Hallo Maria,
in der Tat soll es einen Aufschrei gegeben haben, als T.C. Boyle diesen Roman veröffentlichte. Bei Wikipedia (im
Artikel über „América“) steht:
Boyle sagt selbst, "dass dies mein umstrittenster Roman war, als er erschien, denn ich behandelte darin das heiße Eisen eines sozialpolitischen Themas - illegale Einwanderung in Südkalifornien - und viele Kritiker nahmen sich das Buch mit starken Vorurteilen vor. Ich musste eine Menge von Beschimpfungen, inkl. (meine Lieblingsbeschimpfung) "menschlicher Abfall" in einer Radiosendung in San Francisco genannt zu werden, hinnehmen. Nachdem die Menschen im Laufe der letzten paar Jahre die Möglichkeit hatten, etwas tiefergründig über das Buch nachzudenken, haben sich die Wogen geglättet und "América" (The Tortilla Curtain) ist zu einem modernen Klassiker geworden. Es ist mein bei weitem populärster Titel, der sowohl in Highschools als auch in Universitäten im ganzen Land viel gelesen wird."Ein weiterer erfreulicher Hinweis findet sich direkt darunter. Demnach war es schon Pflichtlektüre für das Zentralabitur in einigen Bundesländern. Auch in Schulbüchern für die Sekundarstufe II an deutschen Gymnasien sollen Auszüge aus dem Roman enthalten sein. Sehr erfreulich, denn die Themen Boyles sind so aktuell, keinesfalls nur in Kalifornien.
Ich komme noch mal kurz auf die Stelle zurück, als América auf dem Platz wartet, und hofft, dass sie Arbeit bekommt. Als sich Mary hinzugesellt, fragt sich América ja, wie es nur hat soweit kommen können, dass sie neben einer wie Mary (die nach Alkohol riecht) sitzt. Auf den ersten Blick scheint die Frage eher andersherum zu passen – als wenn Mary sich das umgekehrt fragen würde. Américas Sicht darauf irritiert somit zunächst, besonders da man sofort feststellt, wie recht sie hat. Und dass man es von außen genau andersherum betrachtet hätte. Mich hat dieser Gedanke Américas berührt, und wie so vieles in dem Buch, zum nachdenken gebracht.
Ja, im 7. Kapitel zeigt sich Delaneys Instabilität, als er nicht dazwischen geht, als dem Mexikaner auf dem Parkplatz zugesetzt wird. Und etwas später zeigt er noch mehr, wie wenig gradlinig er ist. Ich hatte bei der Stelle auf dem Parkplatz gedacht, dass Delaney, wenn er alleine dort wäre, dem Mexikaner noch etwas Geld zugesteckt hätte, wenn er ihm schon sonst nicht helfen würde, da er sich nicht traut. Doch kurz drauf musste ich den Gedanken verwerfen, da er den Mexikaner als Störung empfindet. Diesen Gedanken, dass Delaney in die falsche Richtung kippt, fand ich schlimm. Wo ist das Mitgefühl? Wo ist der Delaney, der im Supermarkt noch so groß herumgetönt hat, dass man in einer Demokratie lebe, und man niemanden aussperren dürfe. Kaum gesagt, schaut er doch wieder verächtlich auf den Mexikaner herab. Seine innere Moral deckt sich nicht mit seinem Handeln. Daran sieht man, wie hohl, wertlos und unecht seine Moral ist. Daran verursacht mir ein mulmiges Gefühl, dass die meisten Menschen so sind. Die meisten von uns verspüren Mitleid, wenn sie Bilder von hungernden und armen Menschen im Fernsehen sehen. Aber die Handlungen bleiben aus. Und im nächsten Moment fühlen wir uns wohl auch öfter mal gestört, wenn uns am Hauptbahnhof ein betrunkener, müffelnder Obdachloser anbettelt. Man kann diese Gedanken zahlreich weiterspinnen. Somit ist Delaney gar nicht so weit von uns entfernt. Vom einen etwas mehr, vom anderen etwas weniger. Aber zu Gedanken kann er uns alle anregen.
