Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Rachel » Di 3. Mär 2009, 15:50

Hallo Petra,

Petra hat geschrieben:Rachel, was war es, was Dich beim reinlesen so abgeschreckt hat? Ich kann mir einige Dinge vorstellen, würde es gern aber genau wissen, was es bei Dir war.

Vorweg, ich habe ja wirklich nur einige Seiten in der Buchhandlung gelesen, also gut möglich, dass die Stelle für das Buch überhaupt nicht repräsentativ waren, allerdings deckt sich mein Eindruck durchaus mit verschiedenen Rezensionen, die ich danach im Internet gelesen habe.

Nachdem das Reinlesen auch schon eine Weile her ist, kann ich mich auch nicht mehr an Details erinnern, aber ich weiß noch, dass mir zum einen die Sprache überhaupt nicht zugesagt hat, ich habe die verwendeten Bilder als gekünstelt und schwülstig empfunden. Und dann kam auch die Wut überhaupt nicht an, die Erzählerin kam mir eher gleichgültig und desinteressiert vor. Mich hat die Art des Erzählens einfach so überhaupt nicht angesprochen.
Liebe Grüße,
Rachel

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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Petra » Di 3. Mär 2009, 16:22

Hallo Rachel,

vielen Dank für Deine Gedanken und Eindrücke, die Du beim reinlesen gewonnen hattest. Sehr interessant für mich!

Die Sprache ist schwülstig. Finde ich auch. Wenn ich es auch für die Geschichte ganz passend finde. Denn im Grunde verliert sich die Erzählerin in Erinnerungen. Sie bauscht manche Details auf. Verheddert sich manchmal. Gibt Nebensachen mehr Gewicht als dem Hauptthema. Aber umso mehr trifft mich dann jedes Detail des Hauptthemas. Weil es so scheinbar nebensächlich eingebunden ist. Aber es sticht dann böse heraus. Und verkehrt die unwichtigen Dinge in die wichtigen und lässt die aufgebauschten Dinge zu dem werden, was sie sind: Nebensächlichkeiten.

Eine interessante Art Erinnerungen literarisch darzustellen. Denn man schwelgt und verliert sich manchmal ja in Erinnerungen. Ein Sommertag. Die Luft, die Wiese, der Weg, die Kleidung der Menschen... und dann kommt ein kleines (z. B.) böses Gefühl wegen einer Kleinigkeit in der Szenerie hinzu. Und im Grunde sind doch das die Sachen, an die wir uns eigentlich erinnern oder die Erinnerung heraufbeschwören wollen. Und nicht etwa die vielen Einzelheiten, die dieses Detail einbetten.

Deshalb gefällt mir in diesem Fall der Erzählstil, trotz dass er mir für eine andere Geschichte sicher zu schwülstig und ausufernd wäre (ausufernd in wirklichen Belanglosigkeiten meine ich - aber hier gehört es dazu).

Das sind bei aller Faszination aber auch die Dinge, die mir das lesen manchmal etwas schwerer machen.

Dass die Wut bei Dir nicht so recht ankam, könnte - kann ich mir zumindest vorstellen - durchaus am reinlesen liegen. Denn dieser Zorn blitzt - empfinde ich zumindest so - immer mal aus all den belanglosen Einzelheiten ganz plötzlich auf. Und dann weiß man auch genau, worauf sich die Wut bezieht und kann sie nachempfinden. Aber ohne die ganzen Zusammenhänge könnte ich mit der Wut ganz gewiss auch nichts anfangen.

Und überhaupt: In den ersten 2 oder 3 Kapiteln konnte ich die Wut auch noch nicht so recht an etwas ausmachen. Ich dachte mir auch: Warum ist Victoria so furchtbar wütend auf ihre Mutter? Aber das erschließt sich erst so langsam. Bisher erschließt es sich mir noch nicht völlig. Aber ich bekomme eine Idee davon. Ich bin gespannt.

