Enright, Anne: Das Familientreffen

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Enright, Anne: Das Familientreffen

Beitragvon Petra » Mo 9. Mär 2009, 15:55

Enright, Anne
Das Familientreffen

Bild

Genre: Erzählung
Seitenzahl: 344 Seiten
Verlag: Deutsche-Verlags-Anstalt DVA
Preis: 19,95 €
ISBN: 9783421043702
Bewertung: ***/****
(* schlecht / ** ganz gut / *** gut / **** spitze)

Inhalt:

Liam, das schwarze Schaf der Hegartys – einer irischen Großfamilie – hat Selbstmord begangen. Der Hegarty-Clan findet sich in Dublin ein zur Totenwache und Trauerfeier.

Veronica, die Schwester mit der Liam am engsten verbunden war, trifft der Verlust am härtesten. Denn sie verbindet ein inneres Wissen um die Ursachen für Liams verkorkstes Leben und seinen Tod. Doch dieses Wissen ist vergraben unter einer Ansammlung von Kindheitserinnerungen, durch die sich Veronica anlässlich Liams Tod einen Weg bahnt…

Meine Meinung:

Dieses Buch möchte man empfehlen, und doch nicht empfehlen. Weil es so viel lesenswertes in sich birgt, man aber zugleich ahnt, dass dies nicht jeden Leser erreichen wird.

Zum einen muss man anfällig für ihre Themen sein, die sie hier zur Sprache bringt. Familiengeheimnisse. Aber das ist nicht das passende Wort. Sondern Geheimnisse der Art, verletzen, töten (in den Tod treiben) oder lähmen können.

Man sagt diesem Buch nach, es sei ein zorniges Buch. Das trifft es so genau, dass man diesen Begriff unbedingt auch verwerten möchte. Ich möchte ihn aber genauer erklären: Das Familientreffen ist aus Sicht von Liams Schwester Veronica geschildert. Sie hat den Blick darauf gehabt, was Liam verkorkst hat. Und sie kramt ohne Unterlass in ihren Erinnerungen herum. Erinnert sich, seit sie die Nachricht von Liams Tod erhalten hat in einem fort. An ihre Mutter, die so viele Kinder in die Welt gesetzt hat und doch nicht fähig scheint, ihnen wirklich Mutter zu sein. Aber besonders auch an die Zeiten bei ihrer Großmutter Ada. Dort verbrachte sie mit Liam einen Sommer. Und sie kommt nicht umhin, sich auch über die Großmutter Gedanken zu machen und ihre Liebe. Zu ihrem Ehemann Charlie Spillane und zu Mr. Nugent, den sie vielleicht geheiratet hätte, wenn es nicht Charlie Spillane gegeben hätte.

Und in diesem Punkt macht Anne Enright es dem Leser nicht leicht. Geht es an die Erinnerungen aus Kindertagen, wird Anne Enrights Sprache blumig, ausufernd, wie Wolken, die sich am Himmel ausbreiten und immer weiter ausbreiten und noch immer weiter ausbreiten. Das kommt letztendlich sehr authentisch herüber. Auch trägt Anne Enright dem Punkt Rechnung, dass Erinnerungen trügerisch sind. An manches erinnert man sich gestochen scharf (oft an die unwichtigen Details). An anderes nur sehr ungenau. Und manchmal weiß man gar nicht, ob man etwas erlebt hat oder ob man sich das so zurechtgedacht hat. Vor allem wenn man sich als Erwachsener an Dinge erinnert, die man als Kind gesehen und erlebt hat. Als Kind hat man von vielem gar nicht den tieferen Sinn erfasst. Durch das erinnern als erwachsener Mensch erhält vieles erst seine wirkliche Bedeutung. Das bringt die Autorin ebenso authentisch rüber, wie auch die sprudelnden Erinnerungen, die sich eine an die andere ketten und sich im Kopf groß machen und umgestalten. Aber es ist auch anstrengend diesen Gedanken zu folgen. Denn sie bringen einen immer weiter weg vom Kern der Geschichte. Denkt man. Doch dann sticht (ja: sticht) ein Detail heraus und reißt scheinbar verheilte Wunden auf und legt Dinge frei, die man erlebt und gesehen hat. Aber als Kind nicht in vollem Umfang verstehen konnte. Deshalb ist es auch so schwierig, sich heute als erwachsener Mensch klar und deutlich zu erinnern. Das ist im Rückblick authentisch geschildert. Aber eben mühsam zu lesen.

Man wird jedoch großzügig entschädigt für die Mühe! Denn die Szenen, die sich im Hier und Jetzt abspielen, sind so voller Zorn (Zorn, dessen Wurzel in der Vergangenheit liegt), dass einem stellenweise die Luft wegbleibt. Und das ist so brillant geschrieben, dass es eine Freude ist - trotz der ernsten Themen und der depressiven Stimmung des Buches. So will man Veronica manchmal ungläubig anschauen, warum sie plötzlich ihre Mutter derart angeht. Auch wie sie mit ihrem Mann verfährt versetzt in Erstaunen. Aber die Gründe dafür erfährt man, wenn auch spät. Dafür muss sich zunächst die ganze Erinnerung vor Veronica und dem Leser aufblättern. Dann beginnt man zu verstehen, kommt an den Kern ihres Zorns. Nicht alles wird klar, von manchem hat man bis zuletzt nur eine Idee, ähnlich wie Veronica selbst. Anderes wird klar und deutlich, so z. B. die Ursachen für Liams Tod und für Veronicas Gefühle der Hegarty-Großfamilie und ihrem eigenen Mann gegenüber. Und darin liegt eine ungeheure Wucht und Tragweite, die der Leser nachvollziehen kann, der ein Grundverständnis für die Themen hat, die dieser Familiengeschichte zugrunde liegen.

Letztendlich hat Anne Enright mir einen großen und unvergesslichen ganz besonderen Lesegenuss beschert! Ihre Art Dinge zu erzählen ist sehr speziell. Man muss manchmal um eine Ecke denken. Oder auch um eine zweite. Nicht zwingend entdeckt man dahinter den Sinn des jeweilgen Gedankengans. Aber oft erschließt sich der Sinn dann doch. Er lauert hinter der nächsten oder übernächsten Ecke und erwischt einen eiskalt. Weil diese Gedanken so wahr und so voller verständlichem Zorn sind.

Ich persönlich konnte mit den Themen des Buchs sehr viel anfangen, da ich in meinem persönlichen Umfeld auch von diesen Themen berührt wurde. Und ich muss Anne Enright bewundern, wie wach sie diese Theman behandelt. Ja, solch ein „Familiengeheimnis“ kann aus jedem Menschen einen „Liam“ machen. Und einen in den Tod treiben. Und damit nicht genug: Es stehen genügend Menschen um einen solchen „Liam“ drumherum, die ein bisschen mit kaputt gehen und verbittern. All das hat Anne Enright mit einer unvergleichlichen Eindringlichkeit aufgemalt und ganz, ganz eigenwillig und besonders erzählt. (Petra)

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Liebe Grüße,
Petra


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