Zurück zu neuere Bücher Zurück zu Buchbesprechungen August 2002
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Noteboom, Cees
Allerseelen:
Inhaltsangabe:
Erst läuft ein Mann durch Berlin, dann einer Frau nach. Ab und zu arbeitet Arthur als Kameramann, aber nur wenn ihm der Auftrag gefällt. Sein Freundeskreis ist klein, aber fest wie eine Burg. Wer würde da nicht neidisch? Der Neid verwandelt sich in Mitleid, sobald man weiß, dass Arthurs Rastlosigkeit durch den Unfalltod seiner Familie entstanden ist. Er ist auf der Suche nach dem, was verschwindet, was niemand vermisst, nach der Unschärfe. Auf seinen Streifzügen durch Berlin begegnen ihm immer wieder die Geister der Vergangenheit, einige reale Begegnuen haben etwas Allegorisches. Eine dieser Begegnungen wird zur Obsession und heißt Elik. Sie promoviert über die Geschichte einer vergessenen Königin. Aus Emanzipation und Protest hält sie daran fest. Es ist eine schmerzhafte Liebesgeschichte. Aber beide merken, dass sie noch mehr fühlen können, als sie sich zugetraut haben.
Meine Meinung:
Sympathisch ist die Abwegigkeit der Tätigkeiten. Wer wird Arthurs Film je sehen oder
Eliks Dissertation lesen, falls sie fertig werden? Wenn es ihnen egal ist ...
Die Dämmerungen, die Arthur sammelt, entsprechen irgendwie den Quellenverweisen, denen
Elik hinterherreist, und die sie mit dem gleichen Respekt behandelt, wie er gefrorene
Fußabdrücke. Arthurs Foto von Frau und Kind sind wie die Narbe auf Eliks Wange. In ihm
bricht bei den Stadtspaziergängen erlebte Geschichte wieder auf. Sie setzt ihre Ansicht
von Geschichte entgegen, nach der in seinen Erinnerungen die Geschichte noch zu frisch
ist, um sich nicht an ihr zu überheben.
Dieses Buch strömt über vor Geistern. Eine Freundin von Arthur sammelt Fotos von Wolken
und Strandformationen aus den 1920er Jahren. Man muss annehmen, der Titel des Buchs will
der Beseelung alles dessen gedenken, was Erinnerungen hervorruft. Die Frage, was von
Geschichte bleibt, beantwortet Elik sinngemäß mit: Alles was aufgeschrieben ist. Man
bekommt gewaltigen Respekt vor dem Mittelalter eingeflöst, und ein schlechtes Gewissen,
weil man die geheimen Verweise in der Bibel auch nicht entziffern kann. Tanzmusik ist
nichts gegen Hildegard von Bingen. Die Protagonisten sind von dem gegenwärtigen Getriebe
abgestoßen, und nähren sich doch von ihm. Vielleicht ist auch das ein Grund für Arthurs
Rastlosigkeit und die Erhabenheit seines Philosophenfreundes, dass die Entwicklung über
sie hinweggeht, ohne dass es einer Bedeutung bedarf.
Das Buch ist nur spannend, wenn man sich etwas für Berlin, aber umso mehr dafür
interessiert, wie Geschichte Menschen zurücklässt und in ihnen weiter- oder wieder
auflebt. (Godehardt Struppe)
Bewertung: * * * *
( * schlecht / ** ganz gut / *** gut / **** spitze)
Infos: 436 Seiten, Taschenbuch-Ausgabe, Suhrkamp Verlag, 10,-