Aber alles in allem sehe ich es wirklich so: Es ist eines der Bücher, mit denen man entweder etwas anfangen kann oder nicht. Es ist gewiss kein Buch, das man liest und es "ganz nett" findet. Ich denke, entweder kann man ganz viel herausziehen oder aber es nervt einen. Deshalb: Wenn Dich das reinlesen nicht gepackt hat, ist es bestimmt nicht Dein Ding. Zumindest zur Zeit nicht.

Doris, eben kam ich in einer Diskussion drüben im Hoerbuecher4um auch noch auf einen Aspekt aus Anne Enrights Buch. Ich kopiere den Textteil meines Beitrags mal hier herein. Vielleicht erfreut Dich das, was ich aus einer Stelle aus "Das Familientreffen" für mich gezogen habe auch. Weil Du es vielleicht ähnlich empfunden hast. Oder vielleicht weil meine Gedanken eben nicht die Deinen sind und sie Dir einen weiteren Blickwinkel verschaffen. Ich schrieb:

Unglaublich - aber auch psychologisch für mich immer wieder ausgesprochen interessant - wie sehr ein Mensch sich selbst belügen kann. Da gab es auch gerade in Anne Enrights "Das Familientreffen" eine tolle Szene. Da ist jemand Alkoholsüchtig. Und er belügt andere. Man merkt es immer daran, wenn er anfängt sich laut detailliert an etwas zu erinnern. Eine Beschreibung auszumalen. Dann merkt man (hier die Hauptperson), dass derjenige lügt. Das ist so toll getroffen, denn ich habe es bei Suchtkranken auch oft genau so erlebt...!!! Und auch an der Thematik mit den Suchtkranken und ihren Lügen fasziniert (wenn auch auf eine sehr traurige, wütende, betroffene Art) mich auch immer wieder, wie sehr ein Mensch sich selbst belügen kann. Und vor allem wie erfolgreich! Wenn schon jeder andere die Lüge entlarvt hat, der Lügner glaubt selbst noch fest und unumstößlich daran und verteidigt seine Wahrheit wütender als er es mit der wirklichen Wahrheit je tun würde. Denn wenn er davon abließe, müsste er sich mit der Wahrheit auseinandersetzen. Und dazu ist er nicht fähig. Deshalb lügt er überhaupt erst!

Diese Gedanken, die ich hier niedergeschrieben habe, hat Anne Enright im Grunde mit nur einen kleinen Satz ausgelöst. Der mal wieder in das Geplänkel von Victorias Erinnerungen gebettet war. Scheinbar ebenso belanglos daher erzählt. Dabei hat er es - wie viele, viele andere Sätze in dem Buch auch - einfach derart in sich! Dafür liebe ich dieses Buch! Wenn ich es auch nicht uneingeschränkt als Lesegenuss empfinden kann, weil eben das Geplänkel drum herum dazu gehört.

Edit: Mit den Lügen fand ich es so klasse, wie sie Liams Lügen entlarvt. Genau das war auch immer meine Taktik beim entlarven der Lügen der Suchtkranken in meinen Umfeld: Wenn sie anfangen auszuholen und Details zu erklären, dann weiß ich, dass sie lügen! Ich hätte Anne Enright am liebsten applaudiert. Dafür, dass sie diesen - für mich absolut treffenden Gedanken - ausspricht! So fein beoabachtet!
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Rachel » Mi 4. Mär 2009, 12:38

Hallo Petra,

interessant, dass Du die Sprache ebenfalls so empfindest, dann war mein Eindruck beim Reinlesen also doch richtig. Interessant auch, dass es Dich bei diesem Buch aber trotzdem nicht so sehr stört, weil du es hier als passend empfindest. Ich persönlich kann mir ja nach wie vor nicht vorstellen, ein ganzes Buch in diesem Stil zu lesen.

Auch was Du sonst schreibst, nein, ich glaube, das ist kein Buch, das mich reizen kann. Da lockt zu viel anderes viel mehr. :)

Mal abgesehen davon, dass ich sowieso schon weiß, auf was das Ganze hinausläuft, das wurde in diversen Rezensionen verraten. Die Spannung darüber, was damals geschehen ist, würde also auch noch wegfallen.

