Uwe Tellkamp: Der Turm

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon steffi » Di 30. Jun 2009, 08:55

Hallo JMaria,

'braun' - erinnert mich an das Dritte Reich
'Schlangen' - im Zusammenhang mit braun fällt mir die "Todesfuge" von Paul Celan ein: Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen , aber das könnte hier zu weit gefasst sein.
Gruss von Steffi

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon Signalgast » Mi 1. Jul 2009, 09:24

Hallo, vielen Dank für die freundliche Begrüßung!

Das 37. Kapitel ist für mich eines der hermetischeren im ganzen Buch. Offensichtlich handelt es sich um eine leicht absurde Theatervorstellung, in der es unter anderem um die Vater-Sohn Beziehung geht. Man denke nur: der liebevolle Vater verhilft seinem Sohn zu einem "Werk" indem er ihn leiden lässt!
Ich will versuchen, kurz mein Verständnis des 37 Kapitels - jedenfalls für den Teil im Haus Zinnober darzulegen. Man sollte im Hinterkopf behalten, das dieses Kapitel am Beginn des Buches II steht, in welchem sich der Protagonist Christian aus seinem angestammten Milieu löst und am Ende des Romans auf Grund seiner Erfahrungen zu einer Bewertung seines eigenen Vaters kommt:"... Du hast gelogen.... er vermied das Wort Vater..." etc. S.955 unten f.
Also: S.518 das Haus Zinnober: ETA Hoffmann: Klein Zaches, genannt Zinnober...
Esch... gibt eine kurze Inhaltszusammfassung: Leim, Repetition, Konservierung
Albin: Ich bin der Sohn... Goethe Xenien(wenn ich nicht irre) angeknackstes anstatt ernstes Führen ... und von der Mutter nichts - also keine Frohnatur... aber das können wir uns bei dem Auftritt mit Monokel ja schon denken. Man beachte die Kleidung von Vater und Sohn: auf der Bühne könnte sie sich farblich in den zusammengeklebten Fischen wiederholen ...
Es folgt die Beschreibung des Bühnenbildes (es schien ...): Zwei Pulte sich gegenüberstehend wie Vater und Sohn, die Bonsaibäumchen auf der Planke ... am Ende wird Albin selbst deren Stelle augenfällig einnehmen. Der Maler als Beobachter – ohne "Sprechrolle" an der Aufführung beteiligt – und das Aquarium: in dem Biotop tummeln sich also unsere Exoten ;). Ein Gleichnis ... „in diesem Land ist vieles möglich“ die Chimäre auch unfähig sich nach vorn oder zurück zu bewegen ... wissenschaftlicher Sozialismus wohlmöglich?
„... Die Herren baten um Bericht...“ Ich tippe auf Brecht, evtl. der Galilei, aber mir fehlt die Bibliothek dies zu verifizieren. Nun jedenfalls kommentiert der Herr Vogelstrom durch zerknüllen/verbrennen(?) des Bildes ... die Wortwahl lässt an Goethes Zeit denken oder Fontane oder ... Grass (ein weites Feld*1). Fonty treibt ja auch so seine Vaterverehrung. Nun wird wiederholt: Der Fisch verschlungen an des Bildes Stelle. Zäher Kleber ist das, so ganz erschließt sich mir der Sinn nicht.
Es wird noch ein bischen theatralisch geraucht (Zigarillos und Zigaretten), und klar gemacht, dass Albin eine höchst lächerliche Figur ist. Und der Vater ? Goethe und Tellkamps Abneigung gegen postmoderne Heiterkeit, Autoren die mit Scherzen nach dem Gral schnappen ... auch Esch... wird so einer sein. Himbeersoße-Clownsblut. Böll ick hör dir trapsen (Ansichten eines Clowns. Auch das ein gescheiterter Sohn übrigens, andere Zeit, anderer Ort, Westdeutschland diesmal, aber das selbe Elend bei Hans.) Albin, von Beginn an als unbegabt vom Vater verdammt. Nun das saß, und Albin entblödet sich nicht, uns auch zu zeigen, das er in seines Vaters Augen ein Bonsai-Dramatiker bleibt.

