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Re: Leserunde: Virginia Woolf - Nacht und Tag

BeitragVerfasst: Di 28. Feb 2012, 09:47
von steffi
Hallo JMaria,

oh, dann bin ich dir schon weit vorausgeprescht ... ich komme zum Kapitel XXXII.

Die Konstellation zwischen den vier Hauptpersonen ist ja ziemlich interessant. Um Mary dreht sich alles, sowohl Katharine als auch Ralph benötigen ständig ihre Hilfe. Dabei gestattet sich Mary kaum Emotionen, trotz ihrer Tüchtigkeit wird sie von allen nur benutzt.

Katharine weigert sich strikt, sich an Konventionen zu halten, sie hat ja regelrecht Angst davor ! Auch wohl, weil sie im Innersten weiß, dass es nicht richtig ist, nicht nach dem eigenen Gewissen zu handeln. Trotzdem fällt ihr es schwer, das einzugestehen, vielleicht weil sie sich auch nicht von den Dingen, die ihr Halt geben, trennen kann. So ist sie ja z.B. sehr gut in Konversation, auch wenn sie an ganz andere Sachen denkt. Rodney verkörpert ja alles, was Katharine nicht will, später sagt sie, dass sie nicht in ihn verliebt sei, ihn aber liebe. Ich glaube auch, dass es wieder mit den Konventionen zusammenhängt, sie geben Sicherheit.

In Kew erkennt Katharine auch diesen Konflikt:
Warum, überlegte sie, mußte es dauernd diese Unvereinbarkeit zwischen Denken und Handeln geben, zwischen dem Leben in Einsamkeit und dem Leben in Gesellschaft, diesen erstaunlichen Abgrund, auf dessen Seite die Seele aktiv und im hellen Tageslicht lebte und auf dessen anderer Seite sie kontemplativ und dunkel war wie die Nacht ?

Obwohl ich dabei die Mutter nicht ganz einschätzen kann, sie ist doch auch nicht gerade angepasst - oder ist ihre Exzentrik auch Ausdruck dieser konventionellen Welt ?

Ich finde es auch bezeichnend, dass VW diese Erkenntnis wieder in Zusammenhang mit der Natur stellt. Für sie war das Leben in London ja auch anstrengend und das Leben auf dem Land dann sehr wichtig.

Mit kommt es auch so vor, als ob die Liebesgeschichte Katharine-Rodney im herkömmlichen Stil geschrieben ist (erinnert mich wieder an Austen), vorallem als noch Cassandra dazukommt, die Liebesgeschichte Katharine-Ralph aber in neuem, modernem Stil.

Ralphs Familie - könnte das nicht die Familie Woolf sein, die VW da beschreibt ?

Re: Leserunde: Virginia Woolf - Nacht und Tag

BeitragVerfasst: Mi 29. Feb 2012, 15:52
von JMaria
Hallo Steffi,

ich bin nun etwas weiter gekommen, nämlich bis zum Kapitel XXV.

steffi hat geschrieben:
Ich glaube auch, dass es wieder mit den Konventionen zusammenhängt, sie geben Sicherheit.



ja, und V.W. bringt es mit ihren Worten zusammen:

Wie alle traditionsgemäß erzogenen Menschen war Katharine fähig, jedes moralische Problem in zehn Minuten auf seine traditionelle Form zu reduzieren und mit den traditionellen Antworten zu lösen. Das Buch der Weisheit lag offen da, wenn nicht auf den Knien ihrer Mutter, so doch auf den Knien zahlreicher Onkel und Tanten..... Die Regeln, von denen sich eine unverheiratete Frau in ihrem Verhalten leiten lassen sollte, waren mit roter Tinte geschrieben, in Marmor gemeißelt.....

doch Katharine erkennt schnell, dass in ihrem Fall eine traditionelle Antwort nicht weiterhelfen würde.

Fand ich sehr schön beschrieben.

überhaupt merkt man die elisabethanische Epoche liebende Autorin zeitweise deutlich heraus, durch Mrs Hilbery, die ihren William Shakespeare über alles liebt, und die Geschichte selbst entwickelt sich auch zu einer shakespearehaften Verwechslungskomödie, da Katharine nun stillschweigt über die gelöste Verlobung um so William Rodney die Gelegenheit zu geben Cassandra besser kennenzulernen. Das wird bestimmt noch für Verwirrung sorgen.