Dir nach wie vor viel Spaß mit dem Buch. :)
Liebe Grüße,
Rachel

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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Doris » Mi 4. Mär 2009, 13:39

Petra hat geschrieben:

Unglaublich - aber auch psychologisch für mich immer wieder ausgesprochen interessant - wie sehr ein Mensch sich selbst belügen kann. Da gab es auch gerade in Anne Enrights "Das Familientreffen" eine tolle Szene. Da ist jemand Alkoholsüchtig. Und er belügt andere. Man merkt es immer daran, wenn er anfängt sich laut detailliert an etwas zu erinnern. Eine Beschreibung auszumalen. Dann merkt man (hier die Hauptperson), dass derjenige lügt. Das ist so toll getroffen, denn ich habe es bei Suchtkranken auch oft genau so erlebt...!!! Und auch an der Thematik mit den Suchtkranken und ihren Lügen fasziniert (wenn auch auf eine sehr traurige, wütende, betroffene Art) mich auch immer wieder, wie sehr ein Mensch sich selbst belügen kann. Und vor allem wie erfolgreich! Wenn schon jeder andere die Lüge entlarvt hat, der Lügner glaubt selbst noch fest und unumstößlich daran und verteidigt seine Wahrheit wütender als er es mit der wirklichen Wahrheit je tun würde. Denn wenn er davon abließe, müsste er sich mit der Wahrheit auseinandersetzen. Und dazu ist er nicht fähig. Deshalb lügt er überhaupt erst!



Das bringt es auf den Punkt.
Ich weiß nicht, ob es für dieses Buch Voraussetzung ist, aber wer Suchtkranke in seinem sozialen Umfeld hat oder hatte kann das Buch wahrscheinlich besser verstehen. Mir zumindest geht es so.

Herzlichst, Doris
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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Petra » Fr 6. Mär 2009, 16:12

Hallo Rachel, Doris und alle am Enright-Familientreffen-Interessierten! :-)

Ich muss noch ein bisschen was zu Anne Enright "Das Familientreffen" loswerden! Ich habe noch 50 Seiten vor mir. Und ich muss sagen, ich bin nun doch im Zweifel, ob ich so problemlos danach neuen Lesestoff finde! Denn so langsam stellt sich bei mir das ein, was Doris meinte: Das Buch muss man erst mal verdauen. Es ist besonders. Es ist intensiv.

Rachel, der "schwülstige" Erzählstil passt wirklich in diesem Fall. Denn die Protagonistin schwelgt in Erinnerungen. Sie bauschen sich vor ihrem geistigen Auge auf wie Wolken, die immer mehr werden, immer größer, immer üppiger. An den Stellen, wo sie sich gedanklich nicht in ihrer Kindheit befindet, ist der Schreibstil gar nicht so schwülstig, finde ich. Und in der zweiten Hälfte (oder zumindest im letzten Drittel) hat sie größtenteils mit diesen Erinnerungen abgeschlossen. Nämlich da, wo sie zum Kern ihrer Erinnerungen gelangt - dem schrecklichen Ereignis. (Wirklich schade, dass man es in einer Rezension schon vorweggenommen hat! Sowas finde ich immer sehr ärgerlich! Zwar wäre es im Nachhinein in dem Fall für mich nicht störend gewesen, wenn ich es gewusst hätte, aber man fühlt sich durch so etwas um einen Teil der Geschichte betrogen!)

D. h. auch wenn mir der Stil oft zu aufgebauscht war in all seinen aufgeplusterten Kleinigkeiten, so könnte ich mir diese Geschichte anders erzählt gar nicht vorstellen. Ich kann Anne Enright diesen Punkt, auch wenn er es mir stellenweise schwer gemacht hat, nicht vorwerfen. Es gehört einfach so.

Bewundern kann ich die Autorin aber besonders für ihren Erzählstil in den anderen Teilen des Buchs. Den Teilen in der Jetzt-Zeit. Eigentlich unbeschreiblich! Die Gedanken der Protagonistin. Ihr Beobachtungen - so nah am Leben. So genau beobachtet. Und so genau hinterfragt. Ich finde diesen Punkt an ihrem Buch ganz, ganz toll und überaus gelungen! In ihrer Einzigartigkeit fällt mir auch ein Vergleich mit Annie Proulx "Schiffsmeldungen" ein. Zwar hat sie auch wieder eine andere Art, aber eben ebenso eigen wie Anne Enright in "Das Familientreffen". Beide haben gemein, dass sie Beobachtungen, Gefühle und Stimmungen nicht so deutlich beschreiben, sie aber durch die eigenwillige Beschreibung umso deutlicher und schärfer werden. Kann ich wirklich schlecht beschreiben.

