Inhalt:
In der Acid Row - so die
abwertende, aber leider passende Bezeichnung einer Zufahrtsstraße
einer Sozialsiedlung, die eigentlich Bassindale Road heißt - sind
Drogen, Gewalt und Schmutz an der Tagesordnung. Was als
gutgemeintes Wohnprojekt für sozialschwache Menschen gedacht war,
ist zum Vorhof zur Hölle gediehen. Die Sozialarbeiter, die die
Bewohner dort betreuen, tun ihr Bestes, an den Lebensbedingungen
dort etwas zu ändern, aber auch unter ihnen herrscht nicht immer
Einigkeit. Und genau das wird einigen Menschen letztendlich zum
Verhängnis. Es sickert durch eine Bemerkung von einer
frustrierten Sozialarbeiterin bei den Bewohnern durch, dass in
dieser Siedlung einem Pädophilen eine Wohnung zugewiesen worden
sei. Und das in dieser Gegend, wo es beinahe mehr Kinder als
Erwachsene gibt und die Bewohner ohnehin schon benachteiligt sind
- nun sollen sie auch noch mit dieser Gefahr leben. Für die
Bewohner bestätigt sich wieder einmal, dass für die Acid Row
andere Gesetze gelten, als für den Rest der Welt. Schon bald
haben die Bewohner sondiert, wo dieser Kinderschänder lebt. Denn
die Sozialarbeiterin hatte ebenfalls durchsickern lassen, dass
dieser Pädophile einen polnischen Namen trägt. Und kurz darauf
verscheindet auch noch die kleine Amy spurlos - für alle ist
klar: Das kann nur dieser Pädophile gewesen sein. Eine
ambitionierte Mutter ruft die Anwohner zu einer Demonstration auf.
Gesammelt marschieren die Bewohner der Sozialsiedlung zum Haus der
Männer, die kürzlich dort eingezogen sind; für alle ist klar,
dass der eine von ihnen der Pädophile sein muss, trägt er doch
den polnischen Namen Zelowski und ist vor kurzem erst mit seinem
Sohn eingezogen. Dass er Amy versteckt hält, ist ihnen ebenso
sonnenklar. Der Aufmarsch läuft rasch so arg aus dem Ruder, dass
Ereignisse ihren Lauf nehmen, die nicht wieder ungeschehen zu
machen sind. Barrikaden werden errichtet, so dass niemand mehr in
die Siedlung rein oder raus kommt, Steine fliegen, Autos werden
umgestoßen, Benzin wird abgezapft - es gibt kein Halten mehr...
Meine Meinung:
Dieses Buch hat mich hocherfreut. Von
Minette Walters bin ich gute Thriller gewohnt. Am besten gefallen
mir jedoch ihre Thriller mit gesellschaftskritischen Elementen,
wie z. B. "Schlangenlinien". Mit "Der Nachbar"
bewegt sie sich wieder - und das erstaunlich sicher - in diesem
Bereich. Vielleicht sogar noch ausgefeilter als in
"Schlangenlinien".
Sie zeichnet ein unglaublich intensives
Bild einer Siedlung, in der sozialschwache Menschen leben - leben
müssen. Teils kommt die Schilderung richtig unangenehm nah.
Unangenehm hier nicht als Mängel gesehen, sondern als großes
Plus. Denn Wegsehen ist bequem. Oberflächliche Schilderungen der
ach so schlimmen unteren Gesellschaftsschicht gibt es zu Hauf. In
allen möglichen Büchern, vornehmlich Krimis und Thriller, sind
sie zu finden. Minette Walters setzt da für mich Maßstäbe. Sie
erzeugt ein Verständnis für diese Menschen, ohne ihr Verhalten
zu entschuldigen mit der Begründung: Solche Menschen können ja
nicht anders. Der Autorin gelingt bei ihrer Schilderung die
Gradwanderung zwischen der Schwierigkeit, sich aus diesem Leben,
das sie führen - oder zu führen gezwungen sind - zu befreien und
dem oftmals auch mangelndem Willen, selbst etwas im eigenen Leben
zu verbessern, anstatt es immer mehr zu verpfuschen.
