Böckem, Jörg: Lass mich die Nacht überleben

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Böckem, Jörg: Lass mich die Nacht überleben

Beitragvon Petra » Do 20. Mai 2010, 10:15

Böckem, Jörg
Lass mich die Nacht überleben

Bild

Kategorie: Gekürzte Lesung
Genre: Autobiografie
SprecherInnen: Alexander Scheer
Regie: /
Medium: 5 CDs
Laufzeit: ca. 358 Minuten
Verlag: Roof Music; Tacheles!
Preis: vergriffen (Amazon Marketplace hat immer wieder Angebote)
ISBN: 9783936186840
Bewertung: 10 Punkte
(von 10 möglichen Punkten)

Inhalt:

Jörg Böckem ist erfolgreicher Journalist und schreibt seit den Neuzigern für renommierte deutsche Zeitungen, wie den Spiegel. Doch er hat noch eine andere Karriere – die eines Junkies. Und über die berichtet er in dieser Geschichte, dieser Reportage, seines Lebens.

Meine Meinung:

Eine steile Karriere. Allerdings eine, die nicht steil bergauf, sondern steil bergab geht. Und hiermit meine ich nicht seine Journalisten-Laufbahn, sondern seine Karriere als Junkie.

Alles fängt – wie eigentlich jede Sucht – scheinbar harmlos an. Jugendsünden, alles ist cool, Musik von The Undertones und Iggy Pop, dazu ein kleiner Tripp. Und ein Mädchen – am besten nicht lange dasselbe.

Erst (zu) spät – wie jeder Süchtige – erkennt Jörg Böckem, dass nicht er die Dorge beherrscht, sondern das Heroin ihn. Dass es seinem Tag nicht nur den besonderen Kick gibt, sondern dass er ohne diese Droge keinen Tag mehr überstehen kann. Und so beginnt sein langer Weg, der ihn immer weiter weg führt von dem Gefühl, das er bei den Drogen sucht: Leichtigkeit, Sorglosigkeit, Überlegenheit.

Er scheitert ein ums andere Mal. In seinen Beziehungen, in seinen Versuchen ein normales Leben zu führen. In seinem Kampf gegen seine Sucht. Er entwürdigt sich in Momenten, in denen man ihn erwischt, in denen er Freunde um Hilfe anflehen muss und in Situationen, in denen er nicht mal mehr weiß, was er tut. Ein unheimlich ehrliches Protokoll, das mit aller Wucht aufzeigt, wie und was ein Abhäniger (egal ob es hier um Drogen, Alkohol, Tabletten, Essen, Spielen etc. geht – der Ablauf ist bei jeder Sucht ziemlich gleich) fühlt. Gleichzeitig ist dies ein Zeugnis über das, was eine Sucht anrichtet. Was sie aus einem Menschen macht. Was sie alles zerstört. Wen sie alles verletzt.

Jörg Böckem macht mit seiner Lebensbeichte aber auch Mut. Der Kampf gegen die Sucht lohnt. Die Belohnung sind ein neues Leben, ein neues Selbstwertgefühl. Ein Leben ohne Abhängigkeit, ohne ständig um die Sucht kreisende Gedanken, ohne den zerstörrerischen Sog, der den Suchtkranken immer weiter nach unten zieht.

Und ganz unten war Jörg Böckem. An dem Tag, an dem er – vielleicht an eine höhere Macht gewandt, er war sich selbst nicht sicher – fleht: „Lass mich die Nacht überleben.“ Sein ganz persönlicher Tiefpunkt. Als er den erreichte, bekam ich nahezu eine Gänsehaut. Dass eine Sucht alles mit sich reißt und zerstört ist mir aus eigenen Erfahrungen in meinem Umfeld klar. Doch es hier so deutlich mitzuerleben (ja, das schafft diese Geschichte: miterleben!), tat weh.

Der Epilog war für mich noch mal abschließend so richtig ergreifend, da man darin erfährt, wie es den Menschen in Jörg Böckems Leben - die der Leser/Hörer im Laufe seiner Lebensgeschichte kennengelernt hat - weiterhin ergangen ist. Zudem zeigt der Epilog, dass man es schaffen kann. Jörg Böckem führt sich damit sicher auch selbst vor Augen, dass man (dass ER!) es schaffen kann. Denn er ist nicht überheblich und sieht sich nicht über der Droge stehend. Er weiß, dass sie Teil seines Lebens war und – auch wenn er clean bleibt – immer zu ihm gehören wird. Ein guter Schritt in ein besseres Leben – das weiß jeder, der schon mal mit Suchtkranken zu tun hatte. Ein Junkie ist immer ein Junkie. Einer, der drauf ist, oder einer, der clean ist. Jörg Böckem ist zu dem Zeitpunkt, an dem er das Buch beendet hat, clean. Da darf er sehr stolz drauf sein!

Herr Böckem, ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihren weiteren Lebensweg! Und bedanke mich für diese wertvollen Einblicke in das Leben eines Suchtkranken. Sehr wertvoll – als Warnung für alle, die in Drogen einen Kick suchen wollen, den sie nur im eigentlichen Leben finden können, nie aber in einer Droge. Und wertvoll für alle, die Angehörige von Suchtkranken sind. Man lernt durch diese Einblicke besser verstehen. Was sie durchmachen, warum sie lügen und enttäuschen.

Zum Hörbuch: Etwas unsanft wird man in die Geschichte mit einer Musikeinspielung gerissen. Nach Verklingen des Epilogs wird dasselbe Lied nochmals eingespielt: Teenage Kicks von The Undertones. Der Soundtrack Jörg Böckems Lebens. Passender geht es nicht. So unsanft mich die Musik in die beginnende Geschichte hineingezogen hatte, so gefühlsintensiv hat sie mich aus Jörg Böckems Leben entlassen. Auch dafür: Bravo!

Ebenfalls dankbaren Applaus an Alexander Scheer. Der perfekte Sprecher für diese Lebensbeichte. Jörg Böckem zeigt sich in seiner Jugend nicht gerade emotional. Alexander Scheer trifft mit seiner sachlichen Tonlage die Gefühle dieser Zeit meiner Ansicht nach glänzend. Später kommt Fahrigkeit hinzu. Diese leicht gehetzte Note, setzt die Sucht und den inneren Druck perfekt in Szene, den ein Suchtkranker verspürt. Man hört Alexander Scheer zunehmend an, wie dringend nötig Böckem das Heroin hatte. Wie der Focus sich mehr und mehr einzig und allein auf den nächsten Druck verlagert. Welche Verzweiflung und Qualen die Sucht auslöst. Ich bin überzeugt: Besser kann man das nicht umsetzen.

Fazit: Sowohl für die Story (warum Jörg Böckem TROTZ seiner Sucht stets ein erfolgreicher und gefragter Journalist war, verstehe ich nach diesem Buch gut), als auch für den Sprecher volle Punktzahl! Und für die Umsetzung ebenfalls, die sich in kleinen Details (die Musikeinspielung) wirklich behauptet und das Hörbuch in Perfektion abrundet! (Petra)

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Liebe Grüße,
Petra


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