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Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: So 27. Mär 2016, 21:58
von Josie
Ich habe heute mit

David Mitchell: Wolkenatlas

begonnen und der erste Eindruck gefällt mir, vor allem die sprachliche "Spielerei". Sie ist allerdings schon gewöhnungsbedürftig und ich bin gespannt, ob man diese fast 700 Seiten lang, gepaart mit den verschiedenen, wohl eigentümlichen Geschichten und Lebenswegen in unterschiedlichen Zeitebenen, durchhält. So gut mir das jetzt gefällt, kann ich mir vorstellen, dass man dessen überdrüssig wird. Mal schauen... :)

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: So 27. Mär 2016, 23:03
von Didonia
Während der Leipziger Buchmesse wurde Reiner Engelmann für sein Buch Der Fotograf von Auschwitz und sein "Engagement für die Schwachen, Verletzbaren, Unterdrückten, Benachteiligten und Verlorenen der Gegenwart und der Vergangenheit" mit dem FDA Literaturpreis für Toleranz, Respekt und Humanität ausgezeichnet.

Ich hatte zwar eine andere Leseplanung, die ich nun aber umgestoßen habe zugunsten dieses Buches.

Hier könnt ihr die Verleihung und die Laudatio von Arndt Stroscher nachhören:

https://voicerepublic.com/talks/fda-lit ... nitat-2016

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: So 27. Mär 2016, 23:14
von Didonia
Das Vorwort zu diesem Buch wurde von Max Mannheimer geschrieben. Selbst ein Überlebender, der fast die ganze Familie im Holocaust verlor, engagiert er sich bis heute, vor allem jungen Leuten zu erzählen, was Krieg bedeutet.

Wilhelm Brasse wurde am 3. Dezember 1917 in Żywiec geboren. Die Mutter hielt die Familie, es folgten noch drei Brüder, beisammen und vermittelte den Jungs ihre inneren Werte.
Als der Vater während der Weltwirtschaftskrise seine Arbeit verlor, musste Wilhelm in die Lehre. Er wurde Fotograf und arbeitete nach der Gesellenprüfung bei seinem Onkel in Kattowitz im Fotoatelier.

Wilhelm war ein junger Mann, der, da die Stadt zur Hälfte mit Deutschen bevölkert war, auch Kontakt mit deutschsprachigen jungen Mädchen hatte. Sie zeigten ihm ihre Medaillons, in denen man normalerweise ein Foto des Liebsten hatte, doch in diesen befand sich ein Bild von Adolf Hitler. Das ließ ihn aufmerksam werden für die Anfänge und rasche Ausbreitung des Nationalsozialismus.
Kurz bevor der Zweite Weltkrieg ausbricht, kehrt Wilhelm Brasse wieder nach Hause zurück, weil er damit rechnet, in die Armee eingezogen zu werden. Viele Menschen entschieden sich für die deutsche Staatsangehörigkeit, doch Wilhelm Brasse lehnte ab, ja weigerte sich geradezu.

Seine Mutter war Polin, sie sprach nur polnisch, er zwar auch deutsch, aber Polnisch war seine Muttersprache, und er dachte polnisch, er fühlte polnisch, er war Pole.


Mit ein paar Freunden wollte er nach Frankreich, sich dem Widerstand anschließen. Doch man erwischte sie und nachdem er sich nach vier Monaten Gefängnis immer noch weigerte, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, ging sein Transport in Richtung Westen.

Wilhelm Brasse kommt am 31. August 1940 mit vielen anderen Männern, eingepfercht in einem Viehwaggon, in Auschwitz an. Er war gerade mal 23 Jahre jung.
Seit seiner Ankunft, als sie aus den Waggons getrieben und gleich mit Holzknüppeln geschlagen wurden, begannen all seine Fragen mit dem Wörtchen "Warum". Und es waren die Fragen, die ich mir heute noch stelle:

"Warum werden Menschen hier so gedemütigt?"
"Warum werden sie geschlagen?"
"Warum greift niemand ein?"
"Warum macht man uns hier zu Opfern?"
"Warum haben die Täter offenbar vergessen, dass sie Menschen sind? Aber sind sie es noch? So, wie sie sich verhalten?"


Die Männer durften nur ein Taschentuch und einen Hosengürtel behalten. Alles andere wurde ihnen abgenommen. Aber sie hatten eh nur das, was sie am Körper trugen. Und dann nahm man Wilhelm Brasse den Namen und er war nur noch eine Nummer: Häftling Nummer 3444.

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: Mo 28. Mär 2016, 12:37
von Didonia
Und so begann der Häftlingsalltag von Wilhelm Brasse, der unmenschlicher nicht sein kann.

