Sonja hat mich auf Lily Brett sehr neugierig gemacht. Meine eigene Erfahrung mit der Autorin beschränkte sich auf ein Hörbuch, das ich vor vielen Jahren gehört hatte. „Chuzpe“ hatte mir damals sehr gefallen. Durch den Austausch mit Sonja habe ich erfahren, dass es in „Zu viele Männer“ ein Wiedersehen mit den Hauptfiguren aus „Chuzpe“ gibt. Mit Ruth Rothwax und ihrem Vater Edek, der mir unvergessen bleibt. Bei meiner weiteren Recherche stieß ich auf weitere interessante Infos. Es gibt einen dritten Roman mit Ruth Rothwax: „Uncomfortably Close“, leider nicht ins Deutsche übersetzt. Und ich fand heraus, dass Lily Bretts Figuren auch in anderen Romanen eigentlich immer Alter Egos ihrer Selbst sind, und auch ihrer Eltern.
Lily Brett hat aber auch viele Erzählungen, die stets autobiografisch sind, geschrieben. Oder sagen wir besser Essays. Die Bände „New York“, „Noch immer New York“ und „Zu sehen“, sowie „Alt sind nur die anderen“ habe ich mir zugelegt. Begonnen habe ich mit „Zu sehen“, es reizte mit aufgrund der Themenüberschriften (u. a. Altern, New York, Mein Körper, Essen, Tod, Liebe, Schreiben) sehr. Beim reinlesen zog mich Lily Brett gleich in ihren Bann. Ich konnte mich ihren Worten auf der Stelle nicht mehr entziehen. Und habe mich auf den ersten Seiten schon in sie verliebt.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Denn bei meinen Recherchen bin ich auch auf kritische Worte gestoßen, auch zu diesem Buch. Die meisten lieben es, lieben die Autorin. Aber es wird auch angemerkt, dass die Geschichten alle von ihr selbst erzählen, und sie offenbar sehr gerne über sich spricht, und ein bisschen selbstverliebt wirkt. Und dass sie ständig ihre unzähligen Psychoanalysen erwähnt. Ja, das stimmt! Aber wegen mir kann sie noch Tausende Seiten weiter von sich und ihren Analysen erzählen. In genau der ihr eigenen Art. Und das überrascht mich, denn ich hätte von mir angenommen, dass mich das Kreisen um sich selbst abstoßen würde. Aber mitnichten. Im Gegenteil verspüre ich den Wunsch von ihr alles zu lesen. Und das passiert mir nicht so schnell.
Was macht den Zauber aus, den Lily Brett auf mich ausübt? Sie ist so unvollkommen. Wie wir alle. Und hadert damit. Versöhnt sich aber auch mit sich selbst. Sie hat die Liebe zu sich selbst nicht verloren, oder eher: sie hat die Liebe zu sich selbst gefunden. Dann: Sie schreibt mit indirektem Blick vom Holocaust in all ihren Büchern. Indirekt, weil sie ihn selbst nicht erlebt hat, aber ihre Eltern. Ihre Eltern wurden erst nach Lodz ins Ghetto, und dann nach Ausschwitz deportiert. Und mit ihnen ihre gesamte Familie. Niemand hat es überlebt. Nur diese zwei: Vater und Mutter von Lily Brett. Getrennt voneinander. Sie haben sich erst 6 Monate nach Kriegsende wiedergefunden. Und sie haben, so sagt Lily Brett über ihre Eltern, nie die Fähigkeit verloren zu lieben. Trotz aller Erlebter unvorstellbarer Schrecken. So ist Lily Brett mit viel Liebe großgeworden, aber auch mit den Dämonen der Vergangenheit der Eltern. All die Toten, dem ganzen Verlust. Dem Gefühl, das nichts sicher ist. Lily Bretts Probleme geben einen sehr guten Einblick, was der Holocaust auch für die 2. Generation bedeutet. Das habe ich so noch nicht gelesen. Mein Blick konzentrierte sich bisher auf die Generation, die die Schrecken selbst erlebt hat. Es ist auch nicht so, dass Lily Brett das Thema in ihren Essays (vermutlich gilt das auch für die meisten ihrer Romane) in den Vordergrund stellt. Es schwingt aber immer mit. Das Thema ist selbstverständlich, es ist immer da, denn es ist ein Teil ihrer Familiengeschichte, und somit auch ein direkter Teil ihres eigenen Lebens.
Ein weiterer Zauber geht von etwas aus, das Sonja so passend beschrieb: In Lily Bretts Veröffentlichungen ist New York (ihre Wahlheimat) ein Protagonist. Das empfinde ich ganz genauso wie Sonja, und es entzückt mich in der Weise, in der Lily Brett New York die Bühne bereitet. Wer selbst schon dort war, spürt die Stadt, spürt die Orte und ihre Menschen. Da geht dem Leser das Herz auf! Und so geht es mir bei allen Protagonisten aus Lily Bretts Geschichten: Lily Brett, ihre Eltern und New York.
Zauberhaft ist auch die Leichtigkeit, in der sie über alles, auch die schlechten und traurigen Dinge, erzählt. In all ihren Sätzen liegt eine unglaubliche Wärme. Wie liebevoll sie ist! Und sie hat Humor. Was für eine Frau, was für eine Schriftstellerin!
Ich habe großen Hunger nach mehr, und freue mich auf weitere Geschichten und Romane.
An Sonja lieben und großen Dank fürs auf diese Autorin (wieder) neugierig machen. Durch dich habe ich sie erst so richtig für mich entdeckt.