von JMaria » So 1. Jan 2012, 15:29
Hallo zusammen,
"Der Friedhof in Prag" habe ich beendet und es hat mir gut gefallen. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl einen Zugang zu Ecos Stil zu bekommen. 2/3 des Buches ist geprägt von einem langsamen geschichtlichen Aufbau der damaligen Zeit, der Belle Epoche, aber eher ist es ein gefühlter Niedergang. Das letzte Drittel widmet sich dem Sammeln von "Daten" für die gefälschten Protokolle, das liest sich schwerfällig und ist mMn der schwache Teil des Buches, aber man kann zwischendrin immer wieder den Humor genießen.
Sehr opulent und raffiniert erzählt, da der Erzähler in einem Tagebuch mitliest, das von der Hauptfigur Simonini geschrieben wird, dieses Tagebuch wiederum von einem anderen ergänzt wird, der sich immer wieder einmischt (klärt sich am ende auf, man hat als Leser einen gewissen Verdacht), das Tagebuch wird in einem Zeitraum von März bis April 1897 mit Unterbrechung noch im November/Dezember 1898 geschrieben, umfasst aber einen geschichtlichen Zeitraum von 1830 bis 1898.
Man sollte geschichtliches Interesse mitbringen, die Protokolle der Weisen von Zion braucht man meines Erachtens nicht weiter zu kennen, das ergibt sich aus der Geschichte.
Erstaunlich ist, wie eine gut eingefädelte Intrige, Täuschung und Fälschung, auch vom Staat unterstützt, die Menschen fatal beeinflußt. Wer weiß, was die politische Bühne uns heute alles auftischt.
Zitat:
(...) ....viele anonymen Briefe schienen es zu beweisen, auch weil man nur von etwas zu reden braucht, um es existieren zu lassen).... (...) S. 387
Zitat:
(...)... Nie, nie, niemals darf man mit echten oder halbechten Dokumenten arbeiten! Wenn sie irgendwo existieren, könnte jemand sie finden und beweisen, dass etwas nicht stimmt... Um überzeugend zu sein, muss das Dokument ganz neu geschaffen werden, und vom Original darf man möglichst gar nichts zeigen, sondern nur wie vom Hörensagen reden, damit man zu keiner existierenden Quelle zurückgehen kann. So wie es bei den Heiligen Drei Königen der Fall war, von denen nur Matthäus in zwei Versen gesprochen hat, ohne zu sagen, wie sie hießen noch wie viele sie waren, noch dass sie Könige waren, alles übrige sind später hinzugekommene tradierte Gerüchte. Und doch sind diese Drei Könige für die Leute so wahr wie Josef und Maria, und soweit ich weiß, werden sogar ihre sterblichen Reste irgendwo verehrt...(...) S. 235
in den obigen Zitaten erkennt man gut das Prinzip, wie sich eine Täuschung glaubhaft über Jahrhunderte halten kann.
Mich hat der Roman auf angenehme Weise gefordert ! Es war wie ein orientalisches Märchen erzählt, opulent und labyrinthenhaft.
Schöne Grüße, Maria
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