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Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Sa 14. Apr 2012, 14:23
von JMaria
Hallo zusammen,

1985 erschien "Exerzierplatz" und was sich militärisch anhört, ist eher ein Ausflug in die Botanik. Es gibt eine thematisch nahe Verwandtschaft mit "Heimatmuseum", in beiden Büchern bildet Ostpreußen und die Flucht in den Westen der Ausgangspunkt der Geschichte; es geht um Wiederaufbau, über den Aufstieg und Zerfall einer Familie...

Hier ein paar Eckdaten:

http://de.wikipedia.org/wiki/Siegfried_Lenz
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13515060.html (von Carl Amery)

:arrow: http://www.amazon.de/Exerzierplatz-Roma ... 075&sr=8-2

ich freu mich, dass die Leserunde beginnt :-)

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: So 15. Apr 2012, 16:45
von steffi
Danke für das Eröffnen des neuen threads !

JMaria hat geschrieben: Es gibt eine thematisch nahe Verwandtschaft mit "Heimatmuseum", in beiden Büchern bildet Ostpreußen und die Flucht in den Westen der Ausgangspunkt der Geschichte;


Ich habe heute angefangen und es freut mich, dass ich Heimatmuseum letztes Jahr gelesen habe. So bin ich besonders gespannt, wie Lenz dieses Thema angeht. Auch zeitlich ist Exerzierplatz nach Heimatmuseum entstanden.

JMaria hat geschrieben:Hier ein paar Eckdaten:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13515060.html (von Carl Amery)


Ein sehr interessanter Artikel, der aber auch ziemlich viel vorwegnimmt, also entprechende Vorsicht ! Ich habe nach einem Drittel abgebrochen und lese den Artikel lieber nachdem ich Exerzierplatz fertig habe.

Die Geschichte wird aus der Sicht Brunos erzählt, dieser scheint geistig behindert zu sein. Die Erzählhaltung empfinde ich aber als außergewöhnlich, denn es gibt sicherlich eine Diskrepanz zwischen Brunos wirklicher Sprache und der Sprache des Ich-Erzählers. Ein leicht geistig behinderter Mensch wird sich einer solchen geschliffenen Sprache nicht bedienen, vielleicht trägt Bruno sie in seinem Inneren.

Nach und nach erfährt der Leser (ich bin auf S.60) immer mehr Details. Bruno wurde 1945 vom Chef gerettet, der als Vertriebener eine Baumschule errichtet, ich schätze, dass Bruno damals ca. 14 Jahre alt war. Das Heute spielt 1986, 31 Jahre später. Der Chef dürfte älter als 70 Jahre alt sein. Mit der Entmündigung des Chefs beginnt die Geschichte, da Bruno sehr von ihm abhängig ist - aufgrund der Pflanzenthematik könnte man ja fast von einer symbiotischen Beziehung sprechen, ist dieser Umstand auch für ihn bedrohlich.

Interessant finde ich, dass zwar Bruno von dem aufrechten Charakter seines Chefs überzeugt ist, dem Leser sich aber ein differenzierteres Bild zeigt, z.B. der Zwischenfall mit der Mauer. Auch andere Dinge bleiben dem Leser zur Bewertung, wie die Sache mit den Schulkameraden oder wie Ina Bruno behandelt. Diese zarte Spannung gefällt mir außerordentlich gut.

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Mo 16. Apr 2012, 16:56
von Petra
Hallo Maria und Steffi,

ich habe gestern angefangen zu lesen, und bin zu zwei Ergebnissen gekommen: 1. ein bestimmt sehr schönes Buch, 2. ich möchte es ein andern mal lesen. Denn ich würde der ruhigen Stimmung darin im Moment nicht gerecht, da ich derzeit innerlich oft sehr aufgekratzt und aufgewühlt bin, allein schon weil es auf der Arbeit so hektisch zugeht.

Ich werde später, wenn ich das Buch dann mal lese, Eure Eindrücke hier aber gern nachlesen, und meine beisteuern.