Phillipp Londoner versucht das zweite Thema anzubringen: die Wirtschaftspolitik. Zuvor wird uns aber noch erklärt, das Künstler ganz besondere Menschen sind (was wichtig ist, um die etwas unkonventionellen Vorstellungen von Vaterliebe und Erziehung zu verstehen, die Esch... ein paar Seiten weiter bekennt.) Welches aber - und hier sind wir beim Grundsätzlichen – niemanden interessiert, denn offenbar folgen alle Beteiligten längst ihrer individuellen Agenda – für das, was am Ende das Land in den Abgrund riss (Its the economy, stupid!), interessiert sich niemand. Es lässt sich ja auch soviel trefflicher über Stalinismus und die Verbrechen Stalins debattieren (Erwartet hier noch irgendjemand Neues? Ich nicht.).
-- Der kleine Exkurs übers Duzen –
Was nun das Duzen angeht, so wird es ja in dem Kapitel gleich zweimal diskutiert. Zum einen will der Lektor (Meno) die Distanz zum Schriftsteller zu wahren (keine verschimmelten Kekse und Zigarettenkippen), zum anderen wir auf die Provinzialität, die mit der Vertrautheit des Duzens verbunden ist, und mit der man sich die Weite der literarischen Welt nicht verschließen sollte hingewiesen. – sagt Sie zur Lyrik und bewahrt ihr Würde und das Geheimnis weiten Landes ;)! „Wer das nicht sieht ist minderen Ranges“ – gehört nicht zur „wahren Elite“ (aha!). Sehr einleuchtende Argumente zur generellen Frage, warum das Sie und die damit verbundene Distanz in bestimmten Situationen von Vorteil sein kann. Daneben möchte ich noch darauf hinweisen, dass es in gewissen Kreisen der Zone durchaus zum habitus gehörte, sich dem kumpelhaften "Du" der Genossen bewusst zu entziehen und sich damit von den Sitten der herrschenden Nomenklatura abzugrenzen. Das tut die Figur Meno (und Londoner jun. auch) in diesem Kapitel und wird damit als jemand charakterisiert, der, obwohl in Moskau aufgewachsen (offensichtlich mit einer dramatischen Geschichte im Lux, wo der Vater die Mutter an die Tscheka verriet) und damit zum "roten Adel" gehörend, sich doch von den proletarischen Elementen des Umgangs distanziert.
Ironie? Ja ich denke zum Teil schon denn was, wenn nicht die Untergrundmusik in dem versunkenen Land war provinziell?
Esch... bekennt sich mit russischer Attitüde „Söhnchen“ und stalinschem Vokabular zum Stalinismus.
„Die Verderbnis der Sitten ... wie das Gemüse zuerst im Detail“ : Peter Hacks.
„bedrängte Zeit darf nicht bedrängte Mittel kennen“ klingt eher nach Shakespeare ...
Interessant ist vielleicht, das bei der Diskussion um Stalin und seine Macht Argumente auftauchen, die schon in Lenins Testament stehen.
Was folgt ist ein pasticcio aus Shakespeare (King JohnV, Richard III) und Peter Hacks Texten. Ein Kommentar zu Stalin? Es ließe sich so lesen, auch die englischen Herrscher in jenen Dramen sparen beim Kampf um die Macht nicht mit Blut, nicht wahr?
Zurück zu Albin: sein Vater glaubt, ihm das Werk dadurch zu verschaffen, das er ihn verstößt ... soso.
Nun kommt die Idee einer Elite ins Spiel, für die die Anwendung „kleinbürgerlicher“ Moralvorstellungen: „... auf mangelnden Sinn für Gesetz und Schicksal, das ich ... Lebensform nenne“ [schließen lassen]
Und da ja Wiederholung hilft, finden wir diese Elite-Idee auch in der Unterhaltung zwischen Christian und Pfannkuchen auf S. 839 („...so ist das seit alters.“, aber dazu später...)
„Was bin ich? Ein pfeifenrauchender Schakal?“ → Stalin (Trotzki: „der Schakal im Kreml“)
...

bis später, S-Gast
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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon Signalgast » Mi 1. Jul 2009, 09:38

Hallo Steffi und JMaria:

rosa ist die Waffenfarbe (der Panzertruppe seit Reichswehrzeiten ...)
Das mit der Farbe Braun als Hinweis auf das dutzendjährige Reich sehe ich nicht so. Hätte Tellkamp diesen Bezug so herstellen wollen, hätte sich zum Beispiel eine Meditation über die NVA-Uniform angeboten, die recht nahe an der Wehrmachtsuniform war (so nahe, das NVA-Offiziere von recht konservativen Bundeswehroffizieren offen um dieses Tuch beneidet wurden ...)
Die Braunkohle und die damit verbundene Landschaft wird imho eher im Sinne eines [sozialistischen] Realismus geschildert.
Der Übergang zu der völlig anderen Stilistik in der Schilderung der NVA-Erlebnisse des Protagonisten (teilweise "Briefroman" eher kurze dem Realismus verbundene Schilderungen ohne "Blüten") stellt sehr schön die völlig andere Erfahrungswelt in die Christian nun aus dem Turm geworfen wurde dar. ...
Signalgast
 

Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon steffi » Mi 1. Jul 2009, 11:19

Hallo Signalgast,

da hast du ja das Kapitel 37 sehr schön auseinandergenommen. Die Thematik der Vater-Sohn-Beziehungen zieht sich ja durch den Turm und mir gefällt es sehr gut, wie Tellkamp dies hier als Theaterstück inszeniert, überhaupt finde ich diese Idee gelungen, denn Theater spielten die Menschen dort oft und im Zusammenhang mit der Politik denkt man ja nicht selten an "Schmierenkomödie". Dies alles in einem modernen Raum.

In diesem Zusammenhang bin ich auf Lyotard gestossen, der sich mit der Postmoderne auseinandersetzt.

Böll - leider kenne ich da zuwenig bzw. ist meine Lektüre schon zu lange her, aber ich komme immer wieder auch auf Anspielungen auf die westdeutsche Nachkriegsliteratur/Trümmerliteratur zurück, z.B. Richard und Josta, deren Beziehung direkt, knapp und unkommentiert beschrieben wird.

'braun' - ja, ich glaube auch, dass das keine Anspielung ist, war nur eine Assoziation von mir; der Kakaostaub geht mir nicht aus dem Kopf, ob er wohl eine Bedeutung hat ?

Überhaupt gibt es so viele Anspielungen und ich frage mich während des Lesens manchmal, ob ich darauf eingehen soll oder ob ich lieber in der reinen "Lese"-Ebene bleiben soll.
Gruss von Steffi

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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Fr 3. Jul 2009, 09:29

Hallo Signalgast,

ich bin beeindruckt, was du alles aus dem 37. Kapitel herausgeholt hast. Vielen Dank. Alles hoch interessant und lohnenswert, mit deinen Erkenntnissen, das Kapitel nochmals zulesen.

Was hältst du von der Einteilung des Buches:
Overtüre - Die Pädagogische Provinz - Interludium 1984 - Die Schwerkraft - Finale: Mahlstrom

Steffi und ich haben zwar einiges herausgearbeitet, wie unsere Beiträge zeigen, aber du hast vielleicht noch andere Aspekte gefunden (?)

Steffi hat geschrieben:Überhaupt gibt es so viele Anspielungen und ich frage mich während des Lesens manchmal, ob ich darauf eingehen soll oder ob ich lieber in der reinen "Lese"-Ebene bleiben soll.


alles wird man dem Buch als Leser vermutlich nie herausfinden und ohne Leserunde wär mir vieles entgangen. Dennoch kann man das Buch auch einfach "nur" lesen. Es hat diesen unterhaltsamen Effekt. Und ich habe mich das auch bereits gefragt, denn man möchte ja mal ans Ende kommen ;) Aber ich bin dennoch froh, dass wir soviel herausgefunden haben. Besonders die Beschäftigung mit der Romantik gefällt mir sehr.

Schöne Grüße
Maria
Zuletzt geändert von JMaria am Fr 3. Jul 2009, 15:44, insgesamt 3-mal geändert.
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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon Signalgast » Fr 3. Jul 2009, 11:46

