Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon steffi » Mi 4. Mai 2011, 09:23

Ich habe das Buch auch gestern beendet.

Petra hat geschrieben:Im tiefsten Innern haben es gerade noch diejenigen gemerkt, die noch nicht gänzlich überwältigt waren von der Rolle, die man ihnen übertragen hat, und in die sie nur allzu gern geschlüpft sind.

Ja, das ist erschreckend - wie leicht die Manipulation doch gewesen ist. Auch, wie leicht sich die Menschen beeindrucken lassen und wenig kritisch hinterfragen.

Petra hat geschrieben: Mich würde interessieren, was Hitler davon einkalkuliert hat. Das ist so simpel und doch so raffiniert.


Ich könnte mir vorstellen, dass sich das immer weiter so ergeben hat, immer mehr Machtbesessene ohne Mitgefühl haben sich da getroffen und irgendwas in den Menschen losgetreten. Es gibt doch den amerikanischen Versuch "The third wave", da funktionierte es ja ebenso. http://de.wikipedia.org/wiki/The_Third_Wave
Dieser Totalitarismus fing ja schon in den 30er Jahren mit dem italienischen Faschismus an.

Noch mal zu den Gnadengesuchen. Die Eltern der Elise Hampel haben wohl wirklich versucht, Gnade für ihre Tochter zu erwirken. Auch die Eltern von Anna Quangel richten sich – natürlich vergeblich – an den Führer, an den sie so fest glauben. Das sagt auch viel aus. Es sagt, dass viele Menschen WIRKLICH an ihn geglaubt haben.


Er wird "Gott" gleichgesetzt und das zeigt auch dann später das Kapitel 70 (bzw. 69) mit dem Priester, dass man auch der Religion als Institution nicht glauben darf. Fallada reduziert alles auf das Innere des Menschen, auf sein Gewissen, das im Grunde gut sei. Das ethische Gewissen soll sich gegen die Gesellschaft durchsetzten können.

Und in Kapitel 71 (bzw. 70) ist es dann also wirklich soweit. Otto geht seinen letzten Weg. Ein bisschen Mensch steckt noch in dem Arzt. Otto und den Leser freut’s. Noch ein Mensch, ein Wesen, das die Bezeichnung verdient hat.

Neben dem Tod Ottos fand ich auch die verzweifelte Suche nach der übriggebliebenen Menschlichkeit besonders bewegend. Allerdings verlässt Fallada hier und in den zwei folgenden Kapiteln seine Objektivität. Als Autor gönnt er nun seinen Personen und seiner Geschichte einen positiven Aspekt, eine Zukunft. Wie sich auch die Menschen nach dem Krieg verzweifelt eine positive Zukunft wünschten.

Ich bin nicht so einverstanden mit diesem Ende, nicht mit Annas Tod und nicht mit Kunos neuem Leben - verständlich, dass das Buch so endet, mit dem unabwendbaren Blick nach vorne, aber es rundet die Geschichte für mich zu versöhnlich, vielleicht für mich zu unrealistisch ab. Wie gesagt, ich verstehe die Intention und auch den Wunsch, dass alles gut werden kann. Aber das verstellt auch, dass man eben immer auf der Hut sein soll, auch in nicht so dramatischen Zeiten sich seine Kritik und die Besinnung auf sein ethischen Gewissen erhalten muss.
Gruss von Steffi

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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon JMaria » Mi 4. Mai 2011, 14:34

Hallo zusammen,

ich nähere mich dem Ende. eine erschütternde Szene folgt der anderen; der Tod von Traudel !

automatisch denkt man ebenfalls .... sie hat es hinter sich und muß nicht mehr leiden... aber ist das auch ein Gedanke, der mich innerlich aufbringt.