Interessiert wäre ich an Eurer Einschätzung, ob es über die Länge des Romans hinweg nicht stört, dass es aus Brunos einfältiger Sicht erzählt wird. Ich finde, dass es einen eigenen sehr schönen Reiz hat. Bin mir aber nicht sicher, ob es auf eine längere Strecke auch noch so angenehm ist.

Viel Spaß bei Eurer Leserunde! :)

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Di 17. Apr 2012, 08:51
von steffi
Petra hat geschrieben: 1. ein bestimmt sehr schönes Buch, 2. ich möchte es ein andern mal lesen. Denn ich würde der ruhigen Stimmung darin im Moment nicht gerecht, da ich derzeit innerlich oft sehr aufgekratzt und aufgewühlt bin, allein schon weil es auf der Arbeit so hektisch zugeht.



Das ist sehr schade, Petra,ich hätte mich auf deine Eindrücke gefreut ! Aber so ist es halt manchmal, besser, du widmest dich Lenz eben lieber ein anderes Mal !

Ich glaube nicht, dass die Erzählhaltung langweilig wird. Denn Lenz versteckt zu viel Geheimnisse und Hinweise, denen man unbedingt auf die Spur kommen möchte. Auch kristallisieren sich Charaktere erst so nach und nach heraus, und, so wie es scheint, ziemlich raffiniert gemacht, da der Leser weiter sehen kann als der Erzähler - natürlich auch mit dem Wissen, dass es ein Wirtschaftswunder gab, wie stark der Krieg korrumpierte, die Situation der Vertriebenen. Für mich erzeugte das bereits einen großen Lesesog und am liebsten hätte ich auf einen Rutsch zu Ende gelesen. Aber bei einer Leserunde kommt das nicht so gut :mrgreen:

Mir gefällt die ruhige Herangehensweise, für mich spiegelt das auch die Pflanzensymbolik, denn diese wachsen auch langsam. Ich habe mir vorgestellt, dass es sicher nicht so einfach war, damals eine Baumschule hochzuziehen, denn bis da verkaufsfähiges Material entsteht, dauert das ja länger. Aber gerade auch der Glaube an sich selbst, das einzige, was viele Menschen damals hatten wirkt da sehr intensiv.

Exerzierplatz - die Natur soll an die Stelle der Kriegshinterlassenschaft treten, aber es ist eine künstliche Natur, die wiederum den Menschen dienen muss. Für mich hat die Symbolik nichts tröstendes.

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Di 17. Apr 2012, 09:19
von Petra
Hallo Steffi,

ja, wirklich schade. Denn der direkte Austausch darüber mit Euch hätte mir auch viel gebracht.

Schön, dass die Erzählhaltung konstant so interessant bleibt, wie zu Anfang. Die ruhige Herangehensweise finde ich übrigens auch sehr besonders. Und es ist der Hauptgrund, warum ich auf mein Gespür höre, es nicht jetzt zu lesen. Denn solch eine (angemessene) Ruhe strahlen nur ganz wenige Bücher aus. Und diese Ruhe möchte ich gern würdigen können. Ich fühle sie derzeit selber nicht, und stehe somit im Widerstreit mit dem Tempo des Romans. Du schreibst sehr schön, dass diese Ruhe auch der Pflanzensymbolik entspricht. Das stimmt – habe ich auf den gelesenen Seiten auch so empfunden. Und es passt auch zur damaligen Zeit, in der man noch nicht von so vielen Zerstreuungen permanent abgelenkt war. Und besonders kurz nach dem Krieg – man konzentrierte sich gewiss auf das wichtigste. Und das mit ganzer Kraft und Ruhe. Sehr schön auch, was Du über den Glauben an sich selbst schreibst. Denn ich denke auch, dass der ausschlaggebend für den Wideraufbau war. Und besonders auch für Projekte, wie diese Baumschule. Denn Du sagst es ganz richtig: Bis dadurch mal ein Nutzen entsteht, muss man erst mal viel investieren. An Kraft und Mitteln.