Hallo Steffi & JM,
dank fürs Lob, es macht einfach Spaß beim zweiten Lesen die Bezüge zu verdichten. Wir sind uns ja einig, das der gute T. eine Menge "Bildung" in sein Buch gesteckt hat. Wobei ich mich ärgere, das es leichter ist, Shakespeare und Hölderlin-Zitate zu identifizieren (jaja, das Netz und google helfen wenn man die richtige Idee hat...) als Zitate aus der neueren Literatur, wo man in diesen unpraktischen Dingern aus toten Bäumen endlos blättern muss - vorausgesetzt man hat überhaupt eine gut ausgestattete Bibliothek zur Verfügung. Interessant übrigens, das viele "Fakten" (z.B. das Trotzki-Zitat über den Schakal oder später die Braunkohlegeschichte über die im westlichen Baumarkt besorgten Bohrhämmer) aus Zeit&Spiegel der letzten Jahre stammen. Ansonsten denke ich darüber nach, mir noch einige Bände der Klassikerbibliothek aus dem Aufbauverlag antiquarisch zu besorgen, die sind gut und günstig, wie auch der Verdacht nahe liegt, das der Autor genau aus diesen Ausgaben schöpft. Insbesondere hoffe ich, dem Meno(n) [Hölderlin;-)] noch ein wenig auf die Schliche zu kommen.
@Steffi: Der Turm ist nun wirklich kein postmoderner Roman. Er weist eine weitgehend lineare Erzählstruktur auf, rekuriert auf klassische Formen, blendet Popkulturelles weitgehend aus. Da ist Slaughterhouse 5 ja "postmoderner" als dieses "Dresden-Buch" XD.
Was die Gestaltung der Individuen angeht - und da wiederhole ich meine These; finde ich sie an Ideen entlang gestaltet, die im Untergang des Abendlandes, Jüngers Arbeiter oder bei Evola zu finden sind. (Und ich finde nicht, das dies etwa eine böswillige Unterstellung ist - es zeugt zumindest von einem nicht-mainstreamigen Zugang dieses Schriftstellers).
Ist euch übrigens der nette Verweis auf Günter (Mellis) Grass in der Papierrepublik S.640 aufgefallen der "in der falschen Uniform, unter falschem Abzeichen in ein falsches Lager geriet" und T.'s Meinung dort?
Ich will mir, sobald Zeit auftaucht, erstmal das Kapitel 21 unters Seziermikroskop legen, dort gibt es eine schöne fiebrige Kompilation von 80's Popkultur (also doch ein bischen Postmoderne ;), das Wagnerische Element der Overtüre muss also noch warten, ich hör jetzt erstmal Roland Kaiser (*summt* Santa Maria, Insel die aus Träumen geboren, ich hab meine Sinne verloren, in dem Fieber das wie Feuer brennt;).

Viele Grüße
S-Gast
Signalgast
 

Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon Gast » Fr 3. Jul 2009, 12:29

uups, lies: Meno(n) [Hölderlin/Platon/Sokrates ;-)]
Gast
 

Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon Signalgast » Sa 4. Jul 2009, 11:30

Hallo Maria,
zur Aufteilung des Buches... ich glaube nicht, das ich hier momentan etwas neues beitragen kann, aber ich versuche dennoch kurz meine Ideen darzulegen.
Zum ersten orientiert sich imho (denke: meiner bescheidenen Meinung nach) die Komposition an einem Opernlibretto. Eine Overtüre, gefolgt von drei Akten. Dabei an den Tannhäuser zu denken kann nicht ganz abwegig sein:

- aus lokalpatriotischer Motivation: Das Libretto zum Tannhäuser stammt vom deutschesten aller Opernkomponisten selbst. Es entstand wohl, in der Region, auf dem romantischen Schreckenstein (wir erinnern uns Ludwig Richters "Überfahrt am Schreckenstein", ein Bild das nicht ganz zufällig auch den Titel der Ausgaben des "Allgemeinen deutschen Kommersbuches" schmückte - aber ich schweife ab...) und die Oper wurde unter Wagners Leitung in dessen Dresdener Zeit an der Semperoper uraufgeführt.
(wenn ich an Tannhäuser denke, denke ich auch an das Bild im Codex Manesse, welches den Tannhäuser in Deutschordenstracht zeigt.)

- aus inhaltlichen Gründen: 1.Aufzug; Tannhäuser im Venusberg, sich den Freuden und den heidnischen Göttern hingebend (das Turmviertel als Venusberg - ein bischen mehr erotische Sinnenfreude hätte der Lektüre allerdings gutgetan... )
2. Aufzug; Tannhäuser hat nach den Moralvorstellungen durch seinen Aufenhalt bei den heidnischen Göttern sein Leben verwirkt und muss Buße tun (nach Rom pilgern) - Christians Weg in der NVA bis nach Schwedt ist ein Bußgang
3. Aufzug: vergebliches Warten auf Tannhäusers Rückkehr - erst zum großen Finale erscheint er - selbes Prinzip im Buch...
- aus Kompositorischen Gründen: T. wählt sehr verschiedene Tempi in den drei Akten ...