Aufpassen muss man beim lesen. Sonst verpasst man, was Anne Enright EIGENTLICH sagen will. Was die Protagonistin EIGENTLICH meint.

Beeindruckt hat mich inzwischen so manche Szene. Doris (oder wer sonst das Buch schon gelesen hat), Du wirst Dich an einige Stellen auch erinnern können. (Vorsicht Spoiler! Sie nehmen gewiss nicht die komplette Handlung vorweg, aber diverse Details. Wer das Buch also doch noch lesen will, sollte hier lieber stoppen.)

Z. B. als Veronika über ihr Leben in Anführungsstrichen nachdenkt. "Ihren Mann", "ihr zu Hause" und ihren "Sex". Das war eine dieser intensiven Lesemomente. Ich fand das toll, was sie da sagt/hinterfragt. Und wie sie es sagt/hinterfragt. Da stecken viele Gedanken hinter. Das ist nicht einfach heruntergeschrieben. Sondern sehr gekonnt in Szene gesetzt. Sehr gekonnt heraufbeschworen!

Oder als sie über Liams Selbstmord nachdenkt. Und über Gedanken, die sich festfressen können und ausbreiten. Ohne dass man ihnen Einhalt gebieten kann. Wie eine Krankheit, wie ein Geschwür. Ja, das stimmt... solch eine Macht können Gedanken haben, wenn man sie eben nicht mehr stoppen kann!
Und da auch das Sinnbild, das sie für die Selbstmordszene dann benutzt, als sie von Gedanken als Holzstückchen im Kopf sinniert, die sich mit Wasser vollsaugen, bis der Kopf schwer wird und ins Wasser fällt.
Man braucht für ihre Sätze oft viel Fantasie. Aber es bauen sich dadurch ungeahnt eindringliche Bilder und vor allem Gefühle auf! Für mich ein tolles Leseerlebnis!

Oder wie sie auf der Beerdigung Ita mit ihrem dickflüssigen Wasser beobachtet, das sie trinkt. Und die Reaktion ihrer Mundwinkel, als sie noch einen Schluck trinkt. Das war so toll formuliert. Diese Stellen schnüren einem den Hals zu. Denn sie drücken so viel mehr aus.

Eine der ganz intensiven Szenen war auch die, als Veronika ihrem Mann sagt (nein, ihm unverhofft einfach so an den Kopf wirft), dass sie einfach nicht weiß, wo er die Grenze zieht. (Eigentlich fragt sie sich ja Dinge über Liam und das was ihm angetan wurde. Eigentlich fragt sie sich wo JEDER Mann seine Grenze zieht. Aber dass sie ihren Mann da so angeht... da blieb mir fast das Herz stehen! Es war so unpassend und doch so passend! Es war so hart, so - ja, das ist das rechte Wort: ZORNIG!)

So richtig großer Zorn wütet auch in ihr als Liam unten aufgebahrt ist und sie ihre Mutter im Schlafzimmer noch mal besucht und als sie ihr gedanklich (aber nur gedanklich) entgegenbrüllt, WARUM sie ihre Frage nach dem Mann in Adas Haus (dem "Hausverwalter") gestellt hat. Dass diese Frage die Antwort darauf ist, warum Liams Weg so verlaufen ist - besonders mit diesem Ausgang, dem Selbstmord.

Hier fand ich auch gut, dass da der Satz hinter steht, dass man natürlich nicht weiß, welches die erste oder letzte Ursache ist.