Soviel Güte in diesem Pfarrer; auch ihm blieb erspart durch den Henker zu Tode zu kommen, dennoch auch kein einfacher Tod für ihn. Alles ist schwer und düster.

noch etwas anderes:
bei mir im Kapitel 33 "Trudel Hergesell" (ungefähr zweite Seite des Kapitels) kommt die Abkürzung Pgs vor. Heißt das Parteigenossen?

Grüße von
Maria
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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon Petra » Mi 4. Mai 2011, 15:06

Hallo zusammen,

ja, das ist richtig. Eine erschütternde Szene reiht sich an die andere. Es ist alles trost- und hoffnungslos. Trudels Tod hatte ich ja (vielleicht habt Ihr die Postings zu den Kapiteln schon nachgelesen) auch als Erleichterung empfunden. Aber wenn einem der Tod schon für jemanden als Erlösung erscheint, dann weiß man erst recht, wie unmenschlich dieses Regime war, das es einem besser erscheint tot als lebendig zu sein. In der Zeit haben ja sehr viele Menschen Selbstmord begangen. Das wird vorstellbarer, wenn man diesen Roman liest.

Richtig Maria, Pgs heißt Parteigenossen. Bei uns steht es als Erklärung hinten drin (Napola übrigens auch, wie ich inzwischen gesehen habe. Schön wenn Begriff im Anhang erklärt werden).

Übriggebliebene Menschlichkeit blitzte zum Schluss hin auf, richtig Steffi. Im guten Pastor, aber auch in dem Arzt, der Otto für die Hinrichtung vorbereiten sollte. Dass man danach verzweifelt Ausschau hält, wenn um einen herum nur noch groteske Gestalten ihr Unwesen treiben, kann ich gut verstehen. Mir hat gefallen, dass Fallada das untergebracht hat.

Deine leichte Unzufriedenheit mit dem Ende kann ich verstehen, Steffi. Ich teile sie zwar nur bedingt, aber ich weiß was Du meinst. Mich störte ganz leicht, dass er Anna verschont hat. Mir wäre da lieber, er wäre da dichter bei den Hampels geblieben, die beide ja durchs Fallbeil starben. Übrigens zur gleichen Zeit (ob sie sich noch gesehen haben, weiß ich aber noch nicht. Wird sicher in Manfred Kuhnkes Buch stehen). Ein Teil des Gefängnisses wurde ja später durch einen Bombenangriff zerstört. Dass Fallada es für sich genutzt hat, und Anna darin hat sterben lassen, hätte für mich auch nicht sein müssen. Hingegen das letzte Kapitel mit dem Kuno fand ich gut. Denn das Leben geht (und ging) weiter. Und der Mensch schaut nach vorne. Das hintenan zu stellen, fand ich nicht verkehrt. Zumal eine Wachsamkeit ja bleibt, da Kuno weiterhin vor seinem Vater auf der Hut sein muss. Und auch auf der Hut ist (er verlässt die erste Zeit nach der Begegnung den Hof ja nicht). Doch dann holt er seine gute Saat ein. Er wendet sich wieder dem Leben, dem Wachstum zu.

Aber ich verstehe Deinen Standpunkt auch. Und es wäre auf eine andere Art auch gut gewesen, wenn mit Annas Tod der Schlusspunkt gesetzt worden wäre. Dass und wie der Krieg ausgegangen ist, wissen wir ja auch so. Und dass der Mensch doch wieder nach vorne schaute. Aber ich glaube Fallada hat seine Figuren wirklich sehr ungern gequält. Ihm tat das vielleicht mehr leid und weh als uns, obwohl es uns schon so mitnimmt. Insofern: Du hast nicht ganz Unrecht.
Liebe Grüße,
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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon JMaria » Mo 9. Mai 2011, 13:14

Hallo zusammen,

vor ein paar Tagen habe ich das Buch beendet. Die letzten Kapitel waren mir zuviel. Die überspitzten, ins grotesk gehenden Gerichtsszenen haben Recht und Gerechtigkeit ad absurdum gemacht, was sicher so gewollt war.

