Leo Kaplan führt ein tolles Leben: Er ist
verheiratet, eine große Erbschaft steht ihm bevor, er ist
erfolgreicher Schriftsteller und - das sagt er selbst - in Holland
weltberühmt.
Würde er den Rest seines Lebens genauso
bescheiden betrachten, wie seinen vermeintlichen Weltruhm, so
wäre nicht nur dem Leser glasklar, dass seine Ehe schneller
beendet sein könnte, als er ein Glas Wodka trinken kann; und das
kann er verdammt schnell.
So steht Leo Kaplan schon sehr bald vor
einem Scherbenhaufen. Nicht etwa, weil er zu betrunken ist, das
Glas zu halten. Nein, das ist höchstens ein zusätzliches
Problem. Dieser Scherbenhaufen ist sprichwörtlich zu verstehen
und auf sein Leben anzuwenden. Er ist unfähig in einer Beziehung
Erfüllung zu finden, sein bevorstehendes Erbe beschert ihm mehr
Unbehagen als Freude und zu allem Übel gesellt sich auch noch
eine Schreibblockade.
Es muss anders werden mit ihm, sieht er
ein. Der Zufall will es, dass er seine Jugendliebe Ellen
wiedertrifft. Dieses Zusammentreffen führt ihm schlagartig vor
Augen, was bei ihm im Argen liegt. Die Beziehung zu Ellen war für
ihn die Erfüllung. Gemeinsam widersetzten sie sich den Vorgaben
ihrer Eltern, zimmerten sich ihre eigene Welt. Bis zu dem Tag, als
ein einziger Satz alles zwischen ihnen zerstört hat. Das
Wiedersehen mit Ellen - zwanzig Jahre nach der Trennung - birgt
eine neue Chance für Leo. Durch sie kann er erkennen, an was es
ihm mangelt...
Meine Meinung:
Es gibt Bücher, die packen einen bereits
auf der ersten Seite, und lassen einen nicht mehr los, bis man den
letzten Satz begierig verschlungen hat. Leo Kaplan gehört
zu dieser Sorte Buch!
Leon de Winter zeigt in diesem Roman eine
Vorliebe für Sinnbilder. So vergleicht er beispielsweise den
Seitensprung mit einem Trapezakt. Sollte man mich bitten, dieses
Buch zu versinnbildlichen, so fiele mir für dessen Beschreibung
ein Teppich ein. Tausende und Abertausende von losen Fäden werden
zu einem Teppich verknüpft, in dem sich nach und nach das Muster
abzeichnet. Selbst die kleinsten Fransen und scheinbar losesten
Fäden dieses gewaltigen Teppichs umrahmen das Grundmotiv dieses
Romans: Die Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens, gemessen
an der Liebe, die so wunderbar und allumfassend sein kann und die
von einer einzigen unachtsam ausgespuckten Lüge für immer
zerstört werden kann.
In diesen Teppich aus Geschichten - allem
voran Leos und Ellens Geschichte - kann man sich einhüllen und
von ihm davontragen lassen. De Winter gestaltet dem Leser die
Reise höchst angenehm. Schon der Prolog ist unwiderstehlich. Eine
Unmöglichkeit bereits nach diesen ersten Seiten, sich abzuwenden
von diesen (un)schönen Szenen. Wie ein Voyeur wohnt man Kaplans
Erlebnissen bei. Und derer gibt es viele, bis er erkennt, wo die
Wurzeln seiner Probleme liegen. Er muss auf die Reise gehen. Diese
Reise führt ihn aus den Niederlanden u. a. nach Berlin, Kairo und
Rom. Aber auch in die Vergangenheit, denn das Zusammentreffen mit
seiner ersten großen und unvergesslichen Liebe Ellen wirft ihn
zurück an den Anfang - natürlich nur in seiner Gedankenwelt.
Seine Reise ist ein Weg zur Heilung, die er dringend nötig hat.
Das weiß er, als die Symptome seiner Krankheit nicht mehr zu
übersehen sind. Die Symptome heißen: Untreue, Alkoholmissbrauch
und Schreibblockade.
Wie es auf Reisen üblich ist, begegnet
Kaplan vielen Menschen. Sie weisen ihm an manchen Stellen durch
ihr eigenes Schicksal den Weg und geben ihm zu denken - hiervon
bleibt auch der Leser nicht verschont. Von Gedanken -
wunderschönen und traurigen, verwirrenden und erleuchtenden -
wimmelt es an jeder Ecke dieser zahlreichen Schauplätze. Leon de
Winter bietet sie dem Leser so wunderschön verpackt an, dass man
nicht widerstehen kann, sie auszupacken, in den geistigen Händen
zu wiegen, sie mit anderen zu teilen oder auch für sich zu
behalten und aufzubewahren.
