Wenn ich mich recht erinnere, habe ich irgendwo etwas in der Art gelesen, dass
Percival Everett über Schwarze als Figuren in Romanen sagte, dass sie immer zum Einsatz kommen, wenn sie für die Handlung eines Weißen wichtig sind. Wenn sie dem Weißen darin für irgendwas nützlich sind. Dem weißen Helden zu Gute kommen. So werden Schwarze selbst in Romanen von Weißen ausgebeutet. In
„James“ tritt endlich ein Schwarzer aus dem Schatten heraus, und erzählt die Geschichte aus seiner Sicht. Oder besser gesagt, er erzählt seine Geschichte. Und wie er die erzählt!
Am Ende seiner Geschichte heißt er auch nicht mehr Jim, wie er in Kurzform von allen (auch in Mark Twains „Huckleberry Finns Abenteuer“) genannt wird, sondern James. Auch den Ort der Handlung setzt Percival Everett ins wahre Licht. Bei Mark Twain ist der Ausgangspunkt die am Ufer des Mississippi gelegene fiktive Kleinstadt St. Petersburg im Staate Missouri. In Percival Everetts Roman ist der Ausgangspunkt die Stadt Hannibal; der Stadt, in der Mark Twain aufwuchs, und der die fiktive Stadt St. Petersburg nachempfunden ist.
Wie auch bei Mark Twain, verwendet Percival Everett in Dialogen eine spezielle Ausprägung des Südstaatenenglisch, die im 19. Jahrhundert von Schwarzen gesprochen wurde (die Nachbemerkung des Übersetzers gibt darüber Aufschluss, aber auch Mark Twain äußerte sich in „Huckleberry Finns Abenteuer“ dazu, wie meiner Ausgabe vom Diogenes Verlag zu entnehmen ist). Doch Percival Everett vollführt hier einen Geniestreich: Er lässt die Schwarzen nur in Dialogen mit Weißen so sprechen. James unterrichtet seine Tochter und andere Sklavenkinder anfangs sogar in der korrekten Anwendung von Sklavensprache. Die Begründung ist ganz einfach und nachvollziehbar: es ist nie gut, wenn ein Weißer sich nur ebenbürtig oder gar unterlegen fühlt. Es ist herrlich (als mitwissender Leser) zu beobachten, wie ekelerregend überlegen sich Weiße im Dialog mit Schwarzen fühlen, und gleichzeitig zu wissen, dass mancher von ihnen grammatikalisch weniger drauf hat, als sein dunkelhäutiges Gegenüber.
Was für eine umwerfende Idee! Und in ihrer Umsetzung genial, auch vom Übersetzer Nikolaus Stingl, der diese sicherlich große Herausforderung glänzend gemeistert hat. Völlig flüssig und mühelos liest sich der Text, und doch ahnt man die harte Arbeit, die hinter jedem Satz steckt. Die Dialoge wirken unglaublich authentisch.
Ich habe der Frage nachgespürt, was Percival Everett mit Mark Twains Vorlage genau macht. Erzählt er sie nach? In gewisser Weise ja. Und doch trifft es das nicht gut. In einer Diskussion in SWR Kultur zwischen Jurymitgliedern der SWR-Bestenliste wurde gesagt, dass er Twains Geschichte überschreibt. Das gefällt mir schon besser. Aber auch das beschreibt es nicht ausreichend. Wo Mark Twain seine Figur, den Sklaven Jim, der mit Huck auf der Flucht ist, und an dessen Seite viele Abenteuer erlebt, aus den Augen lässt, füllt Percival Everett den Raum. Wie weit, das werde ich noch nachprüfen, denn ich habe natürlich jetzt große Lust, Mark Twains Roman „Huckleberry Finns Abenteuer“ zu lesen oder als Hörbuch zu hören. Ich kenne die Geschichte nur sehr grob aus einem Kinderhörspiel, das ich in meiner Kindheit hörte.
