Hallo Rachel, Doris und alle am Enright-Familientreffen-Interessierten!

Ich muss noch ein bisschen was zu Anne Enright "Das Familientreffen" loswerden! Ich habe noch 50 Seiten vor mir. Und ich muss sagen, ich bin nun doch im Zweifel, ob ich so problemlos danach neuen Lesestoff finde! Denn so langsam stellt sich bei mir das ein, was Doris meinte: Das Buch muss man erst mal verdauen. Es ist besonders. Es ist intensiv.
Rachel, der "schwülstige" Erzählstil passt wirklich in diesem Fall. Denn die Protagonistin schwelgt in Erinnerungen. Sie bauschen sich vor ihrem geistigen Auge auf wie Wolken, die immer mehr werden, immer größer, immer üppiger. An den Stellen, wo sie sich gedanklich nicht in ihrer Kindheit befindet, ist der Schreibstil gar nicht so schwülstig, finde ich. Und in der zweiten Hälfte (oder zumindest im letzten Drittel) hat sie größtenteils mit diesen Erinnerungen abgeschlossen. Nämlich da, wo sie zum Kern ihrer Erinnerungen gelangt - dem schrecklichen Ereignis. (Wirklich schade, dass man es in einer Rezension schon vorweggenommen hat! Sowas finde ich immer sehr ärgerlich! Zwar wäre es im Nachhinein in dem Fall für mich nicht störend gewesen, wenn ich es gewusst hätte, aber man fühlt sich durch so etwas um einen Teil der Geschichte betrogen!)
D. h. auch wenn mir der Stil oft zu aufgebauscht war in all seinen aufgeplusterten Kleinigkeiten, so könnte ich mir diese Geschichte anders erzählt gar nicht vorstellen. Ich kann Anne Enright diesen Punkt, auch wenn er es mir stellenweise schwer gemacht hat, nicht vorwerfen. Es gehört einfach so.
Bewundern kann ich die Autorin aber besonders für ihren Erzählstil in den anderen Teilen des Buchs. Den Teilen in der Jetzt-Zeit. Eigentlich unbeschreiblich! Die Gedanken der Protagonistin. Ihr Beobachtungen - so nah am Leben. So genau beobachtet. Und so genau hinterfragt. Ich finde diesen Punkt an ihrem Buch ganz, ganz toll und überaus gelungen! In ihrer Einzigartigkeit fällt mir auch ein Vergleich mit Annie Proulx "Schiffsmeldungen" ein. Zwar hat sie auch wieder eine andere Art, aber eben ebenso eigen wie Anne Enright in "Das Familientreffen". Beide haben gemein, dass sie Beobachtungen, Gefühle und Stimmungen nicht so deutlich beschreiben, sie aber durch die eigenwillige Beschreibung umso deutlicher und schärfer werden. Kann ich wirklich schlecht beschreiben.
Aufpassen muss man beim lesen. Sonst verpasst man, was Anne Enright EIGENTLICH sagen will. Was die Protagonistin EIGENTLICH meint.
Beeindruckt hat mich inzwischen so manche Szene. Doris (oder wer sonst das Buch schon gelesen hat), Du wirst Dich an einige Stellen auch erinnern können. (Vorsicht Spoiler! Sie nehmen gewiss nicht die komplette Handlung vorweg, aber diverse Details. Wer das Buch also doch noch lesen will, sollte hier lieber stoppen.)
Z. B. als Veronika über ihr Leben in Anführungsstrichen nachdenkt. "Ihren Mann", "ihr zu Hause" und ihren "Sex". Das war eine dieser intensiven Lesemomente. Ich fand das toll, was sie da sagt/hinterfragt. Und wie sie es sagt/hinterfragt. Da stecken viele Gedanken hinter. Das ist nicht einfach heruntergeschrieben. Sondern sehr gekonnt in Szene gesetzt. Sehr gekonnt heraufbeschworen!
Oder als sie über Liams Selbstmord nachdenkt. Und über Gedanken, die sich festfressen können und ausbreiten. Ohne dass man ihnen Einhalt gebieten kann. Wie eine Krankheit, wie ein Geschwür. Ja, das stimmt... solch eine Macht können Gedanken haben, wenn man sie eben nicht mehr stoppen kann!
Und da auch das Sinnbild, das sie für die Selbstmordszene dann benutzt, als sie von Gedanken als Holzstückchen im Kopf sinniert, die sich mit Wasser vollsaugen, bis der Kopf schwer wird und ins Wasser fällt.
Man braucht für ihre Sätze oft viel Fantasie. Aber es bauen sich dadurch ungeahnt eindringliche Bilder und vor allem Gefühle auf! Für mich ein tolles Leseerlebnis!
