Neudecker, Christiane: Das siamesische Klavier

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Neudecker, Christiane: Das siamesische Klavier

Beitragvon Herr Herbert » Fr 9. Apr 2010, 21:09

Die Schriftstellerin Christiane Neudecker hat sich in ihrem neuen Buch so einiges vorgenommen. "Unheimliche Geschichten" will sie da geschrieben haben. So zumindest der Untertitel ihres neuen Erzählbandes DAS SIAMESISCHE KLAVIER.
Bereits beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2009 las sie daraus einen Auszug, nämlcih die Erzählung "Wo viel Licht ist", die im jetzt gerade erschienenen Buch am Ende platziert ist. Darin geht es um einen Theatermacher, der auf Hightech-Niveau virtuelle Schatten programmiert. Er kann so den Eindruck erzeugen, dass er "gottgleich" den Schatten der Darstellerin in einer Hongkonger Inszenierung kontrolliert. Aber je mehr er sich mit diesem virtuellen Schatten auseinandersetzt, desto mehr scheint er plötzlich Unregelmäßigkeiten an seinem eigenen, realen Schatten festzustellen...
Schon bei der Bachmannpreis-Übertragung letzten Sommer auf 3-Sat schlug mich diese Geschichte in ihren Bann. Mich schauderte wohlig bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, wenn man selbst die Kontrolle über den eigenen Schatten verliert - und plötzlich nicht mehr weiß, ob man selbst wirklich das Original ist, oder vielleicht doch nur der eigene Schatten! Neudeckers Sprache ist sehr poetisch. Sie schafft es, mit wenigen Worten eine wahnsinnig dichte Atmosphäre zu erzeugen. Man fühlt sich sofort im stickigen, heißen Großstadtmoloch Hongkongs gefangen, wenn man diese Geschichte zu lesen beginnt. Aber jetzt gleich noch sechs weitere Geschichten dieses Kalibers? Konnte das gelingen? Ich war gespannt.
Und um es kurz zu machen: ich wurde nicht enttäuscht. Die Themen, die Neudecker sich vorknöpft (und uns in mitreissender und unterschwellig unheimlicher Marnier vorsetzt) sind vielfältig. In der Titelgeschichte zum beispiel geht es nicht nur um ein siamesisches Klavier, das mit gleich zwei Tastaturen bestückt ist (ich habe versucht, herauszufinden ob sie das erfunden hat, aber ich bin mir nicht sicher ob es sowas wirklich gibt). es geht vor allem um das Eröffnungskonzert der Konzerthalle, die mitten im Dschungel um das wahnwitzige Instrument herum gebaut worden ist. Ein Umblätterer berichtet uns davon, wie er während des Konzerts beginnt, das spielende Pianistenduo aus dem Takt zu bringen. Allein dieser Monolog ist ganz großes Kino! Und selten habe ich - als nicht wirklich musisch begabter Mensch - eine so greifbare und nachvollziehbare Beschreibung eines Konzerts gelesen wie hier! Um Liszts Bearbeitung von Beethovens 9. geht es da - für zwei Klaviere. Wie das beschrieben wird, ist wirklich einmalig. Man kann die Musik förmlich hören.
Und auch die anderen Geschichten halten das Niveau. Immer wieder geht es um unheimliche Elemente (wie wir sie aus Märchen oder Gruselgeschichten kennen), die aber zum Großteil ganz fest in der heutigen Realität verankert sind und so einen völlig neuen Kontext bekommen: auf einer Kurfreizeit veranstalten ein paar Kinder aus Spaß eine Seance, die dann entgleißt. Eine Schachspielerin erhält eine Partie-Aufforderung von einem Verstorbenen. Ein Fotograf jagt Prototypen von Autokonzernen (Erlkönige genannt!) und wird plötzlich selbst zum Gejagten. und dann - wohl meine Leiblingsgeschichte - steht bei einem freefight-Kampf (eine verschärfte Form des Boxsports) dem Titelverteidiger plötzlich ein ganz besonders unheimlicher Gegner gegenüber. Wie Neudecker hier (wieder!) die Atmosphäre einfängt, das ist schlicht und ergreifend genial. Ich würde mir wirklich wünschen, dass sie mit diesem buch in die internationale Liga aufrückt. Wir haben - glaube ich - nicht viele junge Schriftsteller dieses Kalibers in Deutschland. Falls ich mich nicht so ganz klar habe ausdrücken können: auf dem Klappentext schreibt der Verlag, die Geschichten würden an Daphne de Maurier erinnern. Das war wohl die Frau, die Hitschcock seine Vorlage für "Die Vögel" geliefert hat. Und so muss man sich dieses Buch vielleicht vorstellen: wie eine Reihe wirklich guter Hitchcock-Filme.
Herr Herbert
 
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