Hallo zusammen,
ob wir an Delaney eine Entwicklung bemerken werden, darauf bin ich auch gespannt. Mich würde nicht überraschen falls nicht. Denn T.C. Boyle scheint mir da sehr realistisch. Die meisten Menschen denken nicht um. Sie sind festgefahren in ihren Überzeugungen und auch in ihren Vorurteilen. Aber mal sehen.
Was Steffi über T.C. Boyle schreibt, könnte die Vermutung sogar bestätigen. Ich finde es sehr interessant, was Du über seine Bücher schreibst, Steffi. Dass er in all seinen Romanen seine Figuren in ihrer eigenen kleinen Welt agieren lässt, ohne dass sie reflektieren. Das springt mich in „América“ geradezu an, und mich freut, dass er das in einen anderen Romanen auch so gestaltet. Denn richtig, genau dadurch reflektiert der Leser umso mehr.
Oh ja Maria, es ist wirklich erstaunlich, wie sehr T.C. Boyle uns zum nachdenken anregt. Mir sind schon wieder so viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Und übrigens: Gar nicht schlimm, dass Du nicht so gut vorwärts kommst. Denn erstens finde ich, dass man so auch viel Zeit hat, damit sich all diese Gedanken entfalten können. Ich kann mich nur schwer von dem Buch lösen, bin aber dann trotzdem gar nicht so böse darüber, dass ich nur begrenzt viel Zeit habe, täglich in dem Buch zu lesen. Denn ich merke, dass es mich nach dem weglegen immer noch lange beschäftigt. So ist Raum für meine Gedanken. Und zweitens: Da Du nicht so schnell voran kommst, habe ich einmal das Gefühl schneller zu sein!
Zum zweiten Kapitel des zweiten Teils: Wie viele Enttäuschungen enthält ein Leben wie das Cándidos und Américas? Nach 3 Wochen regelmäßiger Arbeit, braucht Al Cándido nun nicht mehr. Verständlich. Der legale Kollege ist wieder da, der illegale Arbeiter muss gehen, da er großen Ärger bedeuten könnte. Aber was heißt das für das arme Herz eines Illegalen? Boyle macht selbst vor den (oft) zwangsläufigen Folgen nicht Halt: Alkohol um den Frust zu ertränken, und dann Schläge für die Frau, um die Wut loszuwerden. Und Boyle gelingt es mit wenigen Worten dies zu schildern, und diese Folge nachvollziehbar zu machen. Ohne großes Drama, ohne dass Cándido deshalb ein schlechter Mensch wird. Nur ein maßlos überforderter. Und América ist ein weiteres Mal ein Opfer. Diesmal ihres enttäuschten Mannes. Sie ist noch weiter unten in der Hackordnung.
Während dessen kommt es bei Delaney (auf Seite 206) erstmalig zu einem ungefilterten Ausbruch von Rassismus. Als Kyra von den Versammlungen am Supermarkt der vielen Männer spricht, schließt Delaney sogleich: Mexikaner. Auch hier verschärft sich also die Lage allmählich. Er relativiert später wieder, indem er allgemein über die Recht aller Menschen, auch der Mexikaner, philosophiert, aber diese Erkenntnisse scheinen stets vergessen, wenn ein Mexikaner Delaneys eigenes Leben berührt. Da das die letzte Zeit häufig der Fall war, auf negative Weise, schüren diese negativen Ereignisse seine Ablehnung.
Dass illegale Einwanderer keine Recht haben, stellt er auch gerade fest. Berichtigt sich aber, denn einige verfassungsmäßige Rechte stehen ihnen wohl zu. Aber das ist doch herzlich wenig. Boyle hat wirklich an alles gedacht. Auch die Rechtelosigkeit, die mir beim Lesen schon so oft ins Auge stach, wird hier thematisiert. Ich finde das wichtig.
Zum dritten Kapitel des zweiten Teils: Delaney wird in das Haus des ihm unbekannten Nachbarn gebeten. Dort findet wieder eine kleine, interne Besprechung in Sachen Tor statt. Erst einmal finde ich es bemerkenswert, wie unauffällig T.C. Boyle Figuren auftauchen lässt, die wir schon in einer anderen Szene, in Interaktion mit anderen Figuren erlebt haben. Diesmal ist es Jim Shirley. Ich habe ihn gleich erkannt, obwohl zuvor nie sein Name gefallen war, da er als dicker Mann beschrieben wurde. Da wusste ich direkt, das ist der Mann, bei dem América die Buddhas geschrubbt hat. Dann folgt ein kleiner Hinweis auf sein Disney-T-Shirt, und die letzten Zweifel sind ausgeräumt: Er ist es. Das hat T.C. Boyle auch mit anderen Figuren (z. B. dem Vergewaltiger mit der umgekehrten Baseballmütze) schon gemacht. Ich finde das sehr speziell und habe meine Freude daran. Empört war ich, als ausgerechnet Jim Shirley von der armen Sunny berichtet, der offenbar von Mexikanern bei einem Einbruch schlimmes angetan wurde. Und er fragt sich doch allen ernstes, ob eine Frau wohl überhaupt je verarbeiten kann, was Sunny dort widerfahren ist. Diese Doppelmoral. Wer hatte denn die Hand unpassender Weise auf Américas Schoß gelegt? Wie weit war er wohl von weiteren Übergriffen entfernt? Unfassbar, und doch weiß man, dass ein Jim Shirley Realität ist. Da ist es wieder: die äußere und die innere (Selbst-)Wahrnehmung.