Ein weiterer Grund, warum mich das Buch sehr interessiert, ist das Flüchtlingsthema. Schon zu Anfang werden ein paar Erinnerungen gestreut an die Baracken. Für mich ist das Thema interessant, da mein Vater auch ein Flüchtling war. Gern würde ich mich in diese Situation reinfühlen, und ich denke, das könnte mir durch das Buch gelingen. Ich hoffe, dass der richtige Lesezeitpunkt nicht allzu lange auf sich warten lässt.

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Di 17. Apr 2012, 09:21
von JMaria
Hallo zusammen,

ich war offline und komme erst heute dazu zuschreiben.
Petra, das ist sehr schade, dass du nicht mitmachst. Vielleicht ein andermal mit einem anderen Buch und du kannst die Beiträge irgendwann durchgehen, wenn du "Exerzierplatz" liest.

Steffi,
ich bin leider noch nicht sehr weit gekommen (40 Seiten). Mir gefiel dein Satz über die symbiotische Beziehung ....

Mit der Entmündigung des Chefs beginnt die Geschichte, da Bruno sehr von ihm abhängig ist - aufgrund der Pflanzenthematik könnte man ja fast von einer symbiotischen Beziehung sprechen, ist dieser Umstand auch für ihn bedrohlich.



ich entdecke auch eine Symbiose zwischen Bruno und den Pflanzen, er ißt sogar ihre Samen und seine körperliche Reaktionen darauf scheinen nicht über ein Schwindelgefühl hinauszugehen. Ich könnte mir vorstellen, dass so manche Samen bereits Gifte enthalten.

(Wenn ich nur wüßte an was mich das Samenessen erinnert)

Bruno wurde aus der Memel gerettet. Als ich den Namen las, da durchfuhr es mich kurz, denn meine Mutter und ihre Familie stammte von nördlich der Memel, Memelland wurde es damals genannt. Sie hatte immer eine Restsehnsucht zu diesem Fluß in sich.

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Mi 18. Apr 2012, 08:40
von steffi
Ich bin inzwischen aud S. 160. Nach und nach erfahren wir mehr über die einzelnen Personen, Bruno hat eine kindliche Perspektive, später spricht er auch in der dritten Person von sich. Evtl. ein Hinweis, dass ihm der Verlust der Vaterfigur zu schaffen macht ? Die Rückschau auf die Anfänge finde ich sehr gelungen und berührend. Wie sie von den Dörflern angefeindet werden ..."geht doch zurück, wo ihr hergekommen seid"..., tja, wenn das so einfach gewesen wäre

JMaria hat geschrieben:Als ich den Namen las, da durchfuhr es mich kurz, denn meine Mutter und ihre Familie stammte von nördlich der Memel, Memelland wurde es damals genannt. Sie hatte immer eine Restsehnsucht zu diesem Fluß in sich.
.

Es kommt noch eine sehr berührende Stelle darüber, auch Bruno hat diese Sehnsucht - ich finde, dass Lenz sie sehr deutlich spürbar macht, aber ohne Verbitterung oder Anklage.

Auch die Szene mit der Lehrerin war sehr schön - erinnert natürlich an Schweigeminute, könnte ich mir durchaus autobiografisch vorstellen.

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Mi 18. Apr 2012, 09:29
von JMaria
steffi hat geschrieben:
Exerzierplatz - die Natur soll an die Stelle der Kriegshinterlassenschaft treten, aber es ist eine künstliche Natur, die wiederum den Menschen dienen muss. Für mich hat die Symbolik nichts tröstendes.


Hallo Steffi,

ich bin nun auf S. 80.
Faszinierend finde ich, dass die Symbolik in zwei Richtungen gehen kann. Entweder wie beim "Chef" und seiner Frau Dorothea, dass sie auf fremden Land eine neue Heimat aufbauen, toll symbolisiert durch die Samen aus der Heimat.