Nachdem die Grundanlage der Komposition des Buches als (romantische) Oper geklärt sein dürfte, mag man über die Titelgebung der Aufzüge nachdenken.
- Pädagogische Provinz, Turmgesellschaft etc.: die Bezüge zum Wilhelm Meister Goethes sind evident (wir sehen gespannt einer ungewissen Zukunft entgegen und fragen uns ob T. am Ende eine Turm-triologie plant...)
-Interludium: hat im Buch die Funktion, die Handlung zeitlich kontinuierlich zu halten. 1984 - es ist das Jahr was hier abgehandelt wird, und es ist in Wahrheit natürlich billig 1984 zu sagen wenn man schon DDR, oder Kommunismus oder Diktatur gesagt hat, ein pawlovscher Reflex sozusagen. Ob es auch Recht ist - da sollte man mal mit dem Dr. S. im Berliner war room ein paar Viertele trinken und drüber filosophieren...
- Schwerkraft: hier gehts erdenwärts... nicht von ungefähr spielt auch die als Spreewälder Muttererde berüchtigte Braunkohle eine nicht unwesenliche Rolle.
-Mahlstrom das große, rauschhafte Finale jedenfalls, in welchem (fast) alle Gestalten zermalmt werden (scheitern von Richard und Meno, z.b.). Im Sinne der Weltschau ist nach der tiefern Bedeutung der Apokalypse zu fragen. Übrigens ist es mal wieder typisch für T., das er auf den Gefangenenchor aus Fidelio (der dt. Beethoven und seine jacobinische Befreiungsoper) setzt, statt sich des für solche Aufführungen kanonisch anbietenden Nabucco Chores ;-) zur musikalischen Untermalung der Schlussszene zu bedienen.

LG. S.
Signalgast
 

Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon JMaria » Sa 4. Jul 2009, 15:22

Hallo zusammen,

Signalgast hat geschrieben: Man sollte im Hinterkopf behalten, das dieses Kapitel am Beginn des Buches II steht, in welchem sich der Protagonist Christian aus seinem angestammten Milieu löst und am Ende des Romans auf Grund seiner Erfahrungen zu einer Bewertung seines eigenen Vaters kommt:"... Du hast gelogen.... er vermied das Wort Vater..." etc. S.955 unten f.
Also: S.518 das Haus Zinnober: ETA Hoffmann: Klein Zaches, genannt Zinnober...


In manche Kapitel erscheint mir die DDR eher wie ein fiktives Land, das es eigentlich garnicht gibt. Irgendwie unwirklich. Vielleicht wie das fiktive Land in dem der "Klein Zaches" spielt. Zinnober bedeutet umgangssprachlich ja auch etwas was wertlos ist, unsinnig.

oder auch das fiktive Land in "Königliche Hoheit" von Thomas Mann; Klaus Heinrich mit seiner verkrüppelten Hand (was wiederum an Wilhelm II angelehnt ist). Ich muß öfters an diese Figur denken, wenn Richards Hand beschrieben wird bzw. wenn er sich seiner vernarbten Hand übermächtig bewußt wird; gebrandmarkt.

Gibt es in den Klassikern ähnliche Beispiele einer verkrüppelten oder gebrandmarkten Hand?

mir fällt nur noch ein biblisches Beispiel ein, als Jesus eine verdorrte Hand heilte, Mat. 12,9-14

obwohl schon einige biblische Vergleiche im "Turm" vorkommen:

ein Beispiel:
...weil in zu raschem Vertrauen gesagten Wort ist, das Schweigen vor der Ungewißheit, inwieweit der andere das ist, ws er zu sein scheint, und ob man es nicht bitter bereuen wird, wenn man das Wort ausspricht, das jetzt noch wohlbehütet in den Tiefen der komplizierten Maschinerie steckt, die es erst zu Sprache und Stimme prägen muß; man weiß nicht, ob der erste Impuls, das Wort gleich ausschlüpfen zu lassen, ein tatsächlich befolgenswerter ist und ob das geprägte Wort, einmal und damit unwiderruflich gesagt, zur Münze wird, die die Torwache des anderen Schweigens besticht, oder zum Judaslohn für den verräterischen Unbekannten im eigenen Inneren,.....


mir kommt es so vor als ob das Wort zu etwas Göttlichem wird.

(Joh. 1,1 "
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort" - wenn man den Bibelspruch mal wörtlich nimmt.)

zumindest setzt das Kapitel "Telefon" das gesprochene Wort dem geschriebenen Wort gegenüber. Warum mir der Gedanke des "Volksmärchen : Kunstmärchen" in den Sinn kommt, kann ich jetzt auch nicht so recht erklären. Ich erwähns einfach.


