von Petra » Fr 22. Jan 2010, 17:08
Hallo zusammen,
jetzt wird’s etwas länger. In der Mittagspause habe ich weitergelesen in „Der bunte Schleier“. Und (wer sich nicht so viel vorwegnehmen lassen möchte, der sollte jetzt nicht weiter lesen, denn ich verrate jetzt einen wichtigen Punkt) soeben wurde Kitty nachts geweckt mit der Nachricht, dass ihr Mann erkrankt ist. An seinem Krankenbett bittet sie ihn abermals um Verzeihung (bisher hat er sich dazu immer ausgeschwiegen, wenn sie angedeutet hat, dass sie seine Verzeihung erbittet oder wissen möchte, ob er ihr noch böse ist) und sein einziger und auch letzter Satz ist mir sehr unter die Haut gegangen. Weil er so vieldeutig ist und so vieles beinhaltet. Sein letzter Satz: "Der Hund war's, der dran starb"
Zunächst ließ mich der Satz bedeutungsschwanger aber ratlos zurück. Ähnlich wie Kitty, die glaubte, dass Walter unzusammenhängende Dinge sagte, im Delirium. Doch dass dem nicht so ist, weiß der Leser. Aber was bedeuten diese letzten Worte. Das ließ mich nicht mehr los.
Meine ursprünglichsten ersten Gedanken dazu waren, dass Walters Liebe zu Kitty mit der eines treuen Hundes zu seinem Herrchen vergleichbar ist. Und dass es ja nur dieses treue Geschöpf ist, das stirbt. Aber mir war damit auch klar, dass ich damit die ganze Wucht der Bedeutung nicht erfasst habe.
So erarbeitete ich mir per Internet und gemeinsam mit Arno am Telefon (der auch im Internet auf die Suche ging) was wohl dahinter steckt. (Edit: Hätte ich ein wenig weiter gelesen wäre mir der Verweis auf den Ursprung dieses Satzes "Elegie auf einen tollen Hund" von Goldsmith dort präsentiert worden. Sowohl Maugham erwähnt den Ursprung in dem Roman, als auch die Übersetzerin in einer kleinen Anmerkung.)
Wir bekamen heraus, dass Maugham sich mit diesem Satz folgender Elegie von Oliver Goldsmith bediente:
An Elegy On The Death Of A Mad Dog
Good people all, of every sort,
Give ear unto my song;
And if you find it wondrous short,
It cannot hold you long.
In Islington there was a man,
Of whom the world might say
That still a godly race he ran,
Whene'er he went to pray.
A kind and gentle heart he had,
To comfort friends and foes;
The naked every day he clad,
When he put on his clothes.
And in that town a dog was found,
As many dogs there be,
Both mongrel, puppy, whelp and hound,
And curs of low degree.
This dog and man at first were friends;
But when a pique began,
The dog, to gain some private ends,
Went mad and bit the man.
Around from all the neighbouring streets
The wondering neighbours ran,
And swore the dog had lost his wits,
To bite so good a man.
The wound it seemed both sore and sad
To every Christian eye;
And while they swore the dog was mad,
They swore the man would die.
But soon a wonder came to light,
That showed the rogues they lied:
The man recovered of the bite,
The dog it was that died.
Mein Englisch ist ja nicht so gut, aber Arno war so nett mir das ins Deutsche zu übersetzen. Hier ist die Rede von einem liebenswerten Hund und einem gewöhnlichen Menschen (einen, von dem es viele gab). Wir wurden uns darüber einig, dass es so gemeint ist, dass der Hund (Walter) seinen Menschen/Herrn (Kitty) gebissen hat (er versuchte sie zu verletzen/töten indem er sie dem drohenden Tod durch die Choleraepidemie aussetzte, als er sie mit in das Cholera-Gebiet mitnahm) und die Leute (hier auch sicher die Leser) denken er sei verrückt geworden (eine Frau mit ins Choleragebiet mitzunehmen). Doch letztendlich war er selbst (der Hund) es, der dran starb (an der Cholera).
