Moore, Brian: Die einsame Passion der Judith Hearne

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Moore, Brian: Die einsame Passion der Judith Hearne

Beitragvon Petra » Mo 18. Jan 2010, 10:47

Moore, Brian
Die einsame Passion der Judith Hearne

Bild

Genre: Erzählung
Seitenzahl: 320 Seiten
Verlag: Diogenes Verlag
Preis: vergriffen (zur Zeit nur gebraucht erhältlich, Neuauflage ist geplant)
ISBN: 9783257218565
Bewertung: 9,5 Punkte
(von 10 möglichen Punkten)

Inhalt:

Judith Hearne, eine Frau mittleren Alters ohne äußere Reize, lebt seit dem Tod ihrer Tante, die sie lange Jahre gepflegt hat, in möblierten Zimmern, da für mehr das Geld nicht reicht. Als sie wieder ein neues Zimmer in einer Pension in Belfast bezieht, lernt sie den Bruder der Vermieterin kennen. Der erste Mann, der nicht durch sie hindurch sieht, sondern sie zu bemerken scheint. Noch einmal will sie es versuchen und greift nach ihrer letzten Hoffnung auf ein Leben an der Seite eines anderen Menschen. Sie nimmt all ihren Mut zusammen und lässt all ihren Stolz hinter sich.

Meine Meinung:

Was für ein Porträt! Solch eine traurige Figur hat die Literatur selten gesehen. Und umso näher ging sie mir, die Judith Hearne. Selbst als das Buch zugeklappt war, lief sie mir in Gedanken noch lange nach.

Brian Moore erzählt hier von einem Menschen, dem wir sicher selbst schon mal (in anderer Gestalt) begegnet sind. Denn Menschen wie Judith Hearne gibt es nicht nur im Irland der 50er Jahre. Sie leben Tür an Tür mit uns und wir belächeln und verspotten sie genauso wie die Menschen es in dem Roman mit Judith Hearne halten. Niemanden interessiert ihr Gewäsch (ist ja auch uninteressant was solch eine Person zu erzählen hat – sie erlebt ja auch nichts. Wo denn auch?) und daraus entsteht ein Kreislauf: Je weniger Aufmerksamkeit einem Menschen zuteil wird, umso mehr hungert er nach ihr. Und umso anstrengender werden diese Menschen, da sie aufdringlich werden, und sich verstellen in ihrem Buhlen um die Gunst ihrer Mitmenschen. Das hat noch mehr Einsamkeit zur Folge. Und irgendwann eine tiefe Verzweiflung, die nach Linderung schreit.

Judith Hearne macht uns vor, wie solch ein Leben verläuft. Ihre Hoffnung auf die Liebe eines Mannes, die – der Leser weiß es – zwangsläufig in eine tiefe Enttäuschung münden muss, schmerzt ebenso wie ihre Besuche bei ihren „Freunden“. Brian Moore hat die Figur der Judith Hearne und ihre Hoffnungen und Beweggründe exzellent geschildert. Genauso (ehrlich und somit fast boshaft) direkt lässt er die Menschen um Judith herum auf sie schauen. Ihre ehrlichen und unverblümten Gedanken zu Judith Hearne werden dem Leser ebenso vermittelt, wie Judith Hearnes Fehlinterpretationen (Wunschgedanken) über das Verhalten eben dieser Mitmenschen. Es schmerzt - von Seite zu Seite mehr. Nicht nur den Leser, sondern auch Judith Hearne selbst. Und Brian Moore begeht keinesfalls den Fehler Judith Hearne als grundsympathische Frau zu schildern. Dem Leser wird ein ehrliches Bild präsentiert und er kann sich gewiss sein, dass er mit Judith Hearne auch nicht anders umgehen würde, als die Menschen in ihrem Umfeld es tun. Sie hat nichts zu bieten, ist farblos und uninteressant und hat zudem ihre Fehler und auch keine ausgleichenden gewinnenden Stärken. Aber verdammt noch mal: Sie ist ein Mensch!

Die Gläubige Christin sucht auch in ihrem Glauben Halt. Doch je mehr die Situation eskaliert, umso mehr löst sich auch dieser letzte Anker und sie rutscht immer mehr ab in die tiefen Abgründe der Verzweiflung.

Stimmt der gesamte Verlauf der Geschichte schon traurig, so schmerzen die letzten Kapitel noch mehr. Da überkommt Mrs. Hearne die Erkenntnis über ihre eigene traurige Existenz und sie reflekiert zum ersten Mal ihre tatsächliche Wirkung auf ihre Mitmenschen.

Brian Moore hat eine intensive Charakterstudie geschrieben und vortrefflich in Szene gesetzt, wie wir Menschen mit solchen Randfiguren verfahren. Der Leser steht den Entwicklungen und dem Ausgang hilflos gegenüber und es bleibt die Frage ob irgendwer (auch Judith Hearne selbst) irgendwie hätte positiven Einfluss nehmen können. Oder kommen Menschen wie Judith Hearne zwangsläufig unter die Räder unserer Gesellschaft? In der sich immer weiter nach unten bewegenden Spirale, durch den Kampf um Anerkennung und Beachtung und die daraus immer stärker werdende Einsamkeit, weil sich Anerkennung und Aufmerksamkeit nicht erzwingen lassen? Ja, einigen Menschen nicht zuzustehen scheinen?

Eine trostlose Geschichte. Aber nicht sinnlos. Denn Judith Hearne ist nicht bloß eine erfundene Figur, sondern sie steht für die Einsamkeit vieler Menschen. Man sollte dieser Frau einmal Aufmerksamkeit schenken. Man kann viel daraus lernen – über das Leben und die Menschen. (Petra)

Buch direkt bei Amazon bestellen (Das Buch ist zur Zeit vergriffen und nur gebraucht – z. B. über Amazon Marketplace – erhältlich. Eine Neuauflage wird es laut Diogenes Verlag aber geben. Ob es schon in 2010 der Fall sein wird, ist jedoch ungewiss.)

Hier geht es zur Rezension der Verfilmung des Buches mit Maggie Smith und Bob Hoskins in den Hauptrollen.
Liebe Grüße,
Petra


Ich lese gerade: :lesen:
Percival Everett - James (HC)
Benjamin Stevenson - Die mörderischen Cunninghams. Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen (ebook)

Ich höre gerade: :kopfhoerer:
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