Ich habe das Kapitel XXV begonnen. Ralph und Katharine treffen sich in Kew Gardens und während des lesens tauchen in mir Bilder der experimentiellen Kurzprosa "Kew Gardens" auf, die V.W. zur gleichen Zeit wie "Nacht und Tag" schrieb :-)


Ralphs Familie - könnte das nicht die Familie Woolf sein, die VW da beschreibt ?



den Verdacht hatte ich auch schon und könnte durchaus zutreffen. Die große Familie, der älteste Sohn, der die Familie mit versorgt, die Mutter, die jung Witwe geworden ist, das nähert sich den Woolfs schon an.

Mit kommt es auch so vor, als ob die Liebesgeschichte Katharine-Rodney im herkömmlichen Stil geschrieben ist (erinnert mich wieder an Austen), vorallem als noch Cassandra dazukommt, die Liebesgeschichte Katharine-Ralph aber in neuem, modernem Stil.



dein Gedanke gefällt mir sehr gut. Ein Tribute an die alten (literarischen) Traditionen, aber zugleich auch ein Abschied, da sie sich gedanklich bereits bei ihren experimentiellen Studien angekommen ist (Kew Gardens)

Re: Leserunde: Virginia Woolf - Nacht und Tag

BeitragVerfasst: Do 1. Mär 2012, 09:26
von steffi
JMaria hat geschrieben:H Ein Tribute an die alten (literarischen) Traditionen, aber zugleich auch ein Abschied, da sie sich gedanklich bereits bei ihren experimentiellen Studien angekommen ist (Kew Gardens)


Das beschreibt das Buch perfekt ! :D

Ich bin inzwischen fertig, mir hat es sehr gut gefallen, vorallem auch, weil sich die unterschiedlichen Stilarten zusammen mit der Handlung wunderbar ergänzen und VW's Entwicklung zeigt. Gerade diese Gegenüberstellungen zeigen auch die wunderbare Poesie, die sie schreiben kann. Darin ist sie einzigartig und unverwechselbar.

Man spürt auch, dass es viel Persönliches ist, das sie verarbeitet hat. Gerade auch, da es für Katharine und Ralph wichtig ist, dass jeder seine eigene Individualität beibehält, vielleicht auch mehr ein Hinweis auf Vanessa als auf Virginia ?

Re: Leserunde: Virginia Woolf - Nacht und Tag

BeitragVerfasst: Do 1. Mär 2012, 16:55
von JMaria
steffi hat geschrieben: Ich bin inzwischen fertig, mir hat es sehr gut gefallen, vorallem auch, weil sich die unterschiedlichen Stilarten zusammen mit der Handlung wunderbar ergänzen und VW's Entwicklung zeigt. Gerade diese Gegenüberstellungen zeigen auch die wunderbare Poesie, die sie schreiben kann. Darin ist sie einzigartig und unverwechselbar.



ich weiß was du meinst. Zugleich steckt in diesem Buch die Verheißung der künftigen Romane. Auch diverse Stichpunkte laden dazu ein, sofort Bezüge auf ihre weiteren Werke zu nehmen, wenn sie Metapher über Wellen und Leuchttürme schreibt, die im letzten Teil öfters auftreten. Es ergibt sich dadurch, so empfinde ich es zumindest, ein rundes harmonisches Bild ihres Gesamtwerkes.

Aufgefallen ist mir der erste deutliche Bezug zum Titel im Kapitel XXV:

Warum, überlegte sie, mußte es dauernd diese Unvereinbarkeit zwischen Denken und Handeln geben, zwischen dem Leben in Einsamkeit und dem Leben in Gesellschaft, diesen erstaunlichen Abgrund, auf dessen einer Seite die Seele aktiv und im hellen Tageslicht lebte und auf dessen anderen Seite sie kontemplativ und dunkel war wie die Nacht?....

ein Gesichtspunkt, der mir bisher abging, die Diskrepanz zwischen Denken und Handeln, zumindest wenn man mit Traditionen brechen möchte und noch nicht weiß, was die Lücke füllt.

Cassandra hat mir übrigens gut gefallen. Sie hat das Talent eine Situation richtig zu deuten. Sie hat mich überrascht:

"Du hast von ihr Mitgefühl verlangt, und sie ist nicht mitfühlend; du wolltest, daß sie praktisch ist, und sie ist nicht praktisch. Du warst egoistisch; du warst anspruchsvoll - und Katharine ebenso -, aber keinen trifft eine Schuld." Cassandra zu Rodney ende Kapitel XXIX.

