bei einem Buch mal wieder ALLE Zitate von berühmten Lesern, die sich auf dem Buchrücken befinden, unterschreiben.

Diesem Buch gebe ich 5 Sterne und rate jedem, der so wie ich noch keinen Zugang zu Lenz gefunden hat, mit diesem Buch zu beginnen.
"Das Lesen eines Buches ist die Zwiesprache mit der eigenen Seele!"
B.H.

Liebe Grüße
Barbara
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Barbara
 
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