Hahn, Anna Katharina: Kürzere Tage

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Hahn, Anna Katharina: Kürzere Tage

Beitragvon Petra » Mi 24. Mär 2010, 11:17

Hahn, Anna Katharina
Kürzer Tage

Bild

Genre: Erzählung
Seitenzahl: 223
Verlag: Suhrkamp
Preis: 8,90 €
ISBN: 9783518461587
Bewertung: 9 Punkte
(von 10 möglichen Punkten)

Inhalt / Meine Meinung:

Judith ist aus der fragwürdigen Stuttgarter Hackstraße (keine gute Gegend) in die noble Constantinstraße gezogen. Ein sozialer Aufstieg, könnte man denken. Doch hat sie den ganzen Hackstraßenmist, wie ihr Mann Klaus ihre Laster aus den früheren ungezügelten Zeiten nennt, mitgebracht. Einiges davon bekommt Klaus mit, doch längst nicht alles. In ihr ist immer noch die alte Angst, die sie während ihres Studiums und ihrer fragwürdigen Beziehung zum untreuen Sören aufgebaut und mit Medikamenten betäubt hat. Heute, lebt sie ein anderes leben. Sie erzieht ihre Kinder nach den Waldorfgrundsätzen, zu denen gesunde Ernährung und der Jahreszeitentisch gehören. Plasikspielzeug, Fernsehen und Süßigkeiten mit ungesundem Industriezucker sollen von den Kindern so lang wie möglich ferngehalten werden. Doch der Griff zu den Tabletten zeigt, wie plakativ dieses neue Leben ist. Wie gefährdet.

Ebenfalls in der Constantinstraße lebt Leonie. Auch ihr Lebensmodel hat mehr mit Model als mit Leben zu tun. Zwar ist sie verheiratet und hat zwei Mädchen. Doch frisst der Alltag zwischen Buisnessfrau und Mutter sie auf. Neidisch schaut sie auf die Wohnung, in der Judith mit ihrem Mann und den Kindern solch ein perfektes Leben führt, mit Zeit für die richtigen Werte – gesunde Ernährung, Zeit für die Kinder. Und so einen tollen Mann hat sie. Da kann ihr Simon, der den Proleten von einst nie ganz ablegen konnte, trotz dass er sich hochgearbeitet hat, nicht mithalten.

Und da ist noch das alte Ehepaar, die Posselts. Mit ihrem ebenfalls alten Hund, dem Schlamper. Judith ekelt sich immer ein wenig vor Luise Posselt, die so eine schuppige Gesichtshaut hat und nach Alter riecht. Über 60 Jahre sind sie nun schon verheiratet, die Posselts. Etwas, was die heutige Generation nicht mehr hinbekommt?

Auch mit Marco, einem Jugendlichen aus der Nachbarschaft (dem schlechteren Teil der Gegend) kreuzen sich die Wege der Bewohner der Constantinstraße lose. Z. B. beim türkischen Gemüsehändler Nâzım, bei dem die Nachbarschaft gern einkauft. Marco hat seine ganz eigenen Sorgen – aus einer ganz anderen Welt, einer ganz anderen sozialen Schicht.

Schließlich, als bei Marco was durchbrennt, kommt es zum Eklat. Zum Schluss verweben sich die einzelnen Leben für einen kurzen, flüchtigen Moment und machen die Bestandsaufnahme komplett.

Bestandsaufnahme – das ist das richtige Wort für das, was Anna Katharina Hahn hier betreibt. Und das in grandioser Art und Weise. Sie zeichnet Alltagssituationen der beteiligten Personen und entwirft damit eine Millieustudie, die viele Facetten des heutigen Lebens aufzeigt. Überbesorgte und überforderte Mütter, Dämonen im Kopf, die einem glücklichen Leben im Weg stehen. Künstlich geführte Lebensmodelle, weil man sich das Leben so vorgestellt/erträumt hat. Viel Schein, doch letztlich steht nichts Echtes dahinter. Nur Fassade. Und die bröckelt – gewaltig.

Der Blick auf die Posselts bildet einen Kontrast. So alt und hilflos sie inzwischen sind. So wenig schön Frau Posselt ist. Sie liebt ihren Mann. Für sie ist er immer noch schön und sie ist stolz auf ihn. Sieht in ihm den Mann von damals. Und auch wenn Luise Posselt es nicht weiß, der Leser spürt, dass es Herrn Posselt mit seiner Luise auch so geht.

Mit Marcos Lebenssituation entsteht ein scharfer Kontrast zum betäubten Leben auf der Constantinstraße. Sein soziales Umfeld sorgt dafür, dass er sich mit solchen Luxusproblemen wie eine Judith oder eine Leonie nicht herumschlagen muss. Er hat ganz andere Sorgen.

Dämmert der Leser zu Anfang mit Judith und Leonie in einem gefühlsmäßig gedämpften, betäubten Alltag, so reißen ihn die krassen Schilderungen aus Marcos Leben aus der Lethargie. Die Szenen aus Frau Posselts Leben jedoch haben mir besonders gefallen. Allein die Schilderungen aus ihrem Alltag bilden allein für sich gesehen ein wunderschönes Stück Prosa. So anrührend, so authentisch, so vielsagend.

Zum Schluss laufen die Leben für Momente ineinander, selbst eine Nebenfigur des Romans sorgt dafür dass dem Leser vor Erschütterung der Atem stockt.

Diese Verknüpfung der fast losen, nur durch Nachbarschaft ineinander verschlungenen Geschichten, hätte nicht zwingend sein müssen, da die einzelnen Lebensläufe für sich gesehen schon genug Wirkung entfalten. Da Anna Katharina Hahn es jedoch so umsichtig gemacht hat, stört es nicht (auch wenn es dadurch ein bisschen zu dramatisch anmuten mag), sondern intensiviert die einzelnen Dramen, so dass sich die Wirkung verstärkt. Der Autorin gelingt auch hier die Gratwanderung. Ihr verrutschen die Geschichten nicht in Plumpheit, sondern sie hält selbstsicher ihren Stil und vollendet das Bild.

Sprachlich bewegt sich die Autorin auf sehr sicherem Boden. Sie hat die Erzählung jeder Zeit in der Hand und gibt jeder Szene die richtige Stimmung (Lethargie, Melancholie, Wut) und vermengt alle Eindrücke zu einem stimmigen Bild unserer Gesellschaft. Diese Szenen müssten nicht zwingend in der Stuttgarter Constantinstraße spielen. Solche Menschen, Lebensmodelle und Alltagssituationen findet man vieler Orts. Eine feine und sehr nüchterne Gesellschaftsstudie. Durch die sachlichen Schilderungen greift die Autorin an. Diese nüchternen Gedanken und Szenen berühren ungemein. Und regen zum nachdenken an – über die eigenen Träume und Vorstellungen und wie dicht man an ihnen dran ist oder wo man sich zu weit davon entfernt hat und es etwas zu korrigieren gibt. (Petra)

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Liebe Grüße,
Petra


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