Carrè, John le: Marionetten

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Carrè, John le: Marionetten

Beitragvon keksigirl » Mi 5. Nov 2008, 17:39

Terrorismus als Instrument der Geheimdienste

Inhalt:

Issa, ein tschetschenischer Flüchtling und gesuchter Schwerverbrecher, bittet den türkischen Schwergewichtsboxer Melik und seine Mutter Leyla um Hilfe. Er möchte in Deutschland Medizin studieren, doch leider hält er sich seit seiner Flucht aus einem türkischen Gefängnis und seiner langen, durch Bestechungsgelder erkaufte Reise über Schweden und Dänemark, illegal in Deutschland auf. Außerdem steht er auf der Fahnungdungsliste von Interpol. Hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Misstrauen beschließen die beiden ihm zu helfen. So geraten sie, eine Anwältin und ein Bankier bald ins Visier der Geheimdienste, die auch vor Lügen, Betrug und falschen Versprechungen nicht zurückschrecken, um ihre Ziele durchzusetzen...

Zum Autor:
John le Carré, geboren 1931 in Poole, Dorset, studierte in Bern und Oxford Germanistik, bevor er in diplomatischen Diensten u. a. in Bonn und Hamburg tätig war. "Der Spion, der aus der Kälte kam" begründete seinen Weltruhm als Bestsellerautor. Der Autor lebt mit seiner Frau in Cornwall und London.

1. Meine Meinung:

Wer einen Thriller um den 11.September erwartet hat wird wohl enttäuscht werden, denn ein direkter Bezug zum diesem Datum fehlt fast völlig. Es geht mehr um die Auswirkungen des Terrorismus, darum wie schlecht und misstrauisch mit Ausländern seit diesem Terrorakt umgegangen wird und wie gut es Geheimdienste verstehen, den Terrorismus für sich zu nutzen. Ein kleiner Bezug zu Amerika wird erst hergestellt, als der Leser schon nicht mehr damit rechnet.
Das Buch gliedert sich in drei Handlungsstränge - nämlich Issa und seine Pläne, eine Bank mit Kontakten zu russischen Geldwäschern und die Ermittlungen uneiniger Geheimdienstmitarbeiter und Verfassungschützer. Schnell beginnen die einzelnen Bausteine miteinander zu verschmelzen, um dann am Ende ein überzeugendes Gesamtbauwerk zu erzeugen.
Geschildert wird das komplette Buch in der 3. Person. Durch die von Beginn an lebendige Erzählweise fühlt man sich gleich mitten im Geschehen und die immer neu auftretenden Fragezeichen lassen einen das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
Die Sprache ist ansprechend, aber auch dem ernsten Thema angepasst. Trotz eines etwas anspruchvolleren Tons ist das Thema verständlich und einfühlsam übertragen worden. John le Carrè gelingt es auch den Charakter der Protagonisten durch die Wahl von stimmigen Adjektiven zu übermitteln.
Auffällig ist auch, dass der Autor teils sehr lange Sätze benützt und das Buch in der alten Rechtschreibung gedruckt wurde.
Die Figuren sind abwechslungsreich, sowohl was das Erscheinungsbild, als auch die zu gehörigen Charaktere betrifft. Allein Melik und Issa sind schon grundverschieden, Melik ist stark und kräftig, hat einen gefestigten Charakter und weiß was er will, während sich Issas Naivität auch in seinem schwachen, ausgemergeltem Äußeren widerspiegelt.
Schade ist nur, dass der Autor einige Protagonisten gleich nachdem sie nicht mehr gebraucht wurden, in den Hintergrund gedrängt hat.

Fazit:
Der Titel ist bestens gewählt, denn hier sind wirklich fast alle Protagonisten Marionetten und selbst diejenigen, die erst geglaubt haben die Fäden zu ziehen müssen am Ende erkennen, das sie nur ein Spielzeug der wahren Marionettenspieler waren.
Dem Autor ist es überzeugend gelungen ein eigentlich abgedroschenes Thema, nämlich den Terrorismus und die Reaktionen der Geheimdienste darauf, spannend, fesselnd und erschreckend plausibel darzustellen. Die vielen politischen und religiösen Hintergrundinformationen verhelfen dem Roman zu einer großen Glaubwürdigkeit und lassen ein solches Szenario durchaus realistisch erscheinen. (keksigirl)

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2. Meinung:

Ich glaube John le Carrés Schreibstil kann man nur wirklich mögen oder aber gar nichts damit anfangen.
Zu Beginn des Buches war ich richtiggehend begeistert von seinem Schreibstil und dem rasanten Einstieg in eine vielversprechende Story. Das erste Kapitel verging förmlich im Fluge.

Dann kam jedoch für mich schon der erste Haken an diesem Buch. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit völlig anderen Figuren, als noch das erste und man wird "brutal" aus dem Zusammenhang gerissen. Dieser Szenenwechsel nahm für mich so ziemliche das gesamte Tempo aus der Geschichte.
Leider geht es dann auch so weiter, denn im 3. Kapitel wird der Leser wieder in eine neue Szene geführt. Zwar sieht man nun schon minimale Zusammenhänge zum ersten Kapitel, aber trotzdem riss der rote Faden auf diese Weise ab. Ich mag diesen ständigen Wechsel einfach nicht und die unterschiedlichen Betrachtungsweisen bleiben lange Zeit unklar.

Dabei beginnt alles so spannend:

Melik, ein junger, türkischer Boxer, der in Hamburg lebt, trifft auf der Straße immer wieder einen ausgezehrt wirkenden Jungen. Dieser begegnet ihm an den ungewöhnlichsten Orten. Eines Tages steht er plötzlich vor seiner Haustür und bittet um Obdach. In den Zeiten nach dem 11. September sind aber alle viel misstrauischer, lebten doch einige der Attentäter zuvor in Hamburg. Jedoch führen der Glaube und das Mitgefühl von Meliks Mutter dazu, dass sie Issa, so heißt der junge Mann, aufnehmen. Melik ist davon wenig begeistert, aber je mehr er über Issa erfährt, desto mehr Mitgefühl hat er auch mit ihm.