Doch ich konnte kaum mehr etwas aufnehmen. Mir blieb im Grunde nur ein Verstummen. Das Buch hat mich überfordert.

Dennoch ein äußerst wichtiges Buch der Nachkriegszeit und auch für künftige Generationen !

Fallada hat uns ein Zeitdokument in Romanform präsentiert, das unglaublich beeindruckt.

Dass das Buch sozusagen mit einem Bibelzitat endet (Was man sät, wird man ernten) in Bezug auf Kuno, fand ich tröstlich.

Liebe Grüße
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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon Fevvers » Mi 7. Sep 2011, 14:39

Hallo zusammen

Ich besitze ebenfalls die neue Aufbau-Ausgabe und habe inzwischen bis Kapitel 30 gelesen (und auch Eure Beiträge bis dahin überflogen) und werde jetzt erst einmal zum Anhang und zum Nachwort vorblättern. Das mache ich normalerweise nicht, aber hier erscheint es mir angemessen, und der Hintergrund dieses Romans ist ja kein Geheimnis, sondern wurde ausführlich in den vielen Rezensionen erwähnt.

Hier meine ersten Eindrücke:

Das Vorwort habe ich gar nicht als wirklich entschuldigend empfunden, sondern zwischen den Zeilen und in seiner demonstrativen zürückhaltenden Formulierung als zynisch, wenn auch auf eine leise Art. Um so wirkungsvoller wird die Vorbemerkung! Da schreibt jemand zornig (vielleicht auch resigniert, verzweifelt über das Geschehen?) gegen das Vergessen an, gegen die gleich nach dem 2. Weltkrieg einsetzenden Verdrängungsmechanismen der ehemaligen "Volksgenossen". Dieser Roman, so viel steht von Anfang an fest, hat eine klare Botschaft. Der Hinweis auf die "Neue Sachlichkeit" ist absolut zutreffend. In der Schilderung des kleinbürgerlichen Berliner Milieus und der mehr oder weniger gescheiterten Existenzen erinnert mich Fallada aber auch sehr an die expressionistische Literatur der späten Weimarer Republik, etwa Döblin.

Insofern wundert es nicht, dass Fallada gleich zur Sache kommt. Er macht es sich nicht zur Aufgabe zu analysieren, wie der Faschismus entstanden ist und wie so viele zu Tätern und Mitläufern wurden. Das übernehmen spätere Literaten und Historiker und arbeiten sich daran ab. Sondern er schildert, in medias res und seine Leser nicht schonend, zu welchen Brutalitäten der NS-Staat, seine Schergen und auch die Zivilbevölkerung fähig waren. Besonders erschütternd tut er dies in dem Kapitel, in dem Frau Rosenthal zu Tode kommt. Das geht leider zu Lasten einer psychologischen Feinzeichnung der Romanfiguren.

Bei Quangels ist sie noch vorhanden, man kann nachvollziehen, wie die Eheleute, die bis dahin auf eine unauffällige Lebensweise so viel Wert legten und als eher harmlose Mitläufer einzuschätzen sind, sich durch den Tod des Sohnes in Gedanken und in Taten zu Widerstandskämpfern im Kleinen entwickeln. Sie rühren durch ihre mühsame Kartenschreiberei; in ihrer naiven, aber aufrechten Art zu glauben, dass sich diese Mühe und die Gefahr, in die sie sich und andere bringen, lohnen werden, weil sich die Botschaften durch die Weitergabe der Finder sicherlich nichts als weiter verbreiten können. (Was sich als Irrglaube herausstellen wird. Fast alle werden brav bei der Gestapo abgegeben.)