Das fand ich aus einem persönlichen Bezug her sehr interessant. Denn in meiner Familie gibt es einen ganz ähnlichen Fall wie den von Liam. Wirklich ganz ähnlich! Und mit fast denselben Folgen. Natürlich kann auch da keiner sagen, ob das DER Grund oder der EINZIGE Auslöser für die Folgen war. Aber mindestens ein Teil des Grundes - das darf man gewiss unterstellen. Deshalb fasziniert mich Anne Enrights Buch umso mehr! Sie erfasst da etwas unfassbares. So nah hatte ich für mich das Thema noch nie, wie hier bei ihr. Ich kann damit sehr viel anfangen. Aber eben auch weil ich einen persönlichen Bezug herstellen kann. Das macht es für mich noch intensiver. Sowohl was Liams Vergangenheit angeht als auch die Folgen.

Auch ähnlich zu meinem persönlichen Fall: Die sehr auffällige Fixierung und Aversion der Protagonistin zu Männern, den männlichen Geschlechtsteilen, das ständige zum Thema machen (was die männlichen Geschlechtsteile angeht - mit abwertenden Gefühlen und Gedanken dabei), das ständige innere Gerede über Sex, die plötzliche Wut auf Männer (z. B. in der Szene wo sie ihren eigenen Mann angeht, dass sie einfach nicht wüsste wo seine Grenze ist - wie krass die Szene war!)...

... dachte ich anfangs noch, dass Anne Enright irgend ein Problem mit dem Sex oder mit Männern hat und das in einem Buch unterbringt, wo es teils (zumindest so extrem) nicht hinpasst, so weiß ich jetzt: Es passt! Und es gehört hinein! Für mich ist das absolut authentisch! Jetzt wo ich mehr von Veronika und ihren Schuldgefühlen Liam gegenüber weiß! Denn auch sie ist indirekt mitgeschädigt.

In meinem persönlichen Fall ging diese Aversion gegen Sex, Männer, die männlichen Geschlechtsteile allerdings vom Opfer selbst aus. Deshalb hatte ich das in Veronikas Fall erst nicht ganz nachvollziehen können. Aber je weiter ich las, umso klarer wurde es mir.

Auch der Zorn auf die Mutter deckt sich mit meinem persönlichen Fall in meiner Familie. Kann man auch wirklich nur zornig werden! Denn oft oder meistens wissen die was oder ahnen was. Oder waren halt einfach nicht präsent, obwohl sie es hätten sein sollen, um ihr Kind zu beschützen.

So, das alles musste ich eben doch mal los werden! Wie Ihr seht: "Das Familientreffen" beschäftigt mich sehr! Und inzwischen empfinde ich es als ein sehr eindringliches, besonderes (auch im Erzählstil) Buch, das in die Tiefe geht. Aber es bleibt in jedem Fall ein Buch, das nicht jeden so ansprechen wird. Und das auch gewiss nicht jedem gefallen wird.

Ich bin sehr froh, dass ich dazu gegriffen habe! Und sage Dir, liebe Doris, noch mal Danke für den Anstoß dafür!
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Doris » Mo 9. Mär 2009, 09:46

Liebe Petra,

bitte schön, gern geschehn.
Dass dir das Buch soviel Unterhaltung (wenn auch anstrengend) gebracht hat freut mich umso mehr, da ich den schwierigen Stoff ja kenne. Und wir wissen beide, dass es ein Buch ist, dass man zwar durchaus empfehlen kann, weil es uns mal in eine ganz andere Gedankenwelt bringt, dass es aber auch gerade deswegen nicht viele Freunde finden wird.
Und sehr ihr, Rachel und Petra, als schwülstig habe ich die Sprache überhaupt nicht empfunden.

Dass sie dafür den Booker-Price 2007 bekommen hat geht für mich völlig in Ordnung.


Ich habe gestern (seit langer Zeit mal wieder heulend)

"Die Stunde in der ich zu glauben begann" Wally Lamb fertiggelesen.
Zentrum des Romans ist das Attentat in Littleton an der Columbine High. Wer erinnert sich nicht daran? Um dieses Ereignis herum läßt Wally Lamb seinen Ich-Erzähler Caelum zu Wort kommen. Caelum zieht mit seiner dritten Ehefrau Maureen nach Colorado um die Ehe zu retten. Maureen ist eine Überlebende des Massakers von Littleton und was das nun für die beiden bedeutet (Maureen völlig traumatisiert, Caelum hilflos, überfordert aber bereit alles für Maureen zu tun) wird zur Zerreißprobe für Beide. Wobei sich auch Caelum seiner Vergangenheit stellen muss. 752 Seiten geballtes Leben.

