Hallo zusammen,
“Doktor Shiwago“ habe ich beendet. Abschließend kann ich sagen, ein sehr bereichernder, aber nicht immer leicht zu lesender Roman, wegen seiner Fülle an politischen Verwicklungen, und den zahlreichen Figuren und Namen. Aber die Mühe lohnt!
Boris Pasternak vermittelt ein eindrucksvolles Bild über diese unruhige Zeit. Was für vergeudete Lebens- Und Liebesmühen? Und was für Mühen! Kein richtiges Leben für die Menschen. Überhaupt schien kein Platz zu sein fürs Menschsein. Alles hatte sich in Formen zu pressen, mal in diese, mal in jene; je nachdem wer gerade die Macht ergriffen hatte.
Juri Shiwago findet im Roman mehrmals einen treffenden Vergleich aus der Natur: Mimikry, wer sich anpasst, überlebt. Dort in den Zeiten musste man sich unentwegt anpassen. An diese Gruppierung, dann an die Gegengruppierung, an deren Untergruppierungen. Welch erzwungene Zustimmung. Wie unwahr, was die Menschen sagten. Denn sie mussten es ja sagen. Heute Dies und morgen Das. Anecken war vorprogrammiert.
Der Roman ist unsentimental erzählt. Obwohl man Lara, Shiwago, auch Tonja und Pawluscha ihre großen Gefühle glaubt. Doch sie bekamen nie Raum. Im Leben kaum, und im Roman ebenso wenig, was den Roman umso authentischer wirken lässt. Boris Pasternak gibt ihrer Geschichte im Roman genau den Platz, den das Leben ihnen lässt: flüchtige Momente und Wochen, die sie sich stehlen, um dann wieder an den ihnen zugedachten grausamen Platz im Leben zurückgespült (von den ideologischen Wellen, die alles mit sich reißen) zu werden. Sie werden nicht dem Leben, sondern dem Überleben (oder auch Sterben) zugeführt. Unerbittlich.
Lara sagt selbst, das ihr kurzes Zusammenleben kein wirkliches Leben ist, sondern ein Puppenspiel, ein Theaterstück. (Nicht mal ihr eigenes Haus ist die Bühne, sondern ein fremdes Haus). Wir recht sie hat.
Ein beeindruckendes Buch, nicht immer einfach zu lesen, wegen der permanent dem Volk, und damit den Figuren und dem Leser aufgedrückten politischen Themen, die ein wirkliches Leben und Lieben zur Nebensache, ja, zum Großteil unmöglich machen. Das an unpolitischen Menschen (u. a. Shiwago und Lara) aufgezeigt zu bekommen, macht diesen Aspekt überdeutlich.
Boris Pasternak bemüht den Zufall auffällig oft. Das geschieht nicht aus Hilflosigkeit, sondern in einer wohlüberdachten Absicht, die noch einen eindrücklichen Nebeneffekt hat: das Schicksalhafte des Romans bekommt dadurch Ausdruckskraft. Betrachtet man Boris Pasternaks Leben, so findet man viele Parallelen – auch besonders in der Liebesgeschichte zwischen Shiwago und Lara (Pasternak hat sich bei der Figur der Lara an seiner Geliebten Olga orientiert). Auch darin flackert Schicksalhaftes (und eine Unausweichlichkeit) auf.
Aufgrund der Tatsache, dass der Roman so unsentimental erzählt wird, erwischte mich zum Schluss hin die spürbare Unruhe und Verzweiflung, die der noch unklaren aber unausweichlichen endgültigen Trennung Laras und Juris vorausging, umso stärker. Übertrug sich auf mich, war schwer auszuhalten. Ebenso Shiwagos an die Trennung anschließende tiefe untröstliche Verzweiflung.
