Die Kölner Fabrikantentochter Lilli
Schlüchterer, ist eine lebensfrohe, selbstständige, junge Frau,
als sie während ihres Medizinstudiums 1923 ihrer großen Liebe
begegnet. Ernst Jahn, der einer verlorenen Liebe nachtrauert,
heiratet Lilli schließlich 1926, nachdem sie lange um ihn
geworben hat, obwohl ihre Eltern dieser Verbindung sehr skeptisch
gegenüber standen, da Lilli Jüdin und Ernst Protestant ist. Sie
bekommen zusammen fünf Kinder; die vier Mädchen Ilse, Johanna,
Eva und Dorothea sowie den Jungen Gerhard. Doch ihr Glück währt
nicht lang. Ernst hat eine Geliebte, will eine neue Familie
gründen und lässt sich von Lilli scheiden, obwohl ihm davon
abgeraten wird, da er sie damit der Verfolgung der Nazis schutzlos
ausliefert. Ernst ist jedoch unbeirrbar und verlässt seine Frau.
Kurz darauf wird Lilli nach Breitenau in ein Arbeits- und
Erziehungslager gebracht. Von dort aus später nach Auschwitz, wo
sie 1944 verstarb. Während der Zeit in Breitenau und in
Ausschwitz, ist es Lilli immer wieder gelungen, ihren Kindern
zahlreiche Briefe zukommen zu lassen, die die Kinder in
liebevoller Erinnerung aufbewahrt haben. Dass Lilli das geglückt
ist, grenzt eigentlich schon an ein Wunder. Noch viel
erstaunlicher aber ist es, dass auch die Briefe, die die Kinder an
ihre Mutter ins Arbeits- und Erziehungslager und später nach
Ausschwitz geschickt haben, ebenfalls vollständig erhalten sind.
Aufbewahrt hatte sie all die Jahre Lillis Sohn Gerhard, der
anscheinend nie jemandem etwas darüber erzählt hatte; nicht mal
seinen Schwestern. Erst nach Gerhards Tod wurde der komplette
Schriftwechsel in dessen Nachlass gefunden. Dieser Fund weckte bei
seinen Schwestern lange unterdrückte schmerzliche Erinnerungen;
bei Lillis Enkeln weckten sie Neugier. Das Resultat ist dieses
Buch. Martin Doerry, Sohn von Lillis ältester Tochter Ilse, hat
die Briefe gesichtet, sortiert und mit diesem Buch daraus ein
Zeitdokument erstellt, das eindringlicher nicht sein könnte...
Meine Meinung:
Dass die Entscheidung und der Schritt, die
Briefe der Öffentlichkeit preiszugeben, für die Familie nicht
leicht war, kann man sich vorstellen. Zudem findet der Leser diese
Vermutung in Martin Doerrys Einleitung bestätigt. Umso mehr
empfinde ich es als ein Geschenk an die Menschheit, insbesondere
an die junge Generation, für dass der Familie Dank gebührt. Es
gibt nicht viele Wege die ebenso geeignet wären, dem namenlosen
Schrecken, zu dem dieses dunkle Kapitel der Deutschen
Vergangenheit für die späteren Generationen geworden ist,
Gesichter, Stimmen und Namen zu geben. Nirgends erfährt der Leser
so viel Persönliches wie in Briefen, Tagebüchern oder vielleicht
noch Gedichten.
Wie schwer es den Angehörigen von Lilli
wirklich gefallen sein muss, sich für den Schritt zu entscheiden,
diese persönlichen Zeitdokumente zu veröffentlichen, kann man
erahnen, wenn man bedenkt, das Gerhard Jahn nicht einmal seinen
Schwestern davon erzählt hatte, dass er im Besitz der Briefe der
Mutter war. Ebenfalls sollte man meinen, dass man über einen
Menschen, den man so sehr geliebt hat, wie Lillis Kinder ihre
Mutter geliebt haben, worüber jeder einzelne ihrer Briefe Zeugnis
ablegt, gern etwas seinen eigenen Kindern erzählt. Dass Lillis
Enkel so wenig von ihr wussten, zeigt auf, wie schmerzlich die
Erinnerung an sie und ihr Schicksal gewesen sein muss. Hier wird
deutlich, welches Trauma die Hinterbliebenen der Holocaust-Opfer
durchlitten haben.
Auf dieses Schweigen stößt man auch
heute noch vielerorts. Die Wunden sind zu tief. Wie gut, dass die
Kinder und Kindeskinder von Lilli das Schweigen brechen und dem
Grauen Gesichter und Stimmen in Form von Briefen, Dokumenten und
Fotos geben.