Herzlichst, Doris
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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Petra » Mo 9. Mär 2009, 16:35

Hallo zusammen,
Hallo liebe Doris,

am Sonntag habe ich ein neues Buch begonnen. Brigitte Aubert "Im Dunkel der Wälder", das liegt schon Jahre in meinem SUB. Bei meiner Aufräum- und Ausmist-Aktion ist es mir wieder in die Hände gefallen und ich dachte: Das wolltest Du doch auch schon ewig lesen! Und kürzlich fiel mir ins Auge, dass es das auch als Hörbuch (ich glaube sogar eine ungekürzte Lesung) gibt, das sehr gut sein soll. So bestellte ich es mir, wollte es dann hören anstatt lesen. Griff zuvor aber doch noch mal zu dem Buch und las rein. Und dachte: NEIN! Das WILLST Du zuvor selbst gelesen haben! ;-)

Eigentlich ist es ein Thriller. Aber mich fasziniert an diesem Buch etwas ganz anderes: Es ist aus der Sicht (in der Ich-Form) einer behinderten Frau erzählt. Durch ein Unglück kann sie seit Monaten nicht mehr ihre Arme und Beine bewegen. Sie ist zudem blind und stumm. Sie kann lediglich hören und fühlen. Ist ansonsten aber vollkommen in sich selbst gefangen. Und die Welt durch IHRE Sicht zu erleben und mich mit IHREN Problemen konfrontiert zu sehen, ist für mich ein beeindruckendes Erlebnis. Schon beim reinlesen war mir klar: Diese Gedanken möchte ich "hautnah" durch sie miterleben. So musste das Buch ganz schnell aus dem SUB in meine Hände.

Und ich bin (nun auf Seite 40) total begeistert, wie die Autorin das macht. Genauso könnte es sein, wenn man auf Gedeih und Verderb anderen Menschen (Elise, so heißt die behinderte Frau in diesem Fall Yvette, der Haushälterin, die nun ihre Pflege übernommen hat, seit dem Unglück) ausgeliefert ist. Sie können ja nicht wissen, was man gerade möchte und was nicht. Ob einem kalt ist oder warm. Sie können nur das tun, was sie für uns für das beste halten. Oft entspräche das aber nicht dem, was wir wünschen. Jedenfalls finde ich das Buch aus dem Grund allein schon hochinteressant und außerordentlich gut umgesetzt!

Aber darüber hinaus meistert die Autorin es bisher ausgesprochen gut und glaubhaft, Elise in die Krimihandlung zu verstricken. Sie das alles miterleben zu lassen. Der Leser wünscht sich mit Elise gemeinsam EINGREIFEN zu können. Und ich bin gespannt, welche Mittel und Weg eine so ausgesprochen mittellose Frau finden wird! :-)

Tolle Idee! Super umgesetzt bisher! Ein Glücksgriff... ich bin so gespannt wie es weiter geht! Es hat mich von der ersten Seite an gepackt!

@Doris: "Das Familientreffen" war wirklich ein sehr intensives Buch! Ich habe auch eben meine Gedanken dazu in einer Rezension niedergeschrieben, bevor sie sich verflüchtigen. Wäre ja schade.

Und da habe ich genau mit solch einem Satz angefangen: Ein Buch, das man empfehlen möchte, aber auch wieder nicht. Da es so viel lesenswertes in sich birgt, man aber gleichzeitig weiß, dass es nicht jeden Leser erreichen wird.

Denn zum einen denke ich sollte man ein Grundverständnis zu den Themen des Buches haben. Da bin ich mir aber nicht ganz sicher. Zumindest ist das sicher hilfreich.