Oder wie sie auf der Beerdigung Ita mit ihrem dickflüssigen Wasser beobachtet, das sie trinkt. Und die Reaktion ihrer Mundwinkel, als sie noch einen Schluck trinkt. Das war so toll formuliert. Diese Stellen schnüren einem den Hals zu. Denn sie drücken so viel mehr aus.
Eine der ganz intensiven Szenen war auch die, als Veronika ihrem Mann sagt (nein, ihm unverhofft einfach so an den Kopf wirft), dass sie einfach nicht weiß, wo er die Grenze zieht. (Eigentlich fragt sie sich ja Dinge über Liam und das was ihm angetan wurde. Eigentlich fragt sie sich wo JEDER Mann seine Grenze zieht. Aber dass sie ihren Mann da so angeht... da blieb mir fast das Herz stehen! Es war so unpassend und doch so passend! Es war so hart, so - ja, das ist das rechte Wort: ZORNIG!)
So richtig großer Zorn wütet auch in ihr als Liam unten aufgebahrt ist und sie ihre Mutter im Schlafzimmer noch mal besucht und als sie ihr gedanklich (aber nur gedanklich) entgegenbrüllt, WARUM sie ihre Frage nach dem Mann in Adas Haus (dem "Hausverwalter") gestellt hat. Dass diese Frage die Antwort darauf ist, warum Liams Weg so verlaufen ist - besonders mit diesem Ausgang, dem Selbstmord.
Hier fand ich auch gut, dass da der Satz hinter steht, dass man natürlich nicht weiß, welches die erste oder letzte Ursache ist.
Das fand ich aus einem persönlichen Bezug her sehr interessant. Denn in meiner Familie gibt es einen ganz ähnlichen Fall wie den von Liam. Wirklich ganz ähnlich! Und mit fast denselben Folgen. Natürlich kann auch da keiner sagen, ob das
DER Grund oder der
EINZIGE Auslöser für die Folgen war. Aber mindestens ein Teil des Grundes - das darf man gewiss unterstellen. Deshalb fasziniert mich Anne Enrights Buch umso mehr! Sie
erfasst da etwas
unfassbares. So nah hatte ich für mich das Thema noch nie, wie hier bei ihr. Ich kann damit sehr viel anfangen. Aber eben auch weil ich einen persönlichen Bezug herstellen kann. Das macht es für mich noch intensiver. Sowohl was Liams Vergangenheit angeht als auch die Folgen.
Auch ähnlich zu meinem persönlichen Fall: Die sehr auffällige Fixierung und Aversion der Protagonistin zu Männern, den männlichen Geschlechtsteilen, das ständige zum Thema machen (was die männlichen Geschlechtsteile angeht - mit abwertenden Gefühlen und Gedanken dabei), das ständige innere Gerede über Sex, die plötzliche Wut auf Männer (z. B. in der Szene wo sie ihren eigenen Mann angeht, dass sie einfach nicht wüsste wo seine Grenze ist - wie krass die Szene war!)...
... dachte ich anfangs noch, dass Anne Enright irgend ein Problem mit dem Sex oder mit Männern hat und das in einem Buch unterbringt, wo es teils (zumindest so extrem) nicht hinpasst, so weiß ich jetzt: Es passt! Und es gehört hinein! Für mich ist das absolut authentisch! Jetzt wo ich mehr von Veronika und ihren Schuldgefühlen Liam gegenüber weiß! Denn auch sie ist indirekt mitgeschädigt.
In meinem persönlichen Fall ging diese Aversion gegen Sex, Männer, die männlichen Geschlechtsteile allerdings vom Opfer selbst aus. Deshalb hatte ich das in Veronikas Fall erst nicht ganz nachvollziehen können. Aber je weiter ich las, umso klarer wurde es mir.
Auch der Zorn auf die Mutter deckt sich mit meinem persönlichen Fall in meiner Familie. Kann man auch wirklich nur zornig werden! Denn oft oder meistens wissen die was oder ahnen was. Oder waren halt einfach nicht präsent, obwohl sie es hätten sein sollen, um ihr Kind zu beschützen.
So, das alles musste ich eben doch mal los werden! Wie Ihr seht: "Das Familientreffen" beschäftigt mich sehr! Und inzwischen empfinde ich es als ein sehr eindringliches, besonderes (auch im Erzählstil) Buch, das in die Tiefe geht. Aber es bleibt in jedem Fall ein Buch, das nicht jeden so ansprechen wird. Und das auch gewiss nicht jedem gefallen wird.
Ich bin sehr froh, dass ich dazu gegriffen habe! Und sage Dir, liebe Doris, noch mal Danke für den Anstoß dafür!