Glavinic: Das Leben der Wünsche

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Glavinic: Das Leben der Wünsche

Beitragvon Barbara » So 2. Jan 2011, 19:27

Zum Buch:
Das Buch stand auf der Longlist des deutschen Buchhandels und war 2009 für den „Deutschen Buchpreis“ nominiert.

Zum Inhalt:
Jonas trifft eines Tages einen seltsamen Mann im weißen Leinenanzug, der sich neben ihn auf die Bank setzt und ihm anbietet, drei Wünsche zu erfüllen. Nach längerer Diskussion willigt Jonas ein, wenn auch nicht völlig überzeugt. Der Mann erklärt ihm: „Es geht nicht darum, was du willst, sondern darum, was du dir wünschst. Als Tipp, bevor er genauso unvermittelt verschwindet, wie er auftauchte, gibt er Jonas noch folgenden Rat: „Geben Sie Ihren Wünschen Zeit, sich zu entwickeln. Sie können sich nichts anderes Wünschen.“
Dann werden wir als Leser Zeuge eines ganz normalen Lebens, wie es sich überall irgendwo entwickeln könnte, wenn es die Wünsche nicht gäbe.

Hat jemand von Euch das Buch schon gelesen oder vor es zu lesen? Ich bin mir nicht sicher, aber gefunden habe ich jetzt keinen Strang dazu - oder habe ich ihn übersehen. :?
Bei diesem Buch habe ich ein besonderes "Verlangen" mich mit jemandem auszutauschen, denn irgendwie war ich am Ende recht durcheinander und mein erster Bauchgedanke war: "Das habe ich jetzt nicht verstanden."

Wobei ich im Grunde sehr glücklich mit dem Buch hätte sein müssen, da es ganz in meinem Sinne ist: keine gedankliche Gängelung durch den Autor, keine zu schnell vorhersehbaren Entwicklungen, keine schnell durchschaubaren Gedankengänge, sondern völlige Freiheit in der Ausgestaltung der Deutung durch mich als Leser. So liebe ich das. Dennoch ist irgendetwas, was mich daran hinderte, das Buch wegzulegen und zu sagen: klasse!
Im Gegenteil, ich war ratlos und verwirrt.

Dann begann ich das Buch und die Geschichte Revue passieren zu lassen und entdeckte, dass dies eines der Bücher ist, dass erst durch nachträgliches Nachdenken, seinen Sinn entfalten kann. Nimmt man die Geschichte als reine Geschichte, dann ist es eine recht normale, unterhaltsame Darstellung des Lebens eines Mannes zwischen zwei Frauen. Und damit es nicht zu platt wird, hat der Autor an einigen Stellen kleine mystische und übernatürliche Elemente eingeflochten.
Damit wird man dem Buch aber nicht gerecht.
Irgendetwas hielt mich am Nachdenken und dann ließ ich meiner Phantasie wirklich freien Lauf und versuchte zwischen den Zeilen, den Kapiteln und den mystischen Elementen zu lesen:
Was wenn die mystischen Elemente die Wünsche Jonas darstellen, die nie offen von Jonas ausgesprochen werden, aber eventuell vom Leser/Autor in sein Denken gelegt werden?
Was, wenn sie, da sie Zeit zur Erfüllung brauchen, sich erst sehr viel später erfüllen und daher auch nie passend zum Fortgang der Geschichte beschrieben werden können, sondern erst mit Verzögerung, sodass es dem Leser erscheint, als passe nichts mehr so richtig zusammen?
Wenn dies so ist, dann ist das Buch in gewisser Weise genial, da sich die Gedanken und Wünsche nicht automatisch ergeben und auch nicht vom Autor offen gelegt werden, sondern uns als Leser erst dann deutlich werden, wenn sie sich erfüllen. Damit erschließt sich der Protagonist nicht nur durch sein aktuelles Leben sondern auch durch seine geheimsten Wünsche. Der Charakter setzt sich wie ein psychologisches Lebenspuzzle nach und nach zusammen.
Was mir daran so gefällt, ist, dass es so auch im wirklichen Leben ist: Die geheimsten Wünsche, eben nicht nur das was wir wollen – wie der Fremde es Jonas auch erklärt – werden nie offen ausgesprochen, werden nie kommuniziert und bleiben stets in uns selbst verborgen. Selbst wenn sie sich erfüllen, geben wir sie nicht unbedingt preis.
Der zweite Bezug zur Realität, ist die Tatsache, dass sich Wünsche nicht sofort erfüllen, sondern, dass sie in der Tat Zeit brauchen, sich zu entfalten. Wenn sie sich dann erfüllen, geschieht es häufig so unverhofft, dass man es manchmal nicht bemerkt oder man es sich nicht erklären kann und sich fragt: „warum gerade jetzt?“
Glavinic stellt dies in seinem Buch sehr geschickt dar, ohne groß Aufhebens um die Erfüllung dieser Wünsche zu machen – nur erkennbar für Jonas und damit für uns.
Den dritten Realitätsbezug sehe ich schließlich darin, dass auch unser Charakter zu einem bestimmten Teil durch unsere geheimsten Wünsche geprägt ist/sein kann.

Wenn diese Einschätzung/Deutung meinerseits stimmt, dann ist auch die Schlussszene genial. Denn Jonas wird dann Opfer seines größten Wunsches: unvermittelt und unausweichlich!

Ein tolles Buch, dass sich mir erst im Nachhinein geöffnet und erschlossen hat, genau wie sich die Wünsche der Geschichte zeitversetzt erfüllen, so rundet sich das Verständnis für dieses Buch ebenso zeitversetzt ab. Auch das finde ich sehr gut und sehr gelungen – ob vom Autor beabsichtigt oder nicht!!
"Das Lesen eines Buches ist die Zwiesprache mit der eigenen Seele!"
B.H.

Liebe Grüße
Barbara
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Barbara
 
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