Es ist wortwörtlich nicht zu fassen, was man den Häftlingen angetan hat. Wie soll man die Täter benennen? Sind es Monster? Das personifizierte Böse? Sind das wirklich noch Menschen?
Schon nach den ersten 50 Seiten fiel es mir so schwer, weiterzulesen. Dabei arbeitet Reiner Engelmann nicht mit Emotionen. Er zeigt durch Wilhelm Brasse die Fakten auf, das, was wirklich geschah.

Immer auf der Suche nach mehr Essensrationen, ging Wilhelm Brasse das lebensgefährliche Risiko ein, sich immer wieder neue Arbeitskommandos zu suchen.
Bis er am 15. Februar 1941 eine neue Aufgabe erhielt, in der er seinen Beruf als Fotograf ausführen würde. Er wurde in einen neuen Block verlegt, was wesentliche Lebensverbesserungen mit sich zog. Das erste Mal, seit er in diesem Lager ist, würde er in einem Bett schlafen. Es gab eine richtige Toilette und einen Waschraum, in dem er sich richtig waschen konnte.
Wilhelm Brasses Arbeit bestand nun darin, Fotos von Häftlingen zu machen. Jeweils drei Stück: mit Mütze, ohne Mütze von vorne und im Profil. Und sie durften keine Verletzungen im Gesicht haben.
Ab September 1941 wurden in Auschwitz erste Versuche durchgeführt, Häftlinge zu vergessen. 600 sowjetische Gefangene wurden dafür selektiert. Bei den ersten Versuchen dauerte es sechs Tage, bis alle Menschen im Raum tot waren.

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: Di 29. Mär 2016, 08:42
von Didonia
Ich möchte nicht enden, ohne Czeslawa Kwoka dem Vergessen zu entreißen. Wilhelm Brasse beschäftigten viele Bilder, aber der Anblick dieses Mädchens verfolgte ihn wochenlang und ließ ihn nicht mehr los.

Czeslawa Kwoka wurde zusammen mit ihrer Mutter am 13. Dezember 1942 ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau eingeliefert und Wilhelm Brasse musste auch sie fotografieren. Das junge Mädchen verstand überhaupt kein Deutsch. Als ein weiblicher Kapo ihre Nummer aufrief, konnte sie nicht reagieren. So schlug der Kapo sie mit einem Stock mitten ins Gesicht. Da er diesen weiblichen Kapo nicht kannte, konnte er nichts machen. Es kam ihm vor, als hätte er selbst diesen Stockschlag erhalten.

Ich wünsche diesem Buch viele Leser. Und nicht nur solche, die eh schon der Meinung sind, dass so etwas nie wieder passieren darf.

Ich wünsche, solche Bücher würden viel mehr an Schulen gelesen werden. Ich wünsche solche Bücher vor allem Lesern, die sich durch unsere politischen Parteien so verunsichern lassen und aus Protest den verkehrten Leuten hinterherlaufen.

Den Holocaustleugnern sei gesagt: Glaubt ihr wirklich, dass sich solche Erlebnisse ein normaler Mensch aus den Fingern saugt? Ihr solltet euch schämen, diese Menschen Lügner zu nennen.

Manchmal frage ich mich, wie die Überlebenden ihr Leben nach der Befreiung aushalten konnten. Mit diesen Erinnerungen. Mit den Gräueln, die sie über Jahre hinweg tagtäglich in Konzentrationslagern erleiden mussten. Konnten sie noch eine Nacht lang ruhig schlafen? Ohne Albträume?

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: Mi 30. Mär 2016, 10:34
von JMaria
Hallo zusammen,

@Didonia,
wenn ich deine Buchbeschreibung lese, wird mir ganz traurig zu mute. Dein Projekt Gegen das Vergessen ist sehr intensiv. Wie kommst du danach wieder zur Ruhe? Denn ich denke, es gehen dir die Geschichten lange nicht aus dem Sinn.

ich habe die Osterfeiertage mit abenteuerlicher Unterhaltung begangen und zwar mit "Rausch" (Signal and Noise) von John Griesemer. Ein dicker Wälzer, bei dem ich die Hälfte bezwungen habe.