Bei aller Melancholie, die über dem Buch
liegt, ist der Witz und Irrwitz alltäglicher Situationen
allgegenwärtig und macht dieses Buch zu einem zugleich ernsten
und überaus spritzigen, amüsanten Lesevergnügen. Hierbei
erwähnt werden sollte auch ein wichtiger Bestandteil von Leos
Problemen und somit eines der Hauptthemen dieses Buchs: Der Sex.
Leon de Winter schildert das rege Treiben in allen Farben und
haucht dem Leser damit schon mal ein verlegenes rot auf die
Wangen. Mit einer überaus direkten Sprache verführt er den Leser
auch in dieser Hinsicht - sofern er gewillt ist, sich darauf
einzulassen. Die Praktiken hierbei müssen nicht jedem gefallen;
ich rechne de Winter jedoch die Authentizität dieser wagemutigen
Sexszenen hoch an. So könnte es sein, hier und da. Und diese
Glaubwürdigkeit gilt für mich auch für sein sämtliches
Personal. Einige Figuren mochte ich, andere verloren an Sympathie.
Die meisten konnte ich verstehen, andere nicht. Aber eines hatten
sie alle gemeinsam: Es waren keine leeren Hüllen, sondern
äußerst lebendige Figuren, bei denen ich nicht überrascht
wäre, wenn ich ihnen in den Niederlanden, Rom oder wo auch immer,
begegnen würde. Verabschiedet habe ich mich am Ende des Buchs
nicht gerne von ihnen. Am schwersten fiel mir der Abschied von
Leo. Ich wünsche ihm alles Gute.
Wer es nun für überzogen hält, einer
Romanfigur für seinen weiteren Lebensweg alles Gute zu wünschen,
den möchte ich noch kurz verwirren: Vieles aus Leo Kaplans
Biographie deckt sich mit der seines Autors. Selbst das Buch, an
dem Kaplan in dem Buch arbeitet - Hoffmans Hunger -,
existiert wirklich. Leon de Winter hat es geschrieben und es ist
in den Niederlanden 1990 erstmalig veröffentlicht worden. Leo
Kaplan bereits 1986 (in deutscher Sprache erst 2001). Aber das
ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen dem echten und dem
fiktiven Autor. Wieviel aus Leon de Winters eigenem Leben in der
Figur des Leo Kaplan steckt, wird wohl unklar bleiben. Ein Faktor
jedenfalls, der mein Interesse für das Buch und den Autor noch um
ein Vielfaches gesteigert hat.
Ein ebenfalls überaus interessanter
Aspekt ist, dass Leon de Winter - wie sein Alter Ego Leo Kaplan -
Jude ist. Das jüdische Thema ist stets Unterton in diesem Buch.
Und de Winter darf es als Jude von einer Seite anfassen, die einem
nicht jüdischen Schriftsteller nicht zustehen würde. Hierbei
gefällt mir die Leichtigkeit, mit der er dieses Thema angeht.
Nicht von der Seite eines gläubigen Juden, sondern von der eines
Juden, der zwangsläufig durch die Vergangenheit seiner Eltern mit
diesem Thema konfrontiert wird. Dass er sich dieses Thema nicht
aussuchen kann, wird in dem Buch klar sichtbar. Es ist Teil seiner
Kindheit und somit Teil seines Lebens. Nicht mehr aber auch nicht
weniger. Das hat mir ausgesprochen imponiert. Erstmalig konnte ich
die Probleme, die sich für die Nachfolgegeneration der
Holocaust-Opfer aus dieser Vergangenheit zwingend ergeben,
nachvollziehen. Das ist Leon de Winter wunderbar und für mich
bisher unvergleichlich gelungen, ebenso wie diese ganze große
Geschichte um Leo Kaplan. (Petra)
Meine Meinung:
Schon lange habe ich kein
Buch mehr gelesen, dass mich so lange auch nach dem Lesen
beschäftigt hat.
Dabei ist der Held nicht
einmal besonders sympathisch. Leo Kaplan geht keiner
regelmäßigen Arbeit nach, er schreibt hin und wieder Artikel
für Zeitungen und hält Seminare. Das Schreiben von Büchern
gelingt ihm nicht mehr. Dieses berufliche Scheitern setzt ihm zu
und er betäubt seine Versagensgefühle mit Affären und mehr
Alkohol als ihm gut tut. Der Held, eigentlich ein erfolgreicher
Schriftsteller, ist also ein Versager.