Auf der anderen Seite Max, der älteste Sohn, der sich aus dem Land garnichts macht.

Tröstlich finde ich, dass man eine Sehnsucht durchaus verpflanzen und neue Wurzeln fassen kann. Wie sagte Dorothea "was gewesen ist, ist gewesen"... (wie oft habe ich das schon aus den Mund meiner alten Tanten oder von meiner Mutter gehört)

Und doch - wie schnell kann das wieder genommen werden? Durch Krieg, Wirtschaftskrise, Krankheit.

Ganz schlimm - durch Demenz/Alzheimer - durch Vergessen.

es steckt wirklich soviel Symbolik in dem Roman, aber auch so behutsam. Ich bin ganz hingerissen von der Geschichte.

Aufgefallen ist mir noch, dass sowohl Zeller wie auch Bruno fast ertrunken wären. Zeller wurde gerettet, seine Schwester ertrank, und später konnte er Brunos Leben vor dem Ertrinken retten. Ein gemeinsamer Nenner und eine Bindung.

Es kommt viel Wasser im Roman vor. Ob das eine bestimmte Symbolik hat?

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Mi 18. Apr 2012, 14:52
von Petra
Hallo Ihr Zwei,

das sind ganz tolle Gedanken, die Ihr hier zu dem Buch äußert. Besonders gefällt mir der Aspekt, dass Sehnsucht (und Heimat) verpflanzbar sind, und dass das in dem Roman durch die Samen aus der Heimat symbolisiert wird.

Maria, Du fragtest auch, ob das Wasser vielleicht symobolischen Charakter hat. Das kann gut sein. Ich verlinke hier mal einen :arrow: Artikel aus dem Hamburger Abendblatt über das Wasser in der Literatur. Dort wird u. a. auf Wasser als Symbol für den Neuanfang eingegangen. Vielleicht erschließt sich aus dem Artikel etwas in Bezug auf den Roman.

Maria hat geschrieben:Und doch - wie schnell kann das wieder genommen werden? Durch Krieg, Wirtschaftskrise, Krankheit.

Ganz schlimm - durch Demenz/Alzheimer - durch Vergessen.


Stimmt - dass der Verlust auch durch die Demenz zum Ausdruck kommt, ist ein starker Gedanke.

Re: Leserunde: Siegfried Lenz - Exerzierplatz

BeitragVerfasst: Do 19. Apr 2012, 08:48
von steffi
@Petra: Danke für den Artikellink, er ist sehr interessant !

Wasser spielt ja bei Siegfried Lenz immer eine tragende Rolle. Hier würde ich sagen, dass es ein Sehnsuchtsmotiv ist, vielleicht ein bißchen so, wie in dem Artikel beschrieben, dass die Seele mit dem Wasser verbunden ist und nach dem Verlust der Heimat auch ein Stückchen der Seele dort blieb. Interessant für mich ist, dass Lenz das eben nicht an der Erde festmacht, denn diese wird ja bearbeitet, kann nutzbringend eingesetzt werden. Das Meer, ein Fluss in dem Sinne nicht beherrscht werden. Das deckt sich auch mit meinem Lebensgefühl, am Bodensee oder an der Donau fühle ich mich ganz besonders wohl.

Im Laufe der Geschichte kristallisiert sich das Thema Heimat immer mehr heraus. Hollenhusen mag Lebensgrundlage sein, aber Heimat kann es nicht ersetzen. Vor allem, weil der Besitz eines Grundstückes nicht sicher ist, wie man durch den Krieg gesehen hat. Überhaupt, die Besitzfrage stellt sich auch für Bruno nicht als es um den Schenkungsvertrag geht. Er verliert viele Sachen, er versteckt sie an verschiedenen Orten, womöglich als Versuch sich sicher zu fühlen. Und ist nicht das auch ein wichtiger Aspekt des Heimatbegriffs, dass man sich dort sicher fühlt ? Bruno fühlte sich in der Nähe des Chefs sicher, aber auch das stellt sich nun in Frage.