Hallo zusammen,
viele Fragen. Ich versuche mich mal an einer Antwort. Für alle Vorsicht – Spoilergefahr!
Binchen, zunächst einmal zu Deiner und Martinas Frage Shays Erläuterungen zu den Gründen für seine Tat. Das kann man pauschal gar nicht beantworten. In solchen Familien gibt es verschiedene Typen an Kindern. Einige fühlen sich verpflichtet (nein, falsches Wort… tatsächlich sogar VERANTWORTLICH). Für die Eltern. Und sicher auch in Konstellationen wie hier für die kleineren Geschwister. Dass jemand, der diesen Weg (sich verantwortlich fühlen) gewählt hat (nein, wieder falsches Wort. Das geschieht sicher nicht bewusst… man schlägt diesen Weg ein, weil man gar nicht sieht, dass man eine Wahl hat! Man hat, wenn man dieser Typus Kind ist, keine Wahl, sondern man denkt, dass es die Aufgabe ist, die man zu erfüllen hat), eine Mordswut auf einen Bruder bekommt, der auch schützend seine Hände über die kleineren/schwächeren Geschwister hätte halten müssen (muss er nicht, aber aus Sicht von Shay auf jeden Fall schon!), ist nachvollziehbar. Und ich glaube, Shay glaubt das wirklich auch. Er hat keine Alternative vor Augen. Er fühlte sich verpflichtet, ja vielleicht von höherer Stelle (Gott) beauftragt. Das ist eine gängige Sichtweise bei Kindern, die so aufwachsen.
Aber es ist nicht die einzige Sichtweise. Es gibt auch Kinder, die keine andere Möglichkeit sehen, als fliehen. Der Selbsterhaltungstrieb drängt sie. Unbeschadet überstehen sie so was auch nicht. Aber sie haben wenigstens eine Chance auf ein anderes Leben. Ein Shay hat die nie. Er wird sich immer verantwortlich fühlen. Immer damit hadern, dass er kein eigenes Leben aufbauen und führen kann. Dass ihm immer was (die Familie!) dazwischen kommt. Und das macht kaputt. Innerlich kaputt. Und hat man dann vom Vater noch vorgelebt bekommen, wie man Wut ausdrückt (das Objekt der Wut mit dem Kopf gegen die Wand knallen), dann ist das schon vorstellbar, was Shay da getan hat. Und es ist auch vorstellbar, dass er das selber glaubt. Seine Rechtfertigungen von ihm selbst gar nicht als solche erkannt werden. Denn in der Lage, in der Shay sein Leben lang steckte, ist es schwer zu erkennen, dass man eine Wahl hätte. Und selbst wenn, ist es ungeheuer schwer, sich von dieser gefühlten Pflicht und Verantwortung zu befreien.
Ich finde es toll, wie Tana French hier die verschiedenen Typen einbringt: Einlenkende und Stimmung auslotende Kinder (Carmel und Jackie – das merkt man auch an ihrem Verhalten wenn Frank und Shay streiten). Kinder, die die Verantwortung tragen und handeln (Geschwister verstecken etc.). Und welche die abhauen (Frank).
Nun zu Deiner Frage, ob Frank denn die Pflicht gehabt hätte zu Hause zu bleiben. Nein. Hätte er nicht. Aber es gehört sehr viel Stärke dazu, das durchzuziehen. Oder Egoismus – gesunder in dem Zusammenhang. Aber ohne ausgeprägten Hang zum Egoismus ist es sicher sehr schwer (fast unmöglich) zu gehen.