Normalerweise lese ich
nicht gerne Romane über das Versagen eines Menschen, schon gar
nicht über mehr als 500 Seiten. Aber hier ist es anders, denn Leo
ist nur subjektiv für sich selbst ein Versager, für die
Öffentlichkeit ist er nach wie vor ein erfolgreicher
Schriftsteller und in Holland weltberühmt. Diese Ungleichheit
macht ihm zu schaffen, deswegen fallen ihm öffentliche Auftritte
wie Interviews und Lesungen schwer. Da fällt er schon mal aus der
Rolle und beschimpft eine Journalistin, die mit seinen
freizügigen Texten nichts anfangen kann. Doch im allgemeinen
spielt Leo die Rolle des erfolgreichen Schriftstellers routiniert,
aber am Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung
zerbricht er fast. Und wer kennt nicht die unterschiedlichen
Erwartungen, die tagtäglich an uns gestellt werden, und die
Rollen, die wir bedienen müssen, und verflucht sie insgeheim hin
und wieder. Weil auch Leo Kaplan so ist, ist er für mich ein
absolut authentischer Held. Nicht stereotyp, sondern ein Mensch
mit Ecken und Kanten, mit Siegen und Niederlagen.
Gepflastert mit Siegen und
Niederlagen sind auch seine Beziehungen zu Frauen. Zwar fällt es
ihm leicht Frauen kennen zu lernen und in sein Bett zu holen,
teilweise drängen sie sich ihm geradezu auf, doch das Glück
einer dauernden Liebesbeziehung lernt er nicht kennen. Am ehesten
gelang ihm dies noch mit seiner Jugendliebe Ellen. Leo, der
jüdische Student, dessen Eltern die einzigen
Holocaust-Überlebenden ihrer Familien sind, und Ellen, deren
Familie auf dem Dachboden noch eine SS-Uniform aufbewahrt. Sie
schaffen sich einen Kokon, ein Nest gegen den Rest der Welt. Doch
diese Liebe zerbricht an einem einzigen unbedachten Satz, der
nicht mehr zurückgenommen werden kann.
Die zufällige Begegnung
mit Ellen Jahre später wirft Leo aus der Bahn, hier erkennt er
was ihm fehlt und was sich bei ihm in Affären, Alkohol und
Schreibhemmung äußert. Eine Reise nach Rom um sein letztes Buch
vorzustellen wird unversehens zur Chance für ihn, wieder mit sich
selbst ins Reine zu kommen.
Viele Schauplätze und
Personen tauchen in diesem Roman auf, teilweise scheint es
unzusammenhängend, manchmal wurden mir die Erzählfäden etwas zu
verworren. Auf einige Nebenstränge hätte der Autor im Sinne
eines ökonomischen Erzählflusses verzichten können. Aber
andererseits führen diese Erzählstränge und losen Enden dazu,
dass man sich in diesem Roman verlieren kann.
Mit den wechselnden
Schauplätzen und Handlungssträngen gelingt es Leon de Winter
meisterhaft Stimmungen zu erzeugen. Von poetisch über
melancholisch zu deftig wechseln Stil und Sprache. Apropos deftig:
Der notorische Ehebrecher Leo Kaplan hat natürlich häufig Sex.
Hier nimmt de Winter kein Blatt vor den Mund, zwar gibt es keine
außergewöhnlichen Praktiken, aber die Sexszenen sind detailliert
beschrieben. Wer das nicht mag, wird an diesem Buch keine Freude
haben.
Eine Frage bliebt jedoch
offen: Wie viel Leon de Winter steckt in Leo Kaplan? Beide sind
erfolgreiche niederländische Schriftsteller, sie tragen fast den
gleichen Vornamen und beide sind Juden, die einen Großteil ihrer
Vorfahren im Holocaust verloren haben. Kein Wunder also, dass die
Frage nach jüdischem Leben in der Gegenwart sich wie ein Grundton
durch den Roman zieht. Einer wie Leo Kaplan, obwohl kein
gläubiger Jude, ist über das Schicksal seiner Familie
zwangsläufig mit der Geschichte verbunden und wird immer wieder
damit konfrontiert, allein schon weil er den gleichen Namen wie
sein im KZ ermordeter Onkel trägt. Leon de Winter geht mit diesem
Thema mit spielerischer Leichtigkeit und niemals mit politisch
korrekter Betroffenheit um. Vermutlich ist diese Art des Umgangs
auch nur einem jüdischen Schriftsteller möglich, bei Nicht-Juden
wäre es nicht akzeptabel.
Leo Kaplan war für mich nach Malibu das
zweite Buch von Leon de Winter, und damit ist er zu einem meiner
Lieblingsautoren geworden. Seine anderen Romane -
glücklicherweise gibt es noch einige davon - werde ich nach und
nach auch noch lesen. (Christine)
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geht
es zur Rezension des Hörbuchs im Hoerbuecher4um!
Anmerkung: Ich würde das Buch hier jedoch einwandfrei dem
Hörbuch vorziehen! Es ist gut, kommt an dieses
außergewöhnliche Buch jedoch nicht heran! |
Bewertung: **** (Petra)
Bewertung: **** (Christine)