Ich komme zum Kapitel XXX.

Re: Leserunde: Virginia Woolf - Nacht und Tag

BeitragVerfasst: Do 1. Mär 2012, 19:33
von steffi
JMaria hat geschrieben:
Aufgefallen ist mir der erste deutliche Bezug zum Titel im Kapitel XXV:



:mrgreen: Hatte ich weiter oben schon gepostet ... Ich finde, dass der Roman erst mit dem allmählichen Fortgang der Ereignisse so richtig an Aussage gewinnt. Zu Beginn erkennt man nur die einzelnen Personen und sie entwickeln sich bis schließlich die Verzweiflung Katharines an dieser Lücke, die du beschreibst, greifbar wird. Plötzlich soll man sich bzw. will man sich von den Konventionen, den Regeln befreien und sieht sich konfrontiert mit den eigenen Wünschen und Gefühlen. Halt kann man nur in sich selber finden und man muss die Verantwortung alleine tragen. Schön wird das an den 3 Frauengestalten (Mary, Cassandra, Katharine) deutlich, die ja alle durchaus positiv in ihrer Rollenwahl dargestellt sind. Auch diese Toleranz, die damit gezeigt wird, gefällt mir sehr gut.

Und um nochmal auf den anfänglichen Vergleich mit marriage plot und Jane Austen zu kommen, ich finde, VW hat gezeigt, wie man das Thema weiterentwickeln kann und neue Ansätze gefunden, ohne dabei den Charme, auch der elisabethanischen Schriftsteller, v.a. Shakespeares, zu verlieren.

Re: Leserunde: Virginia Woolf - Nacht und Tag

BeitragVerfasst: Sa 3. Mär 2012, 15:59
von JMaria
steffi hat geschrieben:
JMaria hat geschrieben:
Aufgefallen ist mir der erste deutliche Bezug zum Titel im Kapitel XXV:



:mrgreen: Hatte ich weiter oben schon gepostet ...


upsi - da war ich aber unaufmerksam :oops:


Schön wird das an den 3 Frauengestalten (Mary, Cassandra, Katharine) deutlich, die ja alle durchaus positiv in ihrer Rollenwahl dargestellt sind. Auch diese Toleranz, die damit gezeigt wird, gefällt mir sehr gut.



ja, das gefiel mir ebenfalls sehr gut. Weder die Vor- noch die Nachteile kommen zum Tragen. Es wird ausschließlich eine Geschichte erzählt mit viel Toleranz.

auch hat mir gegen Ende das vermehrte Spiel von Licht und Schatten gefallen. Dunkle Straßen die hell von Laternen beleuchtet werden und Ralph und Katharine gehen ungezwungen spazieren, im Gegensatz dazu der Tag, da kommt wieder die Unsicherheit und Katharine ist wie verloren, geht an Bekannten einfach vorbei ohne sie wahrzunehmen, hat nun auch Visionen wie Ralph. Unsicherheit in Verbindung mit getäuschter Wahrnehmung - das hat V.W. wieder super dargestellt.

Mrs Hilbery, so abwesend sie manchmal erschien, hatte die Fäden am ende in den Händen und entwirrte den Knoten. Doch auch für sie war Katharine für ihre Zeit etwas zuweit voraus, wenn Katharine meint:

"Ist es denn nicht sehr wohl möglich, zusammenzuleben, ohne verheiratet zu sein?"

interessant, dass nun Mrs Hilbery mit einer mathematischen Gleichung daherkommt, die bezeichnenderweise keinen Sinn ergibt, aber als Vergleich für Katharine vielleicht den Ausschlag gab:

"A plus B minus C gleich x y z.... so fürchterlich häßlich"

ja, Mütter sind schon was besonderes und man unterschätzt sie nur zu leicht ;-)


Es hat mir wieder viel Freude bereitet mit dir eine Leserunde durchgeführt zu haben :-)

Re: Leserunde: Virginia Woolf - Nacht und Tag

BeitragVerfasst: Mo 5. Mär 2012, 09:56
von steffi
JMaria hat geschrieben:
Es hat mir wieder viel Freude bereitet mit dir eine Leserunde durchgeführt zu haben :-)


:D Ja, mir auch ! Wie schön, dass es so spontan geklappt hat und es ist wirklich ein ausgesprochen schönes Buch gewesen !