Eine etwas breiter angelegte und somit für mich nachvollziehbarere Charakterzeichnung fehlt mir aber z.B. bei der Briefträgerin Kluge: Ihre Abkehr von Partei und SS-Sohn geschieht mal so eben ratzfatz mit wenigen Zeilen. Ihr Nichtsnutz von Ehemann erzählt ihr irgendwas und schon ist es geschehen. Die Charaktere gleiten so manchmal ins Stereotype ab, Gut und Böse sind eindeutig zu identifizieren, wo es doch diese Trennschärfe oft gar nicht gibt.

Nichtsdestrotz bisher eine lohnende, zum Denken anregende Lektüre! Und durch das schonungslose Aufgreifen des Themas ein großer Wurf.

Was mir auch von Anfang an aufgefallen ist, ist, mit welcher Selbstverständlichkeit die Romanfiguren in ihren Dialogen über die Konzentrationslager sprechen. Vielleicht wissen sie nichts von industrieller Massenvernichtung im Osten, aber sie wissen sehr wohl, dass man die Inhaftierung kaum überleben wird. Man vergleiche dazu die "Davon haben wir nichts gewusst"-Schutzbehauptungen im Generationenkonflikt der späten 1960er Jahre.

Ich denke, nach der Fallada-Lektüre lese ich ich evtl. gleich im Anschluss "Gerron" von Charles Lewinsky, weil es thematisch so gut passt.
Liebe Grüße, Fevvers

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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon Petra » Mi 7. Sep 2011, 16:12

Hallo Fevvers,

ich habe Deinen Bericht sehr genossen, und hoffe auf weiteren, wenn Du weiter voran gekommen bist. Besonders Dein Resümee wird für mich interessant sein.

Was die fehlende psychologische Tiefe der Figuren angeht, hast Du recht. Die fehlt den meisten Figuren. Maria (oder war es jemand anders?) hatte im Verlauf der Leserunde mal angemerkt, dass die einzelnen Figuren stellvertretend für eine Gruppe da stehen. So z. B. Frau Rosenthal. Sie ist die einzige Jüdin in dem Buch. Und steht wahrscheinlich wirklich stellvertretend für alle Juden. Diesen Gedanken fand ich sehr interessant. Und er würde auch erklären, warum Fallada die Psyche nicht weiter beleuchtet. Charaktereigenheiten oder Motive hätten es wieder erschwert, in der jeweiligen Figur einen Stellvertreter für die jeweilige Gruppe zu sehen. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich ausdrücke. Aber dieser Gedanke kam mir zu Deiner – korrekten – Feststellung, dass Fallada psychologisch nicht in die Tiefe geht.

Steffi kam beim Lesen der Vergleich mit Zola, da auch Falladas Schilderung des Berliner Kleinbürger-Milieus so authentisch wirkt, wie Zolas Schilderungen der von ihm dargestellten Milieus in Paris. Diesen Vergleich fand ich interessant. Aber auch dass es Dich an die expressionistische Literatur der späten Weimarer Republik denken lässt, finde ich sehr nachvollziebhar.

Ich denke in jedem Fall auch, dass Fallada nicht hinterfragen wollte, wie es dazu kam, dass viele zu Mitläufern wurden, andere zu Widerständlern. Sondern er wollte einfach aufzeigen, wie es war. Wie grausam. Und was mit denen passierte, die Widerstand (auch nur in der kleinsten Form) leisteten. Ich kann verstehen, dass der Roman im Ausland (auch heute noch) auf so großes Interesse stößt. Denn es erklärt an vielen Stellen auch die Zwangsläufigkeiten. Da war oft keine Absicht im Spiel, sondern eine riesengroße Maschinerie, der man sich im Grunde nicht widersetzen konnte. Und hat man es versucht, bedeutete das den Folter, Qual und Tod. Für sich selbst, und schlimmer noch: für die Familie. Es zeigt auch, welchen Mut es erforderte, Widerstand zu leisten. Seine Moral und seine Werte nicht zu verraten.

Eine widersprüchliche Figur fällt mir allerdings ein: Der Scharfrichter. Einerseits hat er so viele Menschen gerichtet, andererseits lässt er die zu Unrecht verfolgte Frau Rosenthal bei ihm Unterschlupf nehmen. Kein guter, aber auch kein böser Mensch. Aber einer mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn.

Schön hast Du geschrieben, wie da jemand gegen das (so früh einsetzende) Vergessen anschrieb!

Und Deine Gedanken zum Vorwort kann ich so absolut nachvollziehen. Ja, da liegt ein gewisser Zynismus drin. Das hast Du schön beobachtet.

Das Nachwort habe ich auch ausnahmsweise zuerst gelesen. Ich habe es in dem Fall nicht bereut. Kann ich empfehlen. Es gibt über manches Aufschluss, was während des Lesens vielleicht noch wertvoller ist, als nach der Lektüre.

Dass Du „Gerron“ eventuell hinterher lesen möchtest, finde ich einen guten Gedanken. Das Buch interessiert mich auch ganz außerordentlich. Falls, teile bitte Deine Gedanken dazu mit uns. Es interessiert mich sehr, wie Du den Roman aufnimmst.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon steffi » Do 8. Sep 2011, 09:03

Hallo fevvers,

schön, deine Gedanken über Fallada zu lesen.

Es stimmt, die Nebenfiguren sind oft eindimensional. Ich denke aber auch, dass das eine direkte Fokussierung auf Falladas eigentliches Anliegen darstellt, nämlich die Quangels und deren Widerstand. Vielleicht wollte man damals auch gar nicht soviel wissen von seinen Nachbarn und Bekannten, auch nicht von der Familie. Denn es hätte sein können, dass man plötzlich in eine Zwangslage geraten wäre, ob man diese nun anzeigt oder nicht. So lebt man nebeneinander her ohne Recht zu wissen, was die anderen denken. Auch das ist ein Ausdruck dieses Regimes.

Ich bin schon gespannt, was du weiter berichtest.

Ich danke dir außerdem für deine Nennung von Döblin. Von ihm möchte ich auch gerne in nächster Zeit etwas lesen, es war aber bei mir wieder etwas in den Hintergrund gerückt. Jetzt ist er wieder präsent !
Gruss von Steffi

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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon Fevvers » Mo 12. Sep 2011, 22:23

Hallo zusammen

Ich bin nun durch mit "Jeder stirbt für sich allein" und ich kann mich Euch nur anschließen: Man beendet die Lektüre mit einem Kloß im Hals oder auch mit Tränen in den Augen. Es war eine intensive, zuweilen schmerzliche Lektüre. Besonders mitgenommen hat mich das Schicksal der Hergesells.

Hinzu kamen persönliche Erinnerungen an frühere Begegnungen mit ehemaligen KZ-Häftlingen, die wieder sehr präsent waren. (U.a. mit Frauen aus dem KZ-Ravensbrück, in dem im Buch die Schwester Baldurs wütet.) Oder auch an einen Besuch im ehemaligen Gestapo-Gefängnis in Berlin: Topographie des Terrors

Für mich liegt der große Wert dieses Romans in der Unmittelbarkeit seiner Entstehung. Geschrieben von jemandem, der die Zeit selbst miterlebt hat und nichts beschönigt.

Eine Durststrecke im Erzählfluss ware für mich im zweiten Abschnitt die Geschichte Enno Kluge-Hete-Barkhausen-Escherich. Da habe ich nur mit Mühe durchgehalten. Die letzten beiden Abschnitte (Verhaftung, Prozess, Hinrichtung) habe ich dagegen wie im Rausch fast in einem Stück gelesen. Das Nachwort war für mich informativ, aber historisch zu wenig umfassend. Ich hätte doch gern gewusst, inwieweit man die bedeutsamen Streichungen (Kap. 17) der Erstveröffentlichung unter dem Aspekt der politischen Entwicklung von SBZ/DDR und dem damit verbundenen Identitäts stiftenden, offiziell proklamierten Antifaschismus sehen muss. Johannes R. Becher, der das Romanthema vorgeschlagen hat, ist schließlich eine bedeutsame politische Größe jener Zeit.

