Liebe Josie, liebe Barbara,
und Ihr anderen lieben Interessierten,
ich verstehe Euch voll und ganz! Und ich bevorzuge auch eher eine nicht zu moderne Sprache bei Klassikern. Diese modernisierten Übersetzungen liegen mir meistens nicht so. Machen mir das Gefühl für den Roman und die Zeit kaputt.
Aber... in diesem Fall hier habe ich mich lange mit den verschiedenen Übersetzungen befasst. Die beim Hanser Verlag erschienene Neuübersetzung von Rosemarie Tietze fiel bei mir zunächst durch, da mir ebenfalls die doch moderner klingende Sprache (ohne Schnörkel, und nicht so schön wie die der anderen Übersetzungen) auf- und missfiel. Ich hielt sie für verfälschend. Als ich mich jetzt kürzlich noch mal nach einer gebundenen Ausgabe umsah, da ich mit meiner TB-Ausgabe ja nicht ganz glücklich war (mit der Übersetzung schon, die schnörkeliger und altertümlicher anmutete), stolperte ich wieder über diese Neuübersetzung von Rosemarie Tietze. Und ich suchte im Internet gezielt nach Infos über die Qualität der Übersetzung, besonders auch im Bezug darauf, wie nah sie noch an Tolstois Vorlage ist. Und was mich sehr überrascht hat, ist, dass Rosemarie Tietze mit ihrem nüchternen, schnörkelloserem Ton scheinbar Tolstoi gerechter wird als frühere Übersetzungen. Da man Tolstois Sprache wohl als nicht sehr gefällig oder gar schön bezeichnet und empfindet, haben sich wohl frühere Übersetzer viel mehr Freiheiten herausgenommen, um den Roman geschmeidiger und gefälliger zu machen. Dem wollte Rosemarie Tietze wohl entgegenwirken. Und fand bei Sachkundigen damit auch Anklang. Das war für mich der entscheidende Punkt, der mich doch für diese Neuübersetzung eingenommen hat, die ich von meinem Empfinden für schön und klassikergerecht, auch nicht gewählt hätte.
Hier auch ein interessanter Link zu einem
Interview mit der Übersetzerin bei der FAZ.
Und hier ein interessanter Auszug, aus
Deutschlandfunk - Büchermarkt (vollständiger Artikel
hier).
Dort wird Rosemarie Tietze wie folgt zitiert:
"Wiederholungen hat man früher meist gemieden, man hat sie aufgelöst - oder hat sie nur, wenn sie ganz nah beieinander standen, wahrgenommen als Absicht des Autors und dann auch wiedergegeben im Deutschen. Meiner Ansicht nach macht Tolstoj auf eine für die damalige Zeit ganz unübliche Weise sehr, sehr stark Wiederholungen. Er arbeitet nicht nur bei den Wörtern, sondern auch im Satzbau mit Wiederholungsschleifen, die zum Teil so aufdringlich sind, dass sie geradezu an Gertrude Stein erinnern. Das ist eine Grundstruktur, die ich versucht habe nachzubilden."Und hier wird diese Aussage kommentiert:
"Rosemarie Tietzes Übersetzung verstößt gegen das unausgesprochene Credo ihrer Vorgänger, besonders in der wörtlichen Rede das flüchtig Dahingesagte, das Unfertige und die halben Sätze zu vervollständigen und im Deutschen schön und ordentlich erscheinen zu lassen. So gelingt es der Übersetzerin, Tolstojs stilistische Vielfalt in der Rede seiner Helden sichtbar zu machen. Anregung und Schützenhilfe hat sie sich übrigens bei einem deutschen Zeitgenossen des Autors geholt."Durch diese Informationen wurde mir klar, dass ich mit dieser Neuübersetzung in vielen Dingen wahrscheinlich näher an Tolstois Vorlage herankomme, als mit denen, die mir besser gefielen.
Ich denke auch dass es subjektiv ist, welche Sprache gefälliger ist. Uns dreien wäre eine ältere Übersetzung gefälliger. Auch wenn die Sprache erst mal etwas schwieriger erscheint. Mir fällt es oft leichter solch eine Sprache zu lesen, als (zumindest bei einem Klassiker) eine moderere. Denn da beißt sich für mich meine Sprachvorstellung von der Zeit, in der das Buch entstand, mit dem angewendeten moderner klingenden Sprachgebrauch. Und das steht mir beim lesen gern mal im Weg. Umso interessanter fand ich es hier herauszufinden, dass die alten Übersetzungen nicht unbedingt damit näher an Tolstois Vorlage waren.
Übersetzungen sind immer wieder ein interessantes Thema.
Ich bin gespannt, wenn das Buch bei mir an der Reihe ist, wie mir die Übersetzung gefällt. Dadurch, dass ich noch die Fischer-TB-Ausgabe habe, kann ich vergleichen. Darauf freue ich mich schon. Ich denke, dass mir die von Fischer (Übersetzer dort ist Hermann Röhl) stellenweise mehr entgegen gekommen wäre, da ich sie gefälliger beim lesen finde, bin aber auch froh, den anderen Weg (die Neuübersetzung von Rosemarie Tietze) einschlagen zu können.
Irgendwo hatte ich übrigens vor ein oder zwei Jahren, als ich mich erstmalig nach einer für mich geeigneten Übersetzung von "Anna Karenina" umschaute, gelesen, dass die Übersetzung Gisela Drohla (Ausgabe des Insel Verlags) der Vorlage am nächsten sein soll. Dies aber unter Vorbehalt, da ich diesen Hinweis irgendwo im Netz gefunden habe. Man weiß ja nie, welchen Wahrheitsgehalt solche Infos letztendlich haben. Und zudem gab es da die Neuübersetzung von Rosemarie Tietze noch nicht.
Josie, Du wolltest ja die verschiedenen Ausgaben miteinander vergleichen. Ich habe jetzt auch die Seite im Internet wiedergefunden, die ich damals zu Rate zog, als es die Hanser Ausgabe noch nicht gab. Sehr interessant, wie ich finde. Denn hier findet man direkte
Vergleiche der Übersetzungen. Und
hier kann man dann nachlesen, von wem die jeweilige Übersetzung stammt.