von Petra » Do 18. Apr 2019, 09:11
“City on Fire“ habe ich beendet. Ich habe länger gebraucht als gedacht, da die Renovierungsarbeiten mich an vielen Tagen vom Lesen abgehalten haben. Und der Roman war mit seinen 1.070 Seiten ja auch nicht gerade kurz. Interessiert hatte mich, ob er (gerade auch wegen seiner Länge) den Erwartungen gerecht wird oder nicht. Die Erwartungen wurden von der Literaturkritik geschürt, die den Roman bei Erscheinen gefeiert hatten. Gebremst wurden die Erwartungen durch Meinungen von Lesern (z. B. Kundenrezensionen bei Amazon), die den Roman zum Teil als überbewertet, zu lang und inhaltlich zu dünn empfunden haben. Ich kann abschließend sagen, dass mir der Roman viel Spaß gemacht hat, ich habe ihn gerne gelesen, ich habe mich nicht gelangweilt. Aber Bedeutung trägt der Roman doch wenig in sich. Ein Großstadtroman, der aus dem Blickwinkel verschiedener Figuren erzählt wir, deren Wege sich durch gewisse Ereignisse kreuzen. Das war gut gemacht, wenn auch mit Schwächen im Finale (der Stromausfall 1977 in New York), wo sich dann alles zusammenläuft. Doch mehr war es dann auch nicht. Da ich vorgewarnt war, hatte ich mir nicht zu viel erwartet, was sicher eine gute Haltung ist.
Nun lese ich “Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari. Der Roman erzählt u. a. von Grenzen. Die meisten von Menschen selbst gesetzt, das gilt sowohl für innere wie auch für äußere Grenzen. Aber auch Grenzen des Verstandes. Oder auch der Grenzenlosigkeit des Verstandes. Hier (in der Fabrik) ist noch alles möglich. Ein Wolf kann auf dem Gelände sein, oder auch nicht.
Mir begegnen beim Lesen dieses stillen und eigenwilligen Romans so viele Gedanken. Gedanken darüber, was wir sehen, und was unser Verstand aus dem Gesehenen macht. Sehr toll fand ich einen Gedanken, indem die Protagonistin ein Bild von Ikarus betrachtet, der (mit ausgebreiteten Flügeln kopfüber) ins Meer fällt, und dass der betrachtete Ikarus eigentlich nicht fällt, sondern auf ewig auf dem Bild mit ausgebreiteten Flügeln in der Luft schwebt. Und das er nur fällt, weil sie die Geschichte von Ikarus kennt, und weil sie die Gesetze der Schwerkraft kennt. Und weil sie an beides glaubt; an die Gesetze der Schwerkraft und an Geschichten. Deshalb sieht sie auf dem Bild den fallenden Ikarus.
In einer anderen Episode geht es um einen dunkelhäutigen Mann, der vom Himmel fällt. Lose, einer der letzten Arbeiter in der bald stillgelegten Fabrik, sieht den Vorgang, doch nimmt es nicht als solches wahr. Weil der Verstand sagt, was man dort wahrscheinlich wahrgenommen hat (einen heruntergekommenes Teil eines Sateliten vielleicht, oder es fiel gar nichts herunter, sondern eine Lichtreflexion hat das vorgetäuscht); und da Menschen nicht vom Himmel fallen, kommt ein vom Himmel gefallener Mensch als Möglichkeit auch nicht in Betracht. Doch genau das war es: ein aus einem Flugzeugfahrwerk gefallener blinder Passagier.
Was mir stark imponiert ist, dass diese Gedanken unaufgeregt und nicht bedeutungsschwer daher kommen. Das passiert, da die Protagonistin in der fast stillstehenden Fabrik kaum etwas erlebt, und dadurch viel Raum für Details bleibt, die sonst unbemerkt an uns vorüber gehen. Im hektischen Treiben sind das unwichtige Gedanken, die nicht zu Ende geführt werden. Doch die Protagonistin hat Zeit und es herrscht sehr viel Ruhe, und richtet ihren Blick auf diese scheinbar unwesentlichen Details, die jedoch gewichtiger sind als so manch angenommene Wichtigkeit, die uns in unserem hektischen und vollen Leben beschäftigen.
Ich folge der Protagonistin (ihren Namen erfahren wir nicht, auch nicht den des Chefs und den des Kochs, wohl aber ihres Kollegen und eines Farbrikarbeiters) mit großem Interesse. Ein sehr eigenwilliger (mit Mut zur Andersartigkeit erzählter) Roman, der durch seine ungewöhnliche Perspektive und zurückgenommener Erzählweise den Blick schärft und auf bemerkenswerte Dinge richtet. Ich kann gut verstehen, dass dieses Buch für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Ich bin gespannt was mir noch in diesem Roman begegnet, hier ist tatsächlich noch alles möglich.
Spannend ist dieser kurze (190 Seiten) Roman auch im direkten Vergleich zu dem prallen Roman (über 1.000 Seiten) „City on Fire“, den ich zuvor las. Wo es Garth Risk Hallbergs nicht unerschöpflichen Worte doch relativ wenig Bedeutung in sich tragen, transportiert Gianna Molinari mit ihrem reduzierten Roman so viele Gedanken. Das soll nicht wertend für oder gegen das eine oder das andere Buch sein, aber in dem direkten Vergleich ist es so auffällig, dass ich es äußern wollte.
@Steffi: Steffi, du liest “Der Verräter“. Ich hatte das Buch zuletzt auch in der engeren Auswahl, und ich habe vor es demnächst zu lesen. Ich werde deinen Eindrücken gespannt folgen. Ich bitte um weiteren Bericht.
@Maria: "Ein Bild von Lydia" klingt ebenfalls sehr lesenswert. Schöne Lektüre, wie mir scheint. Danke für deinen Bericht.