Du sprichst die subtile Gefahr an, Maria, die Dich schockiert. Das ist interessant, denn das hat mich genauso geschockt. Gestern lag ich auf der Couch und las (das 7. und 8. Kapitel), und mich beschlich dieses Gefühl der subtilen Bedrohung ebenfalls. Ich war erschüttert darüber, in welcher Angst Cándido und América (und wer weiß wie viele Menschen) leben müssen. Angst davor entdeckt zu werden, Angst davor, dass man ihnen Gewalt antut, Angst vor Abschiebung, Angst davor, keine Arbeit (für den nächsten Tag – wir reden hier nicht mal von einer Stelle für längere Zeit, die Angst beginnt jeden Tag von Neuem) zu bekommen. Und Américas Angst vor dem Arbeitgeber. Das hat mich auch sehr schockiert. Denn mir wurde eindringlich bewusst, dass jemand, der illegal im Land ist, keine Rechte hat. Jemand wie der dicke Mann, der América Arbeit gibt, hat mir das bewusst gemacht. Mal angenommen, er würde sie weiter sexuell belästigen, gar vergewaltigen. Sie könnte sich nirgends ihr Recht holen. América und Cándido sind nicht nur Illegale, sondern auch Entrechtete.
Ganz beklemmend fand ich auch die Angst von Cándido, was passiert, wenn América nicht zum Lager zurück findet. Oder wenn ihn die Migra aufgreift und aus dem Land abschiebt. Wie sollen sich América und Cándido wiederfinden? In einer Zeit (und einem Land), in dem alle technischen Möglichkeiten gegeben sind, hält man ein Problem wie dieses nicht für denkbar. Wie berechtigt Cándidos Furcht ist, hat mich betroffen gemacht.
Was América im Kapitel 8 widerfährt (ich möchte nicht zu viel verraten), bestätigt all das was mir an Gedanken kam nur noch ein weiteres mal. Was für eine traurige Geschichte, weil sie trotz der Fiktion so real ist und so viele Menschen betrifft. Und wir schaffen es trotzdem daran vorbei zu leben, und es wie Delaney zu halten. Uns ab und an mal gestört fühlen, in unserem heilen wunderbaren Leben. Von einem Schandfleck, von etwas Fremden.
Irgendwo im Internet habe ich die Frage gelesen, ob Delaney ein Rassist ist. Zum jetztigen Zeitpunkt würde ich sagen: nein. Obwohl er sich so verhält. Aber ich glaube nicht, dass er das bewusst macht. Ich glaube ihm seine Moral, die er innerlich zeigt. Aber ebenso glaubhaft sind seine Taten. Dieser Widerspruch zeigt mir, dass er einfach nur ignorant ist. Seine Belange gehen ihm vor den (viel ernsteren) Nöten eines Mexikaners.
Vielleicht entwickelt er sich aber noch zum Rassisten. Denn im 1. Kapitel des 2. Teils wird ihm sein Auto gestohlen. Und für ihn steht fest (was auch wahrscheinlich so sein mag), dass es Mexikaner waren. Er fühlt sich betrogen. Das Gefühl kann ich verstehen. Das empfindet man in solch einem Moment. Doch der Autoverkäufer, der Delaney ein neues Auto verkauft, bringt es auf den Punkt: man selbst würde es an des Mexikaners Stelle doch genauso machen. Dieser Roman zeigt uns doch, dass das vielleicht irgendwann die einzige Möglichkeit ist, um seine existenziellen Bedürfnisse zu stillen. Welches Unrecht wiegt stärker? Das des Diebstahls? Auf den ersten Blick ja. Oder aber das es dieses Ungleichgewicht zwischen den sozialen Schichten gibt. Auf den zweiten Blick, wenn man alles in summiert, dann möchte man während der Lektüre dem mutmaßlich mexikanischen Autodieb beipflichten. Und jede Wette, wenn uns selbst unser Auto geklaut wird, können wir es nicht mehr so objektiv betrachten, sondern sehen nur unseren eigenen Nachteil?
T. C. Boyle regt ganz geschickt solcherlei Gedanken an. Gedanken über die Menschen, aber auch um uns selbst. Denn so weit sind wir alle von Delaney gar nicht entfernt.