Dann ist Arno noch darauf gestoßen, dass Oliver Goldsmiths Elegie wiederum auf einem Gedicht von Voltaire beruht. Voltaire und ein gewisser Fréron lagen sich ziemlich heftig in den Haaren. Voltaire machte ein Spottgedicht über seinen Widersacher:
Neulich, auf dem Grund eines Tales,
biss eine Schlange Jean Fréron.
Was meinen Sie, was geschah?
Die Schlange war es, die krepierte.
Voltaire bringt zum Ausdruck, dass die Schlange viel harmloser als ihr Gegner ist (den die Schlange gebissen hat) und an seinem eigenen Biss zugrunde geht. Genau wie bei Walter und Kitty – die Walter mit ins Choleragebiet nimmt und schließlich nicht Kitty sondern er selbst daran stirbt.
Dieses Gedicht drückt aber auch Voltaires Verachtung für Fréron aus, den er für schlechter/gefährlicher einstuft als eine Schlange. Und Walter wiederum schätzt Kitty nach ihrem Ehebruch ja auch als schlechten Menschen ein. Und schließlich geht nicht sie, die Schlechte zugrunde, sondern er selbst.
In einem Blog im Internet (eine gewisse Snowqueen) wir auch begeistert über „Der bunte Schleier“ geschrieben, u. a. wird auch dieser letzte Satz Walters hervorgeholt. Hier wird auch der Hund als Symbol der Treue gesehen. Und Walters Verachtung sich selbst gegenüber, der als treuer Ehemann – einem Hund gleich – nicht imstande war, seinen „Eigentümer“ (Kitty) zu verlassen/verraten (als sie Schwanger ist, will er sie ja auch fortschicken, in Sicherheit – somit will er auch nicht in allerletzter Konsequenz ihren Tod).
Denn er ist ja nicht imstande die Zuneigung und sein Band zu ihr zu druchbrechen (deshalb verachtet er sich ja wohl auch selbst – das sagte er ja auch an einer Stelle als sie ihn mal fragte ob er sie verachte. Nein, er verachte sich selbst. Sie will wissen warum er sich selbst verachtet. Erhält aber keine richtige Antwort.), obwohl er es müsste. Somit sagt er ihr in gewisser (sehr entfernter Weise) mit diesem letzten Satz noch mal, dass er sie hündisch liebt. Verzeihen tut er ihr aber trotzdem nicht, sondern ist wohl nur nicht imstande aufzuhören sie zu lieben.
Verzeihen kann er Kitty somit nicht. Und sich selbst auch nicht. Er ist somit ihrer Bitte um Verzeihung nicht nachgekommen.
Ich wäre sehr neugierig auf andere Meinungen/Stimmen dazu. Egal ob jetzt oder irgendwann wenn andere das Buch mal lesen. Mich hat der Satz sehr mitgenommen. Überhaupt Walters Tod. Und Kitty, die jetzt zurückbleibt mit diesem Satz. Noch hat sich ihr die Bedeutung nicht erschlossen. Ich bin mal gespannt ob Maugham den Satz durch Kittys Gedanken noch mal zu erläutern versucht.
Maugham schrieb im Vorwort ja, dass ihn Dantes „Inferno“ zu diesem Buch inspiriert habe. Ich wäre sehr neugierig darauf, was Kenner von Dantes „Inferno“ dazu zu sagen haben. Maria, Du schriebst schon mal was von einer Umkehrfunktion. Maugham schreibt über Dantes „Inferno“, dass dort der Mann seine Frau in den Tod lockt, richtig? Sie also umbringt. Walter macht hier ja einen Rückzieher als er sie wegschickt, als sie schwanger ist (auch wenn sie freiwillig dann nicht mehr gehen mag) und stirbt selbst. Das ist ja eigentlich schon die Umkehrfunktion. Aber vielleicht hast Du dazu noch mehr Gedanken, die ich ansonsten verpasse, weil mir Dantes „Inferno“ nicht geläufig ist – nur in dem kurzen Abriss aus Maughams Vorwort. Deine Gedanken dazu würden mich interessieren!
