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Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: So 5. Aug 2018, 10:20
von JMaria
Hallo Steffi

in der rororo Monographie wird gesagt, dass Musil im Gegensatz zu Rilke und Stefan Zweig seine Kriegseuphorie (1. WK) nicht verdrängte, sondern seine Auswirkungen auf sein Leben analysierte. Ein Thema in MoE. Vielleicht wird das im Laufe der Geschichte ja noch deutlicher.

Für Musil war das Todeserlebnis maßgeblich ! Soma Morgenstern kritisierte ihn deswegen mit den Worten:

«
Es stellte sich heraus, daß er [Musil] für den Krieg war, weil er im Krieg ‹das große Erlebnis des Todes› erfahren hatte. […] [Ich hielt] es nicht aus und sagte zu ihm: ‹Sie denken also, daß es gut ist, wenn Menschen getötet werden, damit der Schriftsteller Musil ,das große Erlebnis des Todes‘ auskoste? Was mich betrifft, stehe ich auf dem Standpunkt, daß es für den Schriftsteller, der ,das große Erlebnis des Todes‘ haben möchte, nur eine rechtschaffene Gelegenheit gibt, nämlich: seinen eigenen Tod.› Musil errötete bis in die Haarwurzeln –damals hatte er noch viel Haar –und schwieg eine sehr peinliche Zeit. Dann sagte er: ‹Es ist nicht meine Schuld, daß ich den Krieg überlebt habe. Aber Sie haben das Recht so zu reden, ohne einen banalen Eindruck zu machen, weil Sie selbst ein Soldat im Krieg waren –wenn auch als Schriftsteller noch zu jung, um das Erlebnis des Todes richtig einzuschätzen.›»[




Im Winter 1918/19 hungerte auch Musil und seine Frau. Das Vermögen seiner Frau und seiner Eltern wurden nach dem Krieg entwertet. Er versucht seine kürzeren Werke zu verkaufen.

Karl Otten erinnert sich:

«Im Januar 1919, in Wien, an einem bitter kalten, von Schnee durchwehten Hungermorgen, durchwanderte ich auf der Jagd nach etwas Eßbarem einen außerhalb unserer Domäne gelegenen Bezirk. Wahrscheinlich wärmte ich mich an irgendwelchen Illusionen vom Siege der Revolution, um meinen Hunger und das Gefühl der Einöde zu überwinden, als mir jemand den Weg vertrat. Erschrocken blickte ich auf –es war Musil, der, eine große Aktentasche unter den Arm geklemmt, hier auf die Trambahn wartete. ‹Ich bin mit dem Bauchladen des Dichters unterwegs›, knurrte er in seinem nasal-österreichischen Offizierston, der zu dem langen Offiziersmantel und der Kappe, die er immer noch trug, paßte. ‹Ich habe soeben das ,Fliegenpapier‘ zum x-ten Male verkauft.› Ein Glücksgefühl, das als Lächeln um seine Lippen spielte, wärmte das vom eisigen Wind gestochene Gesicht. Mich überlief außer der körperlichen Kälte noch eine seelische, da mir das ‹Fliegenpapier› neben Franz Kafkas ‹Verwandlung› als eine der großen prophetischen Wahrheiten erschien, die sich jetzt an uns, den Fliegen-Menschen, vollzog.»



„Das Fliegenpapier“ und „Die Affeninsel“ behandeln die bestialische Epoche in der die Gesellschaft steckte.

Das hat mich neugierig gemacht und habe nach den Texten gesucht...

Das Fliegenpapier, Die Affeninsel.
(einfach runterscrollen, es sind sehr kurze Texte)
http://gutenberg.spiegel.de/buch/-6941/2

Vielleicht bringt uns das Musil näher.

Ich komme zu Kapitel 70

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: So 5. Aug 2018, 11:27
von steffi
Danke, JMaria ! Das ist sehr interessant und ich werde es beim Lesen berücksichtigen. Auch die zwei Erzählungen zeigen doch viel mehr von Musil als bisher der MoE. Gerade das Fliegenpapier ist doch sehr eindrücklich und wie mit der Lupe beobachtet.

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: Fr 24. Aug 2018, 19:16
von steffi
Bevor ich in den Urlaub verschwinde, will ich noch kurz mitteilen wie weit ich bin, ich komme zum 92.Kapitel. Insgesamt lernt man die Personen etwas besser kennen und auch mit der Parallelaktion geht es langsam voran. Trotzdem werde ich nach wie vor nicht warm mit den Personen.

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: Fr 24. Aug 2018, 20:28
von JMaria
Hallo Steffi,

Verschiedene Begebenheiten haben mich vom Lesen abgehalten. Ich versuche aufzuholen und hoffe mehr beitragen zu können.