Relevant ist jedoch vor allem, dass in Percival Everetts Roman die Perspektive gewechselt wird. Die Geschichte wird nun aus der Sicht des Sklaven Jim, James, erzählt. Beate Tröger (Literaturkritikerin und Jurymitglied der SWR Bestenliste) äußerte in der Diskussionsrunde des SWR-Kultur, dass sie Twains Roman universeller, und Everetts Roman als Verengung in Schwarz-Weiß empfinde. Gerrit Bartels (Feuilletonchef und Literaturkritiker und ebenfalls Jurymitglied der SWR-Bestenliste) hielt zum Glück dagegen, indem er sagt, dass das Universelle hier nicht die Fragestellung sei. Warum erwähne ich das? Weil ich es genau so sehe! Die Verengung der Geschichte in Schwarz-Weiß geschieht zwangsläufig. Denn was auch sonst sollte die Geschichte aus James Perspektive sein, als eine Verengung in Schwarz-Weiß? Was aus Hucks Sicht tolle Abenteuer sind, sind für Jim eine viel größere Gefahr und Bedrohung. Wenn man Huck erwischt, kriegt er den Hintern versohlt. Wenn man Jim erwischt, wird er ausgepeitscht oder vermutlich sogar getötet. Der Vorwurf hat mich somit schon verwundert.
Beate Tröger empfand auch die (so nannte sie es) Ding-Symbolik, die in Everetts Roman einem Bleistift zukommt, als zu dick aufgetragen. Percival Everett macht mit seinem Roman deutlich, dass Schwarzen alles aberkannt wurde. Auch das Wort! Gesprochen, gelesen (ungeheuerlich!) oder gar geschrieben (nicht auszudenken!). Was ein Bleistift allein deshalb schon für James für ein Gewicht haben muss, konnte mir klarer kaum werden. Umso mehr, wenn man die Geschichte gelesen hat, wie er zu dem Bleistift kam. Welche Folgen das hatte. So haben mich Beate Trögers Äußerung dazu etwas sprachlos gemacht. Ich denke James würde dazu sagen: „Herrmhimmel!“
Da schließe ich mich lieber Martina Läubli (Redakteurin der Neuen Zürcher Zeitung und ebenfalls Jurymitglied der SWR-Bestenliste) an, die den Roman als brillant bezeichnet, und meint, dass man ihn sowohl emotional und als Abenteuerroman lesen kann, als auch als philosophische Auseinandersetzung über Freiheit und Rassismus.
Doch weg von dieser von mir verfolgten Diskussion und zurück zu meinen Eindrücken, zu denen ich abschließend sagen möchte, dass mich dieser Roman tief bewegt hat. Wir alle wissen viel über die Sklaverei. Und denken deshalb, wir müssten dazu nichts Weiteres mehr hören. Dieser Roman hat mir gezeigt, dass wir vieles wissen, aber nicht alles. Und eine andere Perspektive einnehmen müssen, um es ansatzweise verstehen und nachfühlen zu können. Und auch um die bis heute bestehende große Kluft zwischen Schwarz und Weiß in den USA zu verstehen. Dem Ausmaß dieser Kluft. Und um die Ungerechtigkeit, die diesen Menschen widerfahren ist, nicht zu vergessen. Percival Everett rechnet in seinem Roman mit alle dem ab, und er macht auch nicht Halt vor den scheinbar Guten unter den Sklaventreibern, die ihre Sklaven gut behandelt haben. Was ich sehr richtig und sehr gut fand.
„James“ ist ein Roman von großer aktueller Relevanz! Zudem genial in Idee und Umsetzung. Und nicht zuletzt am Rande auch ein spannender und unterhaltsamer Abenteuerroman. Und hierin liegt für mich der zweite Geniestreich Everetts: Er erzählt über dieses ernste schwere Thema auf so unterhaltsame und schöne Weise, dass man ihm mit großem Vergnügen zuhört. Und es ist so wichtig, das alles zu hören!
Anmerkung: Dem Roman ist der Text des Lieds „The Blue-Tail-Fly“ („Jimmie Crack Corn“) vorangestellt, welches in dem Roman auch vorkommt. Ich habe es im Internet gesucht, und diese schöne
Interpretation von Burl Ives gefunden.