Hallo Barbara,
Hallo zusammen,
ich befinde mich in der Mitte des vierten Kapitels. Nach wie vor ist es für mich die schönste Tageszeit, wenn ich mich für ein halbes Stündchen auf den Zauberberg begebe. Besonders begeistert haben mir zwei Stellen, in denen ich vor Vergnügen gluckste!
An der einen Stelle beobachtet Hans Castorp, wie Behrens Visite bei einem seiner Moribundus (allein schon die Verwendung des lateinischen Begriffs) macht. Der Sterbende schaut mit riesengroßen rollenden Augen zur Tür, als Behrens diese öffnet, was wiederum Hans Castorp beobachtet. Dies geht ihm offenbar noch nach, als sich hinter Behrens die Tür schließt, und Hans Castorp wieder seiner Wege geht. Es wird beschrieben, wie er selbst die Augen groß macht, während er gedankenverloren des Weges geht. Dabei begegnet er Madame Chauchat, die das amüsiert zur Kenntnis nimmt. Ich könnte mich kringeln vor Lachen über solche Szenen! Zumal einem das doch echt passieren kann. Man nimmt etwas wahr, und macht es unbewusst nach, und bedenkt nicht, dass das jemand sehen könnte. Ich weiß nicht, ob es euch auch schon so ging. Mir schon. Ich kann damit was anfangen. Hans Castorp (nein, Thomas Mann!) ist köstlich!
Ebenso belustigt war ich über eine andere Szene. Hans Castorp begibt sich außerplanmäßig auf eigene Faust auf einen Spaziergang, ja, beinahe eine Wanderung den Berg hinauf. Er (bereits kränkelnd) übernimmt sich, bekommt heftiges Nasenbluten, legt sich hin. Allein schon wie da beschrieben wird, wie der Körper dort liegt, während der eigentliche Hans Castorp (so drückt Thomas Mann sich aus), träumend andere Wege geht. Herrliche Beschreibung! Und dann wird der Leser in diesen Traum Castorps geführt, indem Hans Castorp wieder Schüler ist. Es war Pause, und der Lehrer beaufsichtigte den Schulhof indem er (so steht es geschrieben!) in eine Schinkensemmel biss. Also beaufsichtigt er eher gar nicht. Bezaubernde Nebensächlichkeit, wunderbar humorvoll ausgedrückt!
Nun, jedenfalls erinnert sich Hans Castorp in dem Traum, wie er über ein Jahr lang einen älteren Mitschüler (Hippe Pribislav) aus der Ferne bewundert. Er fühlt sich ihm so nah, weil er ihn immer im Auge hat, und innerlich ihm schon so nahe gekommen ist. Ohne das aber ein wirklicher Kontakt entsteht (bis auf einmal, wo er sich einen Bleistift (!) von ihm ausleiht.). Im Nachfolgenden versucht er zu benennen, welcher Art sein Anteil (Interesse) an Hippe ist. Er stellt fest, dass es keinen Namen für diese Art Empfindung gibt. Da z. B. nicht die Rede von einer Freundschaft sein konnte (der genommene Anteil war ja nur einseitig durch Hans Castorps stille Bewunderung des Anderen), sei eine Benennung zum einen nicht möglich, zum anderen aber auch nicht nötig, da der Gegenstand dieser Empfindung niemals zur Sprache kommen würde (außer Hans Castorp wusste ja keiner von dieser stillen Bewunderung, und es sollte auch keiner erfahren). Das – und noch mehr – fasst Thomas Mann sprachlich auf engsten Raum. Da sind so viele Gedanken gebündelt, das es eine Freude ist! Da passiert so viel beim Lesen. Ich bewundere Thomas Mann sehr für diese Gedanken, und sein Vermögen diese so kunstvoll einzubringen und zu äußern.
(Auch die Anspielung, dass er nun weiß, an wen Madame Chauchat ihn erinnert hat - nämlich an Hippe Pribislav - lässt mich Szenen zwischen den beiden künftig noch mit einem anderen Blick lesen.)
Einige von euch äußerten in einem anderen Thread, dass Interesse an einer Leserunde zu Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ besteht. Auch wenn ich mich noch nicht festlegen kann, ob ich zu gegebener Zeit mitlese, so habe ich gestern beim kurzen reinlesen in die Novelle schon gemerkt, dass ich mich auch dort am liebsten sofort Gustav Aschenbach an die Fersen geheftet hätte. Zumal mich das Thema der Novelle stark an dieses Motiv (die Szene mit Hippe Pribislav) erinnert. Nicht verwunderlich, denn unterdrückte Homosexualität ist gewiss ein Motiv, das Thomas Mann sehr beschäftigt hat.
10 Seiten im Zauberberg erzählen mir mehr, als manch ein ganzer Roman. Verwunderlich! Auch weil eigentlich nichts von Belang erzählt wird. Erstaunlich!
Kessy, schön, dass du deine Eindrücke zu „Die Manns – Geschichte einer Familie“ einbringst. Was du über die Menschen schreibst, die in Klaus Manns Theaterstücke gingen, um ihn dort auszubuhen, kann ich mir irgendwie vorstellen. Die Menschen sind (manchmal) so. Erschreckend.