Steffi hat geschrieben:der Kakaostaub geht mir nicht aus dem Kopf, ob er wohl eine Bedeutung hat ?


und wieder bin ich beim Göttlichem:
Kakao war bei den Azteken und Majas ein Göttertrank. Ein Luxusgut und in der Kaserne gabs "nur" den Staub, den man nicht mal einsammeln, nicht mal ordinär zusammenfegen konnte. Total wertlos -Zinnober :)



Signalgast hat geschrieben:ich hör jetzt erstmal Roland Kaiser (*summt* Santa Maria, Insel die aus Träumen geboren, ich hab meine Sinne verloren, in dem Fieber das wie Feuer brennt;).


warum nur summe ich jetzt "La donna è mobile" aus Verdis Rigoletto *summ* - muß wohl am Klein Zaches liegen :D


Signal-Gast:
deine Beschreibund vom "Thannhäuser" ist klasse. Steffi und ich haben es kürzlich bedauert, dass wir über diese Oper nicht sehr viel wissen.

alles weitere später. Es ist zuviel Stoff um es auf einmal bewältigen zu können.

möchtest du dich nicht bei uns anmelden? Obwohl es nicht notwendig ist, ist es dennoch so eine nette Geste der Zugehörigkeit und ich hoffe, du bleibst uns noch länger erhalten. *wink*


Steffi hat geschrieben:'Schlangen' - im Zusammenhang mit braun fällt mir die "Todesfuge" von Paul Celan ein: Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen , aber das könnte hier zu weit gefasst sein.


ob der Gedanke zu weit gefasst ist oder nicht, jedenfalls hast du ein sehr intensives Gedicht genannt ! *gänsehaut*

Schlange ist ja auch ein christliches Symbol von der Macht des Bösen.


Nina hat geschrieben:Es erinnert mich irgendwie an klassische Dramen..


guter Gedanke. Vielleicht hatte Tellkamp den Aufbau des klassischen Drama im Sinne (5 Akte), denn schließlich ist der "Turm" ebenfalls 5-geteilt (Overtüre - Die Pädagogische Provinz - Interludium 1984 - Die Schwerkraft - Finale: Mahlstrom)

Viele Grüße
Maria
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Re: Uwe Tellkamp: Der Turm

Beitragvon Signalgast » Sa 4. Jul 2009, 21:35

Ach JMaria,
ich ahne nicht, warum du "wie oh so trügerisch sind Weiberherzen" summst, eventuell hast Du bei Roland K. ganz andere Assoziationen als ich? Womöglich auch, weil Du weisst das Tannhäuser dieses Minnegedöns mächtig auf den Keks geht und er in Wirklichkeit nur das eine will - wieder in den Venusberg hinein - :) . Nach der ganzen Pilgerei findet er nur den Weg nicht mehr, der Arme ...und wird erst durch den Tod reingewaschen. Leider wissen wir nicht, ob unseren Helden Christian ähnlich lüsterne Gedanken umtreiben, T. ist da mit Andeutungen sehr sparsam, und wenn er sie macht, dann bedient er sich sogar biblischer Bilder (ich schweife also gar nicht vom Thema ab; ). Zum Beispiel setzt er uns im Kap. 38 ins Bild ...
"[Apfel]...[Christian] würde sich am Wasser des Schnitts ergötzen...
(Reina sagte, so hätte sie noch nie jemanden einen Apfel schneiden sehen)"
doch ach ...er "raffte seine Sachen zusammen und ließ den Apfel unberührt".
Da wissen wir Bescheid. (Richard ist kein solcher Kostverächter, aber wohin das führt, ist hinlänglich bekannt !)
Der Annahme, wegen der 5-Teiligkeit gäbe es eine Verbindung zum klassischen Drama folge ich nicht. Wohl ist Buch I eine Eposition, nur ansonsten stimmt die Zuordnung des Spannungsbogens hinten und vorn nicht. Retardierendes Moment - ja wo denn nur? Ich bin mir sicher, wenn der Verfasser ein klassisches Drama hätte abliefern wollen - er wäre dazu im Stande gewesen. Vielmehr sind wir im Feld Oper - Entwicklungsroman - meinetwegen auch Rettungsoper - wiewohl das melodramatische dem Autor ja nicht liegt.
ach - schon wieder ließ ich mich ablenken
Grüße
S.
PS.: "Santa Maria" lässt mich an ein Ferienlager an der Ostsee denken, wo ich mit ebenjenem deutschen Schläger morgens um halb sieben im 1o Mannzelt aus dem sanften Schlummer frühpubertärer Träumereien gerissen wurde ... bzw. Kap. 21...
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