Rolf Vollmann schreibt in „Die wunderbaren Falschmünzer“, dass „Der bunte Schleier“ einer seiner schwächeren Romane ist. Das möchte ich noch mal für mich selbst hinterfragen (also ob ich es auch so sehe), wenn ich mehr von Maugham gelesen habe. Ich habe ja noch keinen Vergleich. Was er mir in diesem Roman alles vermittelt hat ist jedoch schon so viel und auf so eine intensive Weise, dass ich die Stellung dieses Romans innerhalb seines Gesamtwerks für mich persönlich dann doch noch mal durchdenken möchte, wenn ich mehr von ihm kenne. (Nicht dass ich das vollkommen in Abrede stelle, aber mich erstaunt einfach so sehr, dass er mich so erwischt hat und das eines seiner schwächeren Werke sein soll.)
Auf den Film mit Edward Norton und Naomi Watts bin ich jetzt umso mehr gespannt. Ich hatte mir vorab schon ausgemalt, dass der Film vielleicht anders verläuft als das Buch und im Internet stand irgendwo auch, dass es Änderungen gibt, wohl auch in Bezug darauf ob die beiden zueinander finden. Ist ja oft so bei Verfilmungen. Hier kann ich es mir gut vorstellen und ich würde es mir vielleicht auch wünschen Kitty und Walter einem anderen, besseren Ende zugeführt zu sehen. Einerseits weil ich denke, dass ein Film sowieso damit überfordert sein muss die komplett Tragweite von Maughams Roman abzubilden, zumal so viel in den Figuren selbst vorgeht (was ja visuell immer schlechter und ungenauer darzustellen ist als im Buch). Andererseits weil ich mir für Walter (und dann auch für Kitty) gewünscht habe, dass Kitty zu Walter eine Liebe aufbaut, nachdem sie erkennt, wie sehr sie verkannt hat, welch wertvollen Menschen sie da an ihrer Seite hat. (Aber das dann bitte nur, wenn er auch nicht stirbt! Sonst fände ich solch eine Änderung vollkommen deplaziert! Wenn schon, denn schon!)
Natürlich entspricht das absolut nicht dem was Maugham erzählen möchte. Eben dass weder Kitty eine Liebe zu Walter aufbauen kann, noch Walter Kittys Entwicklung anerkennen und ihr verzeihen kann. Aber in dem Fall würde es mir vielleicht genügen, die wahre Geschichte im Buch kennenzulernen. Einfach weil ich es mir sehr für Walter und auch für Kitty gewünscht hätte. Mal sehen, ich werde berichten wie der Film dann ist und auf mich wirkt. (Edit: Nun weiß ich wie er ausgeht. Wollte es wissen und habe mich bei den Amazon-Rezensionen durchgelesen. Mal sehen wie zufrieden ich micht dem Ende sein werde. Ich fürchte nicht so ganz. Na ja, einfach mal schauen. Der Film soll schon toll sein - allein Edward Norton ist sicher eine ganz tolle Besetzung! Aber ich bin nun umso mehr froh, dass ich zuerst das Buch gelesen habe!)
Das Buch macht jedenfalls großen Eindruck auf mich. Die Szene als Walter stirbt und Kitty merkt, dass sie nichts mehr tun kann, um ihr Unrecht an ihm wieder gut zu machen, hat mich sehr mitgenommen! Wenn Figuren so berühren können und ein Autor so viel Leben, so viel Mensch abbilden kann, dann ist das schon was ganz großartiges!
Mir bleiben noch 60 Seiten, die ich wohl am Wochenende schaffen werde.
Edit: Auch wird noch auf einen möglichen Selbstversuch Walters hingewiesen, der Ursache für die Ansteckung gewesen sein könnte. Das steht ein wenig in dem Zusammenhang, in dem Kitty auch Walters letzten Satz (der Vers von Goldsmith) hinterfragt. Ob auch hier eine Deutung des Verses in Bezug auf den Selbstversuch möglich ist, ist mir noch nicht ganz klar. Wollte es hier aber wenigstens der Vollständigkeit einfließen lassen. Es scheint aber auch auf die Umkehrung von Dantes "Inferno" zu deuten. Denn so hat er sich selbst den Tod gebracht, anstatt wie bei Dante der Frau. Diesen Gedanken wollte ich hier gerade noch festhalten.