Ich wünsche dir einen schönen Urlaub!

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: Mi 5. Sep 2018, 12:41
von steffi
Hallo JMaria, ich bin auch noch nicht weiter gekommen. Zuviel Ablenkung ! Aber ich werde in den nächsten Tagen weiter machen.

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: Mi 5. Sep 2018, 13:20
von JMaria
Hallo steffi,

Musils manisches Schreiben schlägt sich auch in MoE stark nieder. Im Grunde konnte er sein Werk nicht vollenden, wenn seine Philosophie in jedem Nein steckt ein Ja (und umgekehrt) ist. Die Möglichkeiten ergeben kein Ende. Interessant finde ich nach wie vor, die Entstehungsgeschichte des MoE. Musil schrieb über den Niedergang der K und K Monarchie, den er selbst erlebte und wurde von der Zeit eingeholt, weil sich schon die nächste Katastrophe anbahnte. Somit schrieb er an einer Entwicklung die ihn einholte. Ich könnte mir vorstellen, dass das Musil an seine psychische Grenze trieb.

Arnheim überdenkt sein eigenes Leben, denkt an seine Kindheit, sein Heranwachsen, sein beruflicher Werdegang, über die Deutschen. Der Vergleich zwischen ihm und dem deutschen Mittelstand fand ich gelungen:

Diesem Mittelstand der Bildung glich nun Arnheim wie eine prächtige gefüllte Gartennelke einer dürftigen am Wegrand entstandenen Steinnelke.

Für ihn kam keine grundsätzliche Neuerung des Systems in Frage, sondern sanfte Korrektur aus dem bewährten Altem. Was man auf den Straßen anders sah (Demokratie, Sozialdemokraten, Kommunisten) Ich finde das schwingt in der Geschichte mit.


und Stumm von Bordwehr finde ich erfrischend :breit_grins:

Ich komme zum 87. Kapitel. Moosburger tanzt

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: So 9. Sep 2018, 10:08
von JMaria
Der Boehlau Verlag hat ein paar Bücher als OpenAccess, darunter auch

http://www.boehlau-verlag.com

Kakanien als Gesellschaftskontruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
http://www.boehlau-verlag.com/newbuchliste.aspx

auf Download gehen, oder hier der Direktlink:
http://www.boehlau-verlag.com/download/ ... Access.pdf

Viel Spaß beim stöbern ;-)

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: So 9. Sep 2018, 10:44
von steffi
Sehr interessant, danke für den link - ich hab mal reingelesen. Es macht durchaus Sinn, den MoE mit soziologischem Hintergrund zu lesen. Es ist ja wirklich eher ein theoretisches Werk und nicht historisch-realistisch. Nun hat diese Habilitationsschrift ebenfalls über 1000 Seiten :breit_grins: und ich werde da höchstens mal querlesen. Es gibt mir aber einen neuen Aspekt und ich glaube langsam, dass MoE eben nicht durch normales Lesen wirklich verstanden werden kann. Dazu sind die essayistischen Teile zu wenig literarisch eingebettet ( wie das etwa Thomas Mann macht) und die Personen als Typen gestaltet, die man ohne Hintergrundwissen eben auch nicht leicht aufdeckt.

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: Di 18. Sep 2018, 11:42
von JMaria
Es tun sich Abgründe auf: Clarisse und ihre Schwester werden im Kindesalter Opfer von sexuellem Mißbrauch.

Ich komme zum 98. Kapitel
Aus einem Staat, der an einem Sprachfehler zugrundegegangen ist

Re: Leserunde - Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften

BeitragVerfasst: So 7. Okt 2018, 12:14
von JMaria
Hallo Steffi,

Ich habe meine Lieblingsfigur und ein Lieblingskapitel gefunden. Kapitel 100

General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und sammelt Erfahrungen über Bibliothekare, Bibliotheksdiener und geistige Ordnung


Zitat:

Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über Bücher: es hat ordentlich nach Gehirnphosphor gerochen,....



Er kommt zwar oft in komischen Szenen vor. Eine schrullige Figur, die dem Buch gut tut.

Ihn beschäftigt der Gedanke an Ordnung. Für ihn herrscht sie im Militär, und können nicht vom Bürger geschaffen werden, und sie führt eigentlich immer zu Kriegen!

Im Kapitel 101 stellt Ulrich an Diotima die Theodizee-Frage.

Wir sehen, dass keine philosophischen, theologischen, soziologischen Fragen ausgelassen werden. Wobei ich mir schwer tue, da sich mir Wissenslücken auftun. Ich habe nur rudimentäres Wissen über Kant, Nietzsche etc.