Zum anderen muss man für das Buch ein bisschen Geduld aufbringen, meine ich. Das ist nicht schlimm, denn die aufgebauschten Erinnerungen Veronicas gehören genauso dort hinein, finde ich. Sie sind sehr authentisch geschildert. Denn die Erinnerung blüht... sprießt... entfaltet sich... verliert sich schon mal in scheinbaren Nebensächlichkeiten. Aber auf einmal sticht ein Detail zu und bringt alles wieder auf den Kern. Das hat Anne Enright sehr kunstvoll gemacht. (Diese Stellen würde könnte ich als "schwülstig" durchgehen lassen. Ich finde kein besseres Wort. Wenn ich auch nicht finde, dass es das wirklich passende ist.)

Aber die anderen Stellen, die im Hier und Jetzt, die fand ich ganz einzigartig und so, so eindringlich! Dafür bewundere ich Anne Enright! Hier wird ihre Sprache brillant, sehr, sehr geistreich und hintergründig. Manchmal holt sie aus und haut mit ihren Worten unvermittelt dem Leser eine runter (stellvertretend für die Person, die gerade im Buch Veronicas Zorn abbekommt). Das fand ich sehr gelungen und unvergleichlich und unvergesslich!

Beides gehört in das Buch. Der Zorn aus dem Hier und Jetzt begründet sich erst aus den Erinnerungen. Und so muss Veronica sich dort erst mal durcharbeiten, bis dem Leser klar werden kann, woher die Wut und die Verzweiflung kommt.

Deshalb: Zwar haben mich die Stellen, an denen sich Veronica erinnert, angestrengt. Aber sie gehören m. E. genau so dort hinein. Und die Szenen im Hier und Jetzt haben für mich diese Strapazen mehr als aufgewogen!

Doris hat geschrieben:Dass sie dafür den Booker-Price 2007 bekommen hat geht für mich völlig in Ordnung.


Für mich auch! Denn es ist eines der intensivsten Leseerlebnisse, die ich in letzter Zeit hatte. Stellenweise zwar anstrengend, aber sehr gehaltvoll und ausdrucksstark. Ganz besonders. Ganz eigen.
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Rachel » Di 10. Mär 2009, 09:59

Hallo Petra,

viel Spaß mit "Im Dunkel der Wälder". Vor langer Zeit hatte mich das Buch auch einmal sehr interessiert, heute würde ich wohl eher zum Hörbuch greifen. Thriller in Buchform reizen mich nur noch ganz selten, auch wenn das bestimmt ein außergewöhnlicher ist.

Ich bin immer noch mit Bujold beschäftigt, was aber keine Überaschung ist. Immerhin hat das Buch knapp 800 Seiten und ich komme im Moment eher wenig zum Lesen. Wenn aber doch, habe ich sehr viel Spaß mit dem Buch, wie nicht anders erwartet. :) 100 Seiten verbleiben noch.
Zu "Dubliners" komme ich im Moment leider viel zu selten, die Erzählungen, die ich bisher gelesen habe, haben mir aber ausgesprochen gut gefallen.
Liebe Grüße,
Rachel

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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Petra » Di 10. Mär 2009, 11:36

Hallo Rachel,

das kenne ich: Thriller konnte ich eine Weile (ist jetzt aber schon wieder ein paar Jahre her) gar nicht mehr lesen. Ich konnte dem Genre nicht mehr genug abgewinnen. Einfach nur eine spannende (austauschbare) Szenerie und dann Effekte und ein rasantes Finale. Das war mir irgendwann nicht mehr genug, um mich 400 (oder wie viel auch immer) Seiten lang mit einem Buch zu beschäftigen. Doch dann kam die Phase in meinem Leben, wo es mir richtig schlecht ging und ich mich kaum auf etwas konzentrieren konnte. Da habe ich dann zu diesem Genre zurückgefunden. Einfach spannend unterhalten lassen ohne groß nachdenken zu müssen. Jetzt fängt es langsam wieder an, dass mir das nicht reicht oder mich eben nicht so lockt wie viele andere Bücher. Ich hoffe aber, dass ich mir die Thriller-Laune ein kleines Stück erhalten kann. Ab und zu nur mal durch die Seiten hecheln hat ja auch was.