Und Fevvers schreibt dazu etwas passendes: „Es ist immer tragisch, wenn jemand glaubt, sich aufopfern zu müssen (eher eine weibliche Neigung, dass es im Roman anders ist, fand ich bemerkenswert!), statt einen gesunden Egoismus an den Tag zu legen, selbst wenn es um weniger dramatische Ereignisse geht.“
Das ist richtig. Sowas ist immer tragisch. Aber von außen heraus betrachtet um so vieles leichter, als von innen heraus. Denn man fühlt sich beauftragt. Als habe man diese Aufgabe. Zu erkennen, dass es gar keine Aufgabe gibt, ist extrem schwer!!! (Da erinnere ich mich gern an Paul Austers „Stadt aus Glas“. Als der Detektiv dort herausfindet, dass das, was er beschatten sollte, längst nicht mehr da ist. Und dass er trotzdem weiter beschattet, weil das sein Auftrag ist. Und als er dann bemerkt, dass er sich selbst beauftragt hat (hier wird damit gespielt, dass Paul Auster in seinen eigenen Roman eintritt), und niemand sonst, ging mir persönlich ein Licht auf. Für manches, für das man sich berufen fühlt, gibt es gar keinen Auftrag. Man hat sich selbst diesen Auftrag gegeben. Und man kann lange warten, dass diesen Auftrag jemand auflöst. Das muss man nämlich selber tun. Aber das geht nur, wenn man merkt, dass es keinen höheren Auftraggeber gibt. Kein Gott, keine Moral, keine Person. Nur man selbst.
Zu Franks Eltern: Die Eindimensionalität liegt für mich darin, dass sie Stereotypen verkörpern, Klischees erfüllen. Sie haben keine zusätzlichen Facetten (bis auf das kurze aufblitzen in Szenen wie dem Silber polieren oder beim Gespräch zwischen Frank und dem Vater). Fevvers hat das aber auch schon erklärt, so denke ich, brauche ich das nicht weiter auszuführen. Nur möchte ich nochmals dazu wiederholen, dass ich auch das von Tana French gut gelungen fühle. Denn Menschen wie Franks Eltern sind in diesem Stadium meistens stereotyp. Sie sind festgefahren in ihren Verhaltensmustern. Und so hätte ich hier zu viele Facetten gar nicht glaubhaft gefunden. Es gibt so Menschen, die derart abgestumpft sind und nicht mehr nach rechts und links sehen. Sie haben nur ihren Frust, der sich unüberlegt Bahn bricht. Und ihre Sucht, wie Franks Vater. Nichts anderes ist mehr wichtig. Und die Persönlichkeit verkümmert, bis nur noch das da ist, was wir sehen: Wut, Versagen, Sucht, Gewalt, Lieblosigkeit…
Vielschichtigkeit bei diesen beiden Figuren hätte mich eher gestört. Dass sie facettenlos und somit eindimensional geblieben sind, fand ich passend und denke nicht, dass Tana French das aus Nachlässigkeit gemacht hat.
Fevvers, die Dialoge mit Stephen habe ich auch sehr genossen! Klasse!
Ich hatte übrigens einen kleinen Kritikpunkt. Ich fand es nicht glaubwürdig, dass Frank sich weichklopfen lässt (wo er schon bei Stiefeln so hart geblieben ist), Holly zu seiner Familie mitzunehmen. Ausgerechnet, als er mit der Absicht (wie er später selber sagt) hingefahren ist, Shay zu töten. Jemand, der so drauf bedacht ist, seine Tochter aus dem Millieu und den schlechten Ereignissen fernzuhalten, hätte zu solch einem Anlass sicher seine Tochter nicht mitgenommen. Zumal er sich ja schon absolut sicher war, dass Shay der Mörder ist. Und wohl sogar vor dem eigenen kleinen Bruder nicht Halt gemacht hat. Wie hast Du das gesehen?
Bei Tana French habe ich meistens solch kleine Faktoren, die mir auffallen. Da mir aber das gesamte so ausgezeichnet gefallen hat, fällt das für mich nicht ins Gewicht. Ich kann da gut drüber wegsehen, denn das Buch als Ganzes war dazu einfach zu rund und zu dicht. Nur aufgefallen ist es mir beim lesen.
Mir haben alle 3 Bände spitze gefallen. Jedes auf seine Art. Deshalb ist es schwer, Dir eine Zuordnung von „Totengleich“ zu geben. Es ist anders. Bisher waren sie alle drei sehr unterschiedlich. Man erkennt Tana French immer sofort wieder. Durch ihre dichte Erzählweise, die unglaublich intensiven Szenen, die Nostalgie-Szenen, in denen Erwachsene sich ein bisschen in ihre