Es geht um die Verlegung des ersten Transatlantikkabels und einem Zeitraum von 1857 bis 1866 (ungefähr) mit allem Pipapo der damaligen Zeit. Das damalige London ist großartig eingefangen, sogar Dickens und Marx haben kurze Auftritte; reale Persönlichkeiten agieren neben gut gelungenen fiktiven Protagonisten. Der Große Gestank, Geisterbeschwörung, der Bau des damals größten Dampfschiffes der Great Eastern, der Ingenieur Brunel mit seinem Tunnelbau, das alles kommt darin vor. Dann gibt es noch einen Reporter (Jack Trace) der alles dokumentiert und zeichnet und in sich wohl die Person John Leech vereinigt, der für den Punch zeichnete u.a. den Silent Highwayman, zur Zeit des Großen Gestankes herausbrachte.

Hier zu sehen...

http://www.museumoflondonprints.com/ima ... -life-1858

oder diese Zeichnung.. aus der Themse erwächst Cholera u.a. Krankheiten...
http://punch.photoshelter.com/image/I0000sNjL8e0I2Ms


Das Buch zu lesen macht großen Spaß, gefällt mir sehr gut.

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: Mi 30. Mär 2016, 10:57
von Didonia
Ja, Maria, das ist wirklich nicht leicht. Und ich muss sagen, dieses Buch war bisher mein schwerstes. Ich weiß nicht, wie oft ich mir vor Schreck die Hand vor den Mund gelegt habe, wie oft es mir kalt den Rücken runtergerieselt ist. Und ich mache wirklich nicht eins auf Horror oder so.
Was ich hier berichtet habe, ist nur die erste Hälfte des Buches. Ab der zweiten Hälfte musste Wilhelm Brasse dann medizinische Fotos machen. Ich sage nur Mengele. Er musste den Moment als Foto festhalten, wo man Menschen die Todesspritze setzte und noch Schrecklicheres.

Er verfluchte Gott, dass er den Menschen das antat, er verfluchte seine Mutter, ihn jemals geboren zu haben. Nur, um es im gleichen Moment wieder zurückzunehmen.
Ich denke, wir können uns wirklich überhaupt nicht vorstellen, was diese Menschen erleiden mussten. Da können wir noch so viele Dokus sehen, in denen nur alles angedeutet wird.

Nach diesem Buch werde ich lange brauchen, um davon Abstand zu bekommen. Deshalb lese ich sie in größeren Abständen. Und manchmal denke ich, ich würde sie gar nicht mehr lesen, wenn ich nicht drüber schreiben würde.

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: Fr 1. Apr 2016, 13:08
von Didonia
Der Bettler, der Glück bringt von hans Fallada ist mein nächstes Buch..
Fallada steht ja mittlerweile von den Schriftstellern bei mir an erster Stelle. Ich habe so gut wie alle Bücher von ihm stehen, die ich so nach und nach lesen werde.

Von Hans Fallada habe ich bisher diese Bücher gelesen:

Jeder stirbt für sich allein
Kleiner Mann, was nun?
Der Trinker
Der eiserne Gustav

Alles wundervolle Bücher, trotz der schweren Thematik.

Bei Der Bettler, der Glück bringt handelt es sich um kurze Geschichten. Birgit Vanderbeke hat ein Nachwort dazu geschrieben. Das Buch werde ich wohl nicht so einfach am Stück weglesen. Werde mir also mehr Zeit lassen und ein Zweitbuch dazu nehmen.

Klappentext
Natürlich zählen die berühmten "Geschichten aus der Murkelei" zu Falladas schönsten. Noch zu entdecken sind hingegen seine Erzählungen, die er seit den zwanziger Jahren neben der Arbeit an den Romanen schrieb - für Zeitungen zum Broterwerb, zur "Erholung", als Skizze für das nächste große Werk.
Die Stoffe gewann er fast immer aus Erlebtem, und nicht zuletzt erweist sich Hans Fallada in diesen 33 Geschichten aus 3 Jahrzehnten einmal mehr als Chronist der "kleinen Leute" und ihrer Alltagsmühen: amüsant bis bitterböse, schonungslos offen oder hoffnungslos romantisch.

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: Fr 1. Apr 2016, 13:09
von Didonia
Ach ja, mein Zweitbuch ist Die Bestien von Belfast: Ein Fall für Karl Kane, Bd. 1 von Sam Millar. Von ihm hatte ich kürzlich "True Crime" gelesen, von dem ich ganz begeistert war.

Re: Leseerlebnisse 2016.... Ich lese gerade...

BeitragVerfasst: So 3. Apr 2016, 10:26
von Barbara
Hallo Ihr Lieben,
liebe Didonia

ich lese gerade ein wunderschönes Buch Die Sehnsucht des Vorlesers

Ich habe zwar erst die ersten 40 Seiten gelesen, bin aber schon begeistert. Begeistert von der inhaltlichen Idee, der Sprache und der Art der Darstellung.

Eigentlich ist es ein Buch für uns alle hier.