Lieber mag ich die letzte Zeit abwechselnd mal eine zeitgenössische Erzählung (oder ab und zu mal einen Klassiker) und Krimis. Krimis der Art, in der die eigentliche Krimi-Handlung nicht so sehr im Vordergrund steht, als viel mehr die Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Oder psychologische Aspekte. Also ein genaues Beschäftigen mit dem Innenleben der Figuren.

Bei "Im Dunkel der Wälder" stelle ich fest (zumindest bisher), dass genau hierauf aber das Augenmerk liegt: Elise und ihre (sehr beschränkten) Möglichkeiten. Wie sich das anfühlt. Was man in dieser Lage so denkt. Wie man die Welt wahrnimmt und am Tag teilnimmt. Das finde ich hier richtig eindringlich und faszinierend geschildert! Die Krimihandlung an sich ist für mich im Moment nur der Rahmen und keineswegs Hauptaugenmerk.

Auch weiß ich bisher nicht, wo man bei dem Buch die Grenze ziehen will zwischen Thriller oder Krimi. Denn so ein klassischer Thriller ist es bisher - finde ich - nicht.

Wie auch immer. Ich bin sehr begeistert von "Im Dunkel der Wälder". Es ist für mich - wenn auch wieder auf vollkommen andere Art - ein besonderer Thriller wie z. B. "Grabesgrün". Wobei auch den empfinde ich eigentlich eher als Krimi. Und doch wird er oft als Thriller bezeichnet. (Jetzt komme ich - nicht zum ersten Mal - ins Grübeln, wodurch kennzeichnet sich genau ein Thriller und wodurch ein Krimi.)

Übrigens: Das Hörbuch zu "Im Dunkel der Wälder" soll auch sehr gut sein! Ich hätte ja bald dazu gegriffen. Aber - wie ich schon schrieb - das reinlesen hat mich dann doch festhängen lassen, weil ich diese Gedankengänge von Elise doch lieber näher miterleben wollte (was ich beim lesen besser kann als beim hören).
Liebe Grüße,
Petra


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Re: Ich lese gerade... (Leseerlebnisse 2009)

Beitragvon Rachel » Di 10. Mär 2009, 12:06

Hallo Petra,

gelegentlich kommt es schon noch vor, dass ich zu einem Thriller greife, meistens auch dann, wenn ich Stress habe und beim Lesen einfach nur abschalten möchte, aber prinzipiell gibt es einfach nur noch wenige, die mich thematisch wirklich reizen. Irgendwie habe ich einfach das Gefühl, dass sich die Plots ständig wiederholen und ich das meiste schon kenne. Da lese ich meist doch lieber etwas anderes.

Als Hörbuch greife ich immer noch häufiger zu einem Thriller, so wie ja auch aktuell. Und das Hören von "Ohne ein Wort" macht mir auch wirklich Spaß und unterhält mich ausgesprochen gut, als Buch hätte ich aber wohl eher nicht dazu gegriffen.

"Im Dunkel der Wälder" ist sicherlich etwas Besonderes, schon wegen der Hauptfigur. Als Buch würde es aber sicherlich trotzdem lange nicht an die Reihe kommen, als Hörbuch viel eher. Deshalb würde ich das einfach vorziehen, zu viele Bücher locken einfach noch etwas mehr.

Was die Unterscheidung Krimis/Thriller angeht, bin ich mir auch nicht sicher. Für mich steht bei einem Krimi das Verbrechen am Anfang, im Laufe der Geschichte wird dann aufgeklärt. Bei einem Thriller dagegen passiert das Verbrechen ja oft erst am Schluss. Hauptpersonen sind oft Privatpersonen, die irgendwie persönlich involviert sind und nicht jemand, der beruflich mit Verbrechen zu tun hat, wie bei Krimis. Aber, keine Ahnung, ob das stimmt, und dazwischen gibt es sicherlich viel.

"Grabesgrün" ist für mich übrigens eindeutig ein Krimi, weil eindeutig die Ermittlungsarbeiten und die Aufklärung eines begangenen Verbrechens im Vordergrund stehen. Auch wenn mit dem Rätsel um die Vergangenheit leichte Thrillerelemente mit hineinspielen.
Liebe Grüße,
Rachel

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