Dies ergibt sich aber alles aus den vielen
einzelnen Handlungsfäden, aus der die Geschichte aufgebaut ist,
so dass Minette Walters nicht den moralischen Zeigefinger erheben
muss. Das gelingt ihr ganz einfach dadurch, dass sie viele
verschiedene Personen agieren lässt, die jede für sich genommen
verständlich handelt - schlüssig, denn jeder Mensch denkt ja von
sich, dass er das einzig Richtige tut. Aus der Summe dieser
Handlungen der unterschiedlichsten Charaktere ergibt sich
schließlich die Tat, von der schon am Anfang des Buches die Rede
ist. Auch die moralische Aussage des Buches ergibt sich aus dem
Geflecht der Handlungen; diese Message birgt viel Raum für eigene
selbstkritische Gedanken, wenn man bedenkt, wie schnell man mit
dem Verurteilen von Menschen ist und wenn man sich fragt, wie
hätte ich reagiert, wäre ich diese Person und würde dieses
Leben gelebt haben.
Es fällt nicht schwer sich in die
einzelnen Figuren hineinzuversetzen. Denn allesamt sind sie sehr
fein gezeichnet, obwohl der Autorin eigentlich nicht viel Zeit
bleibt, auf jeden einzelnen tiefer einzugehen, da zu viele
Personen in die Handlung involviert sind. Walters hat sehr gut
beobachtet - das kommt diesem Thriller zugute. Sie vermag sich
exzellent in die verschiedensten Persönlichkeiten
hineinzuversetzen, so dass der Leser sich zwar seine eigenen
Gedanken machen und urteilen kann, aber von ihr persönlich keine
Figur eine Wertung erhält. Das überlässt sie ihren Figuren und
dem Leser selbst. Etwas, was ich sehr an dieser Autorin schätze.
Wird hier ein Klischee bedient, so spielt es sich eher im Kopf des
Lesers ab. Walters begeht nämlich nicht den Fehler, die gesamte
Handlung in Klischees einzuteilen. Auch artet es bei ihr nicht,
wie bei vielen anderen Autoren, so aus, dass alle Klischees
krampfhaft ausgespart werden - das wirkt nämlich mindestens
genauso aufgesetzt, wie das andere Extrem. So bleibt ihren Figuren
Raum für eine eigene Entwicklung in einer Extremsituation und
allesamt wirkten sie äußerst glaubwürdig auf mich. Besonders
hervortun möchte ich hier ihre Beschreibung der Nebenfigur
Constable Hanson. Schön, dass mal jemand den Polizeiapparat auf
das minimiert, was er sicherlich oft ist: Eine Behörde. Wer
selbst im öffentlichen Dienst einmal tätig war, wird sich
vorstellen können, dass die Polizei auch keine Ausnahme hierbei
ist. Constable Hanson gibt mir in dieser Vermutung Recht. Sie ist
keine mutige, unerschütterliche Heldin, deren ich so über bin,
weil sie in unzähligen Krimis und Thriller zu finden sind und
eine unglaubwürdiger ist als die andere. Das fand ich wirklich
erfrischen. Einzig die zu dick aufgetragene Passivität der
Polizei störte mich an manchen Stellen. Dies empfand ich auch
nicht als logisch durchdacht. An einigen Stellen hätte man das
Eingreifen der Polizei schon erwarten können.
Ein ganz geschicktes Bindeglied in den
vielen Handlungssträngen sind die kurzen, zwischen den Kapiteln
abgedruckten, Meldungen an alle Polizeidienststellen. So wird dem
Leser in Kürze klar, wie sich die Lage entwickelt und zuspitzt,
ohne dass seitenweise störende und ermüdende Erklärungen
darüber stattfinden müssen, die ohnehin nur die Geschichte ihrer
Intensität beraubt hätten. Auch die stets wechselnde
Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird, ist der
Spannung sehr zuträglich. Sie steigert sich von Seite zu Seite
und reißt bist ganz zum Schluss nicht ab. Auch hier eine
deutliche Steigerung zu dem Vorgänger
"Schlangenlinien", das zwar sozialkritisch und wertvoll,
aber nicht so spannungsgeladen war.
Fazit: Ein Buch, dass in die Tiefe geht
und nachhallt, anstatt nach der letzten Seite zu verstummen. Und
dennoch an Spannung kaum zu überbieten. (Petra)
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einem interessanten Bericht über die Autorin Minette
Walters! |
Bewertung: ****
( * schlecht / ** ganz gut / *** gut
/ **** spitze)
Infos: 414 Seiten, gebundene Ausgabe,
Goldmann Verlag, 22,90 €
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