Eine weitere Doppelmoral findet sich kurz drauf, in dem Gastgeber, diesem Banker, der diese elektronische Fußfessel hat, um zu Hause seine Haft abzusitzen, da er Kapitalverbrechen begangen hat. Er urteilt über andere mögliche Verbrecher (Mexikaner), als sei er die reinste Unschuld, als habe er ein Anrecht auf einen Platz in der Gesellschaft, während er alle Mexikaner ausgeschlossen sehen möchte, notfalls durch eine hochgezogene Mauer. Er will sie ausschließen aus dem Kreis, zu dem er gehört. Verdient hat er sich den Platz dort doch genauso wenig. Aber erschreckend – und (oder weil) realistisch: Er gehört zu der Gesellschaft, trotz seiner Verbrechen!
Erschütternd ist, dass diese hier geschilderte Doppelmoral gar nicht überspitzt ist, wie man vielleicht meinen könnte. Diese Doppelmoral wird gelebt – überall.
Bei all den Gedanken, die T.C. Boyle beim lesen auslöst, geht es fast unter. Ich möchte es dennoch bemerken: Er kann wunderbar Szenen beschreiben. Wie sie dort in dem Haus beisammen sitzen, und sich Stille über sie senkt, als sie Kaffee trinken und Kuchen essen. Ganz toll eingefangen, wie so viele andere Szenen auch.
Was zum Schluss dieses Kapitels passiert, hat mir den Atem verschlagen. Nun also auch Osbert. Das ist tragisch, und wäre es nicht so tragisch, dann wäre es witzig. Man weiß gar nicht ob man lachen oder weinen soll.
Und wie sehr das Kyra und Delaney mitnimmt, zeigt auch eine Tatsache auf: Mag sein, dass nebenan ein Mexikaner und seine Frau um die existenziellsten Dinge des Lebens kämpfen, und wirkliche Probleme haben. Jeder ist in seinem Leben verhaftet, und kämpft mit seinen eigenen Problemen. Die Tatsache, dass es viel schlimmere Sorgen und Nöte gibt, als die eigenen, machen die eigenen nicht besser oder erträglicher. Die Nichtigkeit einiger Probleme werden nur im direkten Vergleich deutlich. Aber zu dem ist der Mensch nicht fähig (oder zumindest nur sehr begrenzt), denn man lebt das eigene Leben und fühlt die eigenen Gefühle.
Zum vierten Kapitel des zweiten Teils: Und hier findet sich nun die Folge des Einschreitens des „wohlanständigen“ Menschen, der seine Kontakte hat spielen lassen, damit das aufhört mit der Arbeitsvermittlung vor dem Supermarkt. Ganz gönnerhaft hat er das im vorherigen Kapitel zugesagt, als sei er der Held. Er beraubt arme Menschen ihrer einzigen Einnahmequelle, während er satt und zufrieden im Eigenheim seine Haft absitzt. Pfui! Solch ein Mensch wird kaum die Moral haben dürfen, dass niemand etwas illegales tun darf – weder sich in einem Land seiner Wahl aufhalten, noch arbeiten. Denn illegale Geschäfte hat er selbst genug gemacht, sonst hätte er nicht diese elektronische Fußfessel.
Cándido und América haben sich nun aufgemacht, und versuchen ihr Glück in einer Stadt, und wurden auch sogleich von einem Mann angesprochen, der ihnen eine preiswerte Unterkunft geben will. Mir schwant Böses. Während dieser Mann mit Cándido abzieht, kümmert sich jemand anderes wohl um América. Oder der Kerl selbst, indem er Cándido niederschlägt? Ich fürchte mich zu lesen, was im kommenden Kapitel passiert. Ich bange um die beiden.
Doch erstmal lässt Delaney sich gerade im fünften Kapitel des zweiten Teils über die Coyoten aus in einem seiner Artikel. Gar nicht so übel, was er über die eingewanderten Arten darin schreibt, und über die Anpassungsfähigkeit der Coyoten (und sicher auch anderer Lebewesen). Im Hinblick auf das kürzliche Erlebnis mit Osbert liest sich der Artikel natürlich makaber.