Hallo zusammen,
ich habe nun „Anna Karenina“ beendet. Es hat, nachdem ich die erste Hälfte recht flott durch hatte, dann doch etwas gedauert. Zwischendurch benötigte ich immer wieder mal ein paar Tage oder auch mal 1 – 2 Wochen Lesepause, weil mir zum einen die gehobene Gesellschaft der damaligen Zeit mit all ihren gepflegten Problemen, ihren eintönigen Lebensgewohnheiten und vor allem in ihrer Oberflächlichkeit einfach zu viel wurde und ich Abstand brauchte und es hin und wieder auch zu Längen im Buch kam. Zum anderen wiederholten sich ab dem zweiten Drittel des Buches immer wieder die Beschreibungen der einzelnen Charaktere mit den gleichen Worten. Auch das Wort „Qualen“ und „qualvoll“ wurde manchmal auf einer Seite mehrmals erwähnt, immer und immer wieder über die ganzen 1.231 Seiten. Ich glaube, das Wort kann ich nie wieder hören ohne an“ Anna Karenina“ zu denken. Hinzu kamen noch grobe und reichhaltige Rechtschreib- und Grammatikfehler in der Übersetzung, die erst zum Ende hin wieder weniger wurden. Sowas verdirbt mir schnell die Lust am Lesen.
Dennoch...
Rein nüchtern und emotionslos betrachtet, ist die Rahmenhandlung von „Anna Karenina“ ja eine recht dünne und auch Anna Karenina selber tritt gar nicht so häufig in Erscheinung. So habe ich mich während des ganzen Buches und auch nach Beendigung des Romans gefragt und gewundert, wie Tolstoi es geschafft hat, die Handlung zu einem solch sprachgewaltigen Epos von über 1.200 Seiten in doch recht kleingedruckter Schrift auszuformulieren (oder sollte ich besser fabulieren sagen?) und den Leser auch noch bei der Stange zu halten. Das ist schon recht eindrucksvoll.
Und eben diese eindrucksvollen Detailbeschreibungen - lässt man die ein oder andere Länge mal außer Acht - machen das Buch aus und lassen es einen trotz der genannten Unzulänglichkeiten mit Zufriedenheit beenden. Ich bin fasziniert von der genauen Beobachtungsgabe Tolstois und noch mehr davon, diese Beobachtungen der äußeren Umstände und der inneren Gefühlswelten und die, oftmals tiefgründigen, Gedankengänge von Menschen auf derart feinfühlige, genaueste und verständliche Weise in Worte zu fassen. Das ist der pure Lesegenuss!
Anna selber, nun, ehrlich gesagt, blieb sie für mich recht blass und in großen Teilen des Romans recht unsympathisch, wenngleich ich ihre Depressionen und Handlungen schon nachvollziehen konnte. Allerdings waren die Übergänge zu Anna immer sehr „ruckartig“ und unsanft, so dass man nicht wirklich die Entwicklung mittels eines fließenden Überganges erkennen konnte wie dies bei den anderen Protagonisten der Fall war. Sie hatte einfach plötzlich wieder einen Schub in ihrer Entwicklung getan, ohne dass der Leser an dieser Entwicklung teilhaben konnte. Das hätte ich mir gerne anders gewünscht, gerade, weil das Buch nach ihr benannt ist; vielleicht war es aber auch die Absicht Tolstois und als Stilmittel eingesetzt...
Am besten haben mir Ljewin und sein Charakter sowie seine Gedanken gefallen und wie ich schon während des Lesens vermutete, bestätigte sich dies durch das Nachwort des Übersetzers, dass Tolstoi sich selbst in der Figur des Ljewin (auch der Name deutet auf den Vornamen Tolstois hin) in „Anna Karenina“ einbrachte. Dies geschah durch Ereignisse aus Tolstois eigenem Leben, wie z. B. das Brautwerben, aber in erster Linie mittels seines eigenen Charakters und seiner eigenen Gefühle und Gedanken, die er durch Ljewin beschreibt: Der Zweifler, der Hinterfragende ,der Grübler, der Wahrheitssuchende, die Frage nach dem Sinn und Zweck des Lebens und der Existenz Gottes und der richtigen Religion und allem voran ist er ein Mann des Volkes, obwohl er der Oberschicht angehört. Die meisten Passagen in dem Roman handeln von Ljewin, was mir persönlich sehr gut gefallen hat.
Im Nachhinein tut es mir leid, dass ich manche Gedankengänge, gerade die Ljewins und auch die von Annas Ehemann, oder manch sprachlich besonders ausgefeilte Stelle nicht markiert habe.
Insgesamt ist „Anna Karenina“ für mich nicht das Highlight, was ich erwartet hatte, aber die Sprachgewalt Tolstois hat es mir schon sehr angetan und somit ist „Anna Karenina“ sicherlich der passende Einstieg für weitere Werke von ihm.