Thomas Franke: Das Haus der Geschichten

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Thomas Franke: Das Haus der Geschichten

Beitragvon Didonia » Mo 22. Aug 2016, 10:46

Kennt ihr die Krankheit ekklesianische Sichteintrübung und Liebesparadontose? Nein? Marvin kannte sie bisher auch nicht. Doch das sollte sich ändern. Zumindest erfuhr er, dass es solche Krankheiten gibt und was dagegen hilft. Nämlich Geschichten. Aber von vorne:

Marvin hat mal fast wieder verschlafen. Er hat einen Termin bei Frau Linder vom Arbeitsamt. Er hatte schon viele, und zu keinem ist er pünktlich gekommen. Er hatte auch schon viele Jobs, die alle nichts für ihn waren.
Das sollte sich heute ändern. Sie drückt ihm einen Zettel in die Hand, auf dem der Name einer Buchhandlung steht.

„Vermasseln Sie es nicht“, empfahl Frau Linder zum Abschied mit einer Stimme, so samtig und weich wie ein Stahlbetonpfeiler.


Nach einem Telefonat mit Rasmus-Salomo Eichdorff war Marvin tags darauf pünktlich um 15 Uhr beim Buchladen.

Ein merkwürdiges Gefühl bemächtigte sich Marvins, als er über das Kopfsteinpflaster auf das alte Geschäft zuging. Natürlich war er aufgeregt, wie immer angesichts eines bevorstehenden Vorstellungsgespräches. Aber dieses Mal spürte er noch etwas anderes, ein ungewöhnliches, aufgeregtes Kribbeln. Es war ein bisschen so, als stünde er am Anfang einer Reise.


Und dann erlebte er auch noch ein Vorstellungsgespräch, wie er sicher noch keines hatte. Rasmus-Salomo Eichdorff plauderte mit ihm über Kindheitsabenteuer und Jugendbücher. Wann hat er das letzte Mal mit einem Erwachsenen über Astrid Lindgren gesprochen? Und er wurde sich während des Gespräches wieder bewusst, wann und warum damals seine Begeisterung für Karl May nachgelassen hat.
Nach einem Kaffee und einem weiteren Gespräch über „Der Herr der Ringe“ hatte Marvin einen Arbeitsvertrag in der Tasche und soll tags darauf um 9 Uhr beginnen.

Nach einigen Tagen zeigte Eichdorff Marvin den Keller, in dem sie das Chaos beseitigen wollten, das Marvin gar nicht sehen konnte, so aufgeräumt wie alles war

„Hier…“. Der Alte winkte ihn näher und strich mit dem Finger über eine Reihe von Buchrücken. „Die ,Bekenntnisse‘ von Augustinus neben einer Bastelanleitung für Puppenstuben, ,Don Quichotte‘ eingekeilt zwischen einem Fremdwörterlexikon aus dem Jahre 1952 und dem Nibelungenlied im Urtext. Dann haben wir dort ein Buch mit einem Titel, den die Motten sich einverleibt haben, und zwei Werke, die irgendwie portugiesisch aussehen. Und hier, direkt neben Ihnen: Stevensons ,Schatzinsel‘ und die Memoiren von Gerhard Schröder – zwei Bücher, die ganz gewiss nicht in dieselbe Kategorie gehören.“ Er stemmte die Fäuste in die Hüften und knurrte: „Und Sie können das Chaos nicht sehen?“


Beim Ordnen der Bücher stieß Marvin auf eine Tür und erfuhr, dass sich dahinter eine Apotheke befindet. Eine narratorische Apotheke. Die Medizin: Geschichten für Menschen mit den verschiedensten Problemen.

Was das für Menschen sind und welche Geschichten ihnen helfen und ob vielleicht auch Marvin von ihnen profitiert, lest selbst.
Lesende Grüße, Anne

Denn ich, ohne Bücher, bin nicht ich. - Christa Wolf
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