Erfreulich, dass die Gedichte, die Shiwago in dieser Zeit aufschrieb, im Anhang (nachgedichtet von Richard Pietraß) abgedruckt sind. Und so auch einen Blick auf den Dichter Boris Pasternak geben. So richtig ansprechen konnten mich die Gedichte zwar nicht (was gewiss auch der Unmöglichkeit geschuldet ist, die sprachlichen Bilder 1:1 in eine andere Sprach zu übertragen, ohne die Melodie der Gedichte zu verändern), aber hochinteressant waren sie im Kontext des Romans, da sie viele Themen des Buches erneut aufgreifen. Und so können sie auch auf eigene Art berühren.
Das Nachwort von Igor P. Smirnov und Johanna Renate Döring-Smirnov zum „Gesamtkunstwerk Doktor Shiwago“ war interessant und aufschlussreich. Obwohl ich in vielem nur wenig folgen konnte, bekam ich einen guten Einblick in die Entstehungsgeschichte, und über die Einflüsse, die hineingeflossen sind. Ein schier unfassbarer Reichtum an Einflüssen! Der anschließende Umriss (Zeittafel im Anhang) von Boris Pasternaks Leben unterstreicht die aufgespürten Einflüsse, sehr interessant!
Ich las die Neuübersetzung von Thomas Reschke, die damals freudig aufgenommen wurde, und von der es heißt, dass sie näher am Original wäre, als die Übersetzung von Reinhold von Walter. Doch liest man auch einige Kritik über die Neuübersetzung, die lebloser sein soll. Die Übersetzung von Reinhold von Walter hingegen soll poetischer sein. Was mich jedoch tatsächlich irritiert: In den Anmerkungen im Anhang meiner Ausgabe (also der Neuübersetzung) weisen Renata von Maydell und Michail Bezrodnyj auch auf vorhandene Fehler in der Übersetzung hin. Und davon gibt es einige. Ungenauigkeiten (teils den Sinn verändernd). Einigen (nicht allen kann das als Entschuldigung dienen) liegt Unwissen Zugrunde. Pasternak hat so vieles in den Text gewebt, das viel Sachkunde erforderlich ist, um jede Anspielung zu erkennen und zu deuten, und dem Sinn entsprechend zu übersetzen. Aber auch offenkundige Unrichtigkeiten wurden hier angemerkt.
Zu den Unrichtigkeiten zählt z. B. diese Stelle: „Drunten vor dem Fenster im Hof war dem Geruch der herrlichen Nacht ein Duft von frischem Heu beigemengt, aromatisch wie Tee.“ Thomas Reschke hat hier das Wort
Duftviole (eine Pflanze!) mit
Geruch der herrlichen Nacht übersetzt.
Oder z. B. ein Zeitangabe „gegen zehn“ übersetzt er mit „gegen neun“. Solche Fehler in Zeitangaben finden sich häufig.
Zu den Ungenauigkeiten zählt z. B.: „heißes Wasser mit Milch“, während es im Original „mit Milch geweißtes heißes Wasser“ heißt. Ein kleiner aber feiner Unterschied, denn die Menge der Milch, die dem heißen Wasser zugegeben wird, deutet auf die ärmlichen Lebensumstände hin.
Oder er übersetzt
Polotok mit
Kleid, im Original
Kopftuch, und insofern wichtig, weil es die Ursache eines Missverständnisse ist, weil Tonja das Wort wegen des ähnlichen Klangs mit einem anderen Wort verwechselt, nämlich das Wort
polotok (= hier: Hälfte eines zubereiteten Tieres) und
platok (=Kopftuch).
Dennoch überwiegt bei mir die Dankbarkeit, dass solche Werke neuübersetzt werden. Sonja Margolinas sagt es in einem
Arikel in der ZEIT über diese Neuübersetzung so treffend: „Eine neue Übersetzung ist nicht nur Anlaß, alte Fehler zu redigieren und dadurch das Werk zu perfektionieren. Sie ist in erster Linie eine neue Interpretation, die notwendigerweise aus der mit der Zeit veränderten Perspektive erfolgt. Durch diese Interpretation bekommt der Schriftsteller einen Platz im Pantheon der Weltliteratur, in der Akademie der Unsterblichen.“