Und der Blick fällt hierbei auf Menschen,
wie Du und ich. Menschen die weggeschaut haben, Menschen die
schwach und illoyal waren, Menschen die getötet haben, sei es
direkt oder indirekt.
Doch diese Zeit hat nicht nur das
Schlechte in den Menschen an die Oberfläche gefördert sondern
auch gute Eigenschaften verstärkt und Menschen dazu veranlasst,
das Beste zu geben. Allen voran sicherlich Lillis Kinder. Dass
diese damals noch halbfertigen Menschen so über sich
hinausgewachsen sind, bewundere ich zutiefst. Vielleicht blieb
ihnen keine andere Wahl, könnte man annehmen. Doch die größte
Bewunderung verlangte mir ihre grenzenlose Liebe zu ihrer Mutter
Lilli ab, für die sie so tapfer und so liebevoll waren. Für die
sie verzichtet haben und der sie ganz sicher das Gefühl gegeben
haben, geliebt zu werden. Selbst in Momenten größter
Verzweiflung, durch ihre Briefe, die von grenzenloser Liebe
zeugen.
Dass die Briefe, die die Kinder an sie ins
Konzentrationslager geschickt haben, noch existieren, ist
ebenfalls einem mutigen und barmherzigen Einsatz zu verdanken -
Lilli hat die Briefe vor ihrer Deportation nach Auschwitz einer
Aufseherin anvertraut, die mit dem Aufbewahren und überbringen an
die Familie ein großes Risiko eingegangen sein muss.
Ohne sie wäre heute solch ein
Zeitdokument ebenso wenig möglich, wie ohne den abermals
aufgebrachten Mut von Lillis Kindern, die der Veröffentlichung
der Briefe zugestimmt haben.
Das aus dieser Flut von Dokumenten für
den Leser ein vollständiges Bild entstanden ist, ist der
akribischen Arbeit von Martin Doerry zu verdanken. Mit all seinen
Details wird dieses Buch zur Präzisionsarbeit. Vielleicht sollte
ich an dieser Stelle noch erwähnen, dass Martin Doerry seit 1988
stellvertretender Chefredakteur beim SPIEGEL ist. Diese
unglaubliche Genauigkeit, mit der der Autor hier vorgeht, lässt
sich damit wenigstens ein Stückweit erklären.
Fazit: Ich habe nur eine Hoffnung. Und
zwar die, dass die Rezension nicht zu lang ist und der ein oder
andere sie deswegen nur überfliegt. Denn ich hoffe, dass ich
hierdurch bei möglichst Vielen das Interesse für Lillis
Geschichte wecken kann. Sie vermag mehr zu erzählen als „bloß“
ein persönliches Schicksal. Ich denke, dies war der Grund, warum
Lillis Kinder einer Veröffentlichung überhaupt zugestimmt haben.
Anmerkung:
Aufmerksam wurde ich auf dieses Buch durch
das Hörbuch mit dem gleichnamigen Titel. Hierrüber findet sich
im Hoerbuecher4um ebenfalls eine Rezension, die ergänzend zu
dieser sicher sehr interessant ist, auch wenn sich einige
Textbausteine der beiden Rezensionen gleichen. Denn dort wird
explizit auch auf die Hörbuchausgabe eingeganen. Die gekürzte
Hörbuchfassung weckte in mir den Wunsch die Geschichte von Lilli
vollständig zu erfahren, Abdrucke von einigen Briefen und weitere
Fotos von Lilli und ihren Kindern (einige wenige waren im booklet
des Hörbuchs bereits veröffentlicht) anschauen zu können. So
entschied ich mich dazu, auch das Buch zu lesen. Wer nun glaubt,
das Hörbuch hätte ich mir sparen können, wenn ich direkt zum
Buch gegriffen hätte, der täuscht sich. Ich würde mich, was
sehr selten ist, in diesem Fall wieder für beide Versionen
entscheiden und genau in der Reihenfolge. Beim Lesen von
persönlichen Briefen hat der Adressat oft die Stimme des Menschen
im Ohr klingen, der den Brief verfasst hat. Besonders, wenn sie
von einer Person kommen, die man liebt. Dieses Stück
Persönlichkeit verleiht das Hörbuch diesem Briefwechsel.
Natürlich sind es nicht die Originalstimmen, jedoch helfen sie
ungemein, Stimmen im Kopf zu haben, wenn man das Buch liest. Das
Buch hat dadurch, dass ich zuvor das Hörbuch gehört habe nochmal
gewonnen. Ich kann uneingeschränkt beides empfehlen: Sowohl das
Buch als auch das Hörbuch! (Petra)
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geht
es zur Rezension des Hörbuchs "Mein verwundetes Herz
- Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944"! |
Bewertung: ****