Thomas Hettche: Herzfaden

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Thomas Hettche: Herzfaden

Beitragvon Kioki » So 6. Mär 2022, 15:25

ich habe das Buch ganz spontan aus der Stadtbibliothek ausgeliehen und gestern und heute gelesen. Es ist sehr schön gemacht, schön gesetzt. Mit zwei unterschiedlichen Schriftfarben, die die beiden Zeitebenen, in denen es angesiedelt ist, markieren.
In einem Strang geht es um die Geschichte der Familie Oehmichen um den zweiten Weltkrieg herum. Walter Oehmichen war der ursprüngliche Gründer der Augsburger Puppenkiste, die Tradition wird nach der Zerstörung des Puppentheaters durch einen Bombenangriff von ihm und seiner Tochter wieder aufgenommen und fortgeführt, bis ins Fernsehzeitalter hinein. Wie sich dies entwickelt, und was das aus der Sicht der damals lebenden Menschen bedeutete, bescchreibt Hettche sehr eindrucksvoll.
Im zweiten Zeitstrang findet ein etwa 13jähriges Mädchen aus der Jetzt-Zeit durch eine geheime Tür Zugang zur Tochter von Herrn Oehmichen und einigen der Puppenspielfiguren. Dies geschieht anlässlich eines Besuches beim Vater (die Eltern leben getrennt und in verschiedenen Städten) in Augsburg, als ihr Vater mit ihr eine Puppentheater-Aufführung besuchen will, was sie total kindisch findet.
Das Grundkonzept ist das Eintauchen aus der heutigen Zeit in eine Welt, in der sich Magie, Geschichte und Erinnerungen vermischen. Ich fand es ganz gut gelungen. Herr Hettche findet anrührende, passende und bewegende Worte und Bilder für die Erinnerung an schreckliche Vorgänge im Zweiten Weltkrieg und während des Dritten Reiches. Manches lässt er dann auch unvollendet stehen, was mir sehr gut gefallen hat. Manches ist kaum erklärbar, kaum erfassbar. Er geht sehr sorgsam mit Worten um.
Ich persönlich fand es an manchen Stellen ein wenig zu gefühlsselig, zum Beispiel als es um den Kleinen Prinzen geht. Ich bin aber einfach auch kein Fan vom Kleinen Prinzen.
Ich finde, dass in dem Buch auf sehr schöne Weise Zeitgeschichte erzählt wird und in eine Rahmenhandlung verpackt ist, die vielleicht junge Menschen interessieren könnte, sofern sie Leser sind. Letztlich kann ich das aber natürlich nicht beurteilen. Mich hat es so gepackt, dass ich es in einem Rutsch durchgelesen habe. Die Verschränkung der beiden Zeitebenen fand ich gut gemacht. Auf der einen Seite das genervte Scheidungskind von heute mit seinem I-Phone, daneben erzählend in der Magiewelt ein ungefähr 80 Jahre früher geborenes Mädchen, die ihr Leben als Kind und als junge Frau, ihre Freundschaften, die bestehenden und die abbrechenden Beziehungen, aus ihrer Sicht schildert. Das wird noch ein bisschen nachwirken. Für mich immer ein Zeichen guter Bücher.


edit 8. März 2022: Ergänzen möchte ich noch, dass es in einem Großteil des Buches um die Marionetten der Augsburger Puppenkiste, insbrsondere einigen dabei herausragenden Gestalten geht. Die rein technische Funktionsweise der Marionetten ist ebenso Thema wie ihre Ausstrahlung, ihre magische Wirkung. Darauf hat Hettche sehr viel Mühe verwendet, und ich finde, das ist ihm sehr gut gelungen. Man erfährt von der handwerklichen Seite her Vieles, über Holztypen zum Beispiel und wie die Marionetten ausbalanciert werden, wie die Gelenke gestaltet sind und ähnliches. Und man findet sich in der magischen Welt der lebendigen Wirkung, die zwar mit an sich einfachen Mitteln erzielt wird, aber doch sehr genau und passend eingesetzt sein muss. Stimmen, Lichter, Bühnenkasten. Konstruktion, Entwicklung und Auswahl sämtlicher Materialien, angefangen mit der allbekannten alten Holzkiste (bitte im Roman nachlesen, von wo sie stammt) wird eingebettet in die Rahmenhandlung gut lesbar erzählt. So erschließt sich, wie Marionetten-Persönlichkeiten entstanden sind und wieviel Handwerkskunst, Einfallsreichtum und Herzblut dahintersteckt.
Der Autor muss sich sehr lange, ausführlich und umfassend damit beschäftigt haben. Das Changieren zwischen diesen Ebenen gibt dem Roman einen ganz eigenen Reiz. Herz UND Hirn eben. Ganz toll.
Kioki
 
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