Die Figur des Issa wird nach und nach auch in den anderen Szenen und aus Sicht anderer Personen betrachtet. Durchaus interessant ist dabei, welches Licht hier nun auf Issa geworfen wird, sind es doch vollkommen verschiedene Blickwinkel unter denen er fortan betrachtet wird. So etwa aus Sicht des Bankiers Brue oder der etwas verschroben wirkenden und geheimnisvollen Anwältin Annabel Richter. Jedoch hat auch der Geheimdienst seine Aufmerksamkeit auf Issa gerichtet. Da stellt sich für den Leser natürlich die Frage, welches Issas wahres Gesicht ist. Es handelt sich also durchaus um eine interessante Geschichte, die nicht ohne Belang ist, ja sogar gehaltvoll ist. Aber ist es nicht wie beim Essen? Gehaltvolle Nahrung muss noch lange nicht schmecken.

Mir persönlich ging zu viel der Spannung aus dem ersten Kapitel verloren. Alles wirkt darauffolgend sehr konstruiert und der Autor verliert sich des öfteren in ausufernden und langatmigen Situationsbeschreibungen, die die Geschichte in keiner Form voranbringen und auch nicht wichtig für das Verständnis sind.
Zudem kommen noch einige sprachliche Fehler hinzu, die ich als störend empfunden habe. Da hat der Übsetzer bzw. das Lektorat nicht gut gearbeitet.

Insgesamt ist es folglich ein inhaltlich interessanter, aber leider nur einigermaßen passabel umgesetzer Roman, der mich in seinem Grundtenor nicht überzeugen konnte. Zwar gab es ab und zu Lichtblicke, aber der Autor schafft es dann doch immer wieder diese zunichte zu machen. Ich fürchte, dass man ihm das nicht als Talent anrechnen kann. (Daniliesing)

3. Meinung:

Gefangen im Spiel der Geheimdienste

Hamburg nach dem 11.09.2001. Issa, ein tschetschenischer Flüchtling, hält sich illegal in Deutschland auf und bittet eine ihm unbekannte türkische Familie um Hilfe. Melik, der Sohn der Familie, ist von der Bitte des Fremden völlig irritiert und versucht ihn abzuweisen. Seine Bemühungen sind nicht von Erfolg gekrönt, da seine Mutter Leyla Mitleid mit dem Schwerkranken hegt und so verstecken sie ihn gemeinsam in ihrer Wohnung. Was sie zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht ahnen können, der unbekannte Fremde ist kein unbeschriebenes Blatt mehr.

Im Verlaufe des Geschehens übernimmt die Anwältin Annabel Richter, die für eine Hamburger Hilfsorganisation tätig ist, die rechtliche Unterstützung für Issa. Von Zweifeln geplagt, versucht sie bei Issa alles richtig zu machen. Denn schon einmal hat sie einen Mandanten verloren, der trotz ihrer Unterstützung abgeschoben wurde. Voller Engagement hängt sie sich in die Sache rein, bis auch sie zur Zielperson des Verfassungsschutzes wird und mit ihnen zusammenzuarbeiten muss.

Weitere Hilfe erfährt Issa durch den Bankier Tommy Brue, der nach anfänglicher Skepsis Issa seine volle Unterstützung gewährt. Als Besitzer einer Privatbank verwaltet er das Erbe des Flüchtlings, schmutziges Geld aus Russland, angelegt vor Jahren noch von seinem Vater auf einem so genannten Lippizanerkonto. Sein Interesse an Issa besteht vorrangig darin, sich der Altlasten seines Vaters zu entledigen und die Bank von ihnen zu säubern.

All diese Geschehnisse werden zunächst unbemerkt, später aber offensichtlich, von verschiedensten Organisationen, ob nun Verfassungsschutz oder Geheimdienste überwacht und als diese ihre Chance wittern, über Issa an einen noch größeren Fisch heranzukommen, schlagen diese erbarmungslos zu. Alle Skrupel werden dabei über den Haufen geworfen und zurück bleiben letztendlich nur die Opfer. Und Opfer sind sie alle in diesem Spiel.

Der Autor John le Carre, selbst ein Ex-Agent des britischen Geheimdienstes profitiert von seinem Wissen und den Erfahrungen in dieser Branche, die er gezielt in seinen Romanen einsetzt. Sprachlich recht anspruchsvoll unter Bezugnahme einzelner, sehr relitätsnah umgesetzter Charaktere versteht er es, den Leser stellenweise gut zu fesseln. Leider stolpert dieser aber immer wieder über langatmige Passagen oder Protagonisten, denen es einfach am nötigen Tiefgang fehlt und die dadurch zunehmend blass erscheinen.

Das Thema des Buches ist sehr aktuell gewählt. Die Auseinandersetzung mit moralischen Grundsätzen unserer heutigen Zeit wird aus verschiedenen Positionen heraus verarbeitet, so dass der Leser während des Lesens gezwungen ist, des Öfteren nachdenklich einzuhalten. Alles in allem, ein gut gewählter Stoff. Und trotzdem konnte mich dieser Roman insgesamt nicht so richtig überzeugen. Es bleibt das Gefühl, dass der Autor durch das Buch einen Weg gefunden hat, seine Wut und die Unfähigkeit, Dinge verändern zu können, verarbeitet. Man selbst als Leser bleibt aber ziemlich unzufrieden zurück. (villawiebke)
keksigirl
 
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