Hallo zusammen,
atemlos habe ich
„Das kalte Blut“ zu Ende gelesen. Ich trenne mich nur ungern von den Figuren, haben sie mich doch durch eine lange Zeit begleitet auf den 1200 Seiten. Ich werde mich gewiss noch lange an sie erinnern. Und an diese unglaublichen Ereignisse, die sie in dem Roman durchlebt haben. Umso unglaublicher, weil all das Unglaubliche darin Tatsachen sind. Nicht das Leben von Koja, Hub und Ev, die sind frei erfunden. Nicht aber die Ereignisse, die ihr Leben streifen (verwüsten, das trifft es eher!), die sind traurige Wahrheit.
Sind einem die vielen historischen Einzelheiten auch unterschwellig bewusst (man liest hier einen Artikel, sieht dort eine Dokumentation), so erfassen sie einen beim Lesen des Romans in ihrer ganzen gesamten Wucht. Eine Wucht die sich aus den Zusammenhängen dieser historischen Einzelteile zusammenbraut, und einen schier umhaut.
Besonders nun auch der vierte und letzte Teil
Schwarzrotgold, der sich mit der Zeit der Gründung der BRD auseinandersetzt, raubt jede Illusion. Das Wegschauen hört nicht auf, die Lügen gehen weiter – auf nahezu allen Ebenen! Und an Kojas Beispiel gelingt es zu verstehen, warum selbst die, die es womöglich erkannt haben, es haben geschehen lassen. Die eigene Haut will geschützt sein. Wer Koja begleitet hat, versteht das umso mehr.
Das dem Buch vorangestellte Zitat („Es gibt kein Geheimnis, das die Zeit nicht enthüllt“) von Jean Racine bewahrheitet sich in vollem Umfang. Sowohl was die dreckigen Lügen und Vertuschungen der Regierung und der Machtinhaber (alter wie neuer – und wie das Buch zeigt, ist alt und neu oft auch gar nicht zu trennen) angeht, als auch die Lügen und Täuschungen in die sich Koja verstrickt.
Parallel habe ich vieles nachgeschlagen. Z. B. einen
Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1969, den Chris Kraus in seinem Roman sogar etwas später erwähnt, in dem es um die Ungeheuerlichkeit der Gesetzesänderung geht, die die Verurteilung der meisten (Mit-)Täter unmöglich machte. Doch so anschaulich, wie es in Chris Kraus‘ Roman erzählt wird, kann ein sachlicher Artikel es nicht schildern.
Neben der Fülle (so prall!) der historischen Ereignisse und Hintergründe (aus 80 Jahren deutscher/europäischer Geschichte), die hier offengelegt werden, hat mir die ausgesprochen unterhaltsame und intelligente Art gefallen, in der sie dem Leser offenbart wird.
Und noch etwas hat mir sehr imponiert: Chris Kraus spielt gern mit seinen Figuren, lässt sie manchmal ein absurdes Verhalten an den Tag legen. Man erkennt darin eine schelmische Überspitztheit. Diese macht jedoch noch deutlicher, wie wahrhaft absurd die realen Ereignisse sind, von denen hier berichtet wird. Die Machthaber (zu allen Zeiten) machen was sie wollen, und geben sich nicht mal große Mühe dabei. Täuschungen wie in billigen Zaubertricks. Dass sie aufgedeckt werden könnten ist Nebensache, solange die verfolgten Ziele erreicht werden. Dagegen ist alles andere, was Chris Kraus in seinem Roman hinzu fabuliert, nahezu glaubhaft! Und unterstreicht all die wirklich geschehenen Ungeheuerlichkeiten nur noch deutlicher.
Tolles Buch!
Nun habe ich
"Warten" von
Ha Jin begonnen. Ein Buch, das ich schon so lange lesen wollte, es interessiert mich stark. Und ich liebe das
Cover!
@Yvonne: Deinen Bericht habe ich gerne gelesen, Yvonne! Und Du hast mich gleich dazu verleitet, mal einen Blick ins Buch bei Amazon zu werfen. Besonders die angehängte Bücherliste interessiert mich, ich hatte Glück, sie ist in der Leseprobe enthalten.
Hast Du Dich schon für einen neuen Lesestoff entschieden?
@Maria: Das klingt wirklich seltsam und anziehend zugleich, Maria. Vermerke ich mir mal zum lesen, aber für den Winter.