Die von Maria und Steffi geäußerte These, einige der Romanfiguren seien Stellvertreter bzw. es handele sich um eine Typologie, leuchtet mir ein. Ich bedaure jedoch nach wie vor, dass diese oft an der Oberfläche bleiben. Wir haben da z.B. den Vertreter des humanistisch gebildeten Deutschen, der in der deutschen Kultur aufgeht (Dirigent Reichardt); den mitlaufenden Künstler (Schauspieler Harteisen); die KZ-Aufseherin (Baldurs Schwester); die verfolgte Jüdin (Frau Rosenthal); den aufopferungsvollen Pfarrer, der es ernst meint, mit der Nächstenliebe (Pastor Lorenz); Euthanasie Opfer (Vater Persicke, Heffke); Zeugen Jehovas (Ehepaar Heffkem, wird nur angedeutet) usw.

Besonders gut gelungen fand ich, wie Fallada die Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens beschreibt. Wem kann man überhaupt noch trauen? Unter Umständen noch nicht mal der Zellengenossin im Gestapo-Gefängnis. Und anhand der Entwicklung der Familie Persicke wird beispielhaft aufgezeigt, wie nationalsozialistisches Gedankengut durch entsprechende Erziehung selbst intime familiäre Strukturen zersetzt.

Etwas bedenklich finde ich -aus heutiger, rückblickender Perspektive - die Schilderung der überzeugten Nazis ausschließlich als Schläger und Sadisten der brutalsten Art. Homo hominem lupus est - die Grausamkeiten, zu denen Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus fähig waren, sind nahezu unvorstellbar. Aber die reinen Schreibtischtäter waren nicht weniger schlimm. Vielleicht war das in der unmittlbaren Nachkriegszeit noch nicht so offensichtlich. Immerhin zeichnet es sich in der Schilderung der Vorgänge vor Gericht ab. Der Staatsanwalt sowie der Verteidiger, der eigentlich keiner ist, legen ja auch nicht selbst Hand an, werden aber ohne zweifel schuldig.
Liebe Grüße, Fevvers

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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon JMaria » Mi 14. Sep 2011, 09:16

Hallo Fevvers,

vielen Dank für dein Resümee. Ich habs mit Interesse verfolgt und es hat mir wieder nahe gebracht, was mich im Innersten erschütterte, aber du hast auch nochmals aufgezeigt und begründet, wo die Schwächen im Roman lagen.
Schöne Grüße, Maria
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Re: Leserunde: Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein

Beitragvon steffi » Do 15. Sep 2011, 10:00

Hallo Fevvers,

auch ich habe deine Zusammenfassung mit großem Interesse gelesen. Gerade auch dein Blick auf die Kürzungen - es wäre wirklich spannend, zu wissen, warum diese erfolgt sind.

Zur Darstellung der überzeugten Nazis: ich denke, dass sich Fallada damit auch versuchte abzugrenzen. Er selbst war ja während des Krieges lange Zeit in die Nähe der Nazis gekommen, weil er sich nicht entschliessen konnte, auszureisen. So musste er ja viele Kompromisse schliessen und lebte eigentlich auch in einer Zerrissenheit und war in gewisser Weise auch ein Mitläufer. Der Widerstand von innen war eben viel schwieriger als der Widerstand von außen. Mit der Darstellung konnte er noch einmal deutlich machen, dass sie "wahren" Nazis die schlimmen waren und nicht die Mitläufer und sich somit auch vor sich selbst etwas reinwaschen, gleichzeitig war es sicher auch ein Stückweit Propaganda für den neuen Staat, in dem ja alles besser werden sollte.

Auch hier wäre eine Betrachtung im Nachwort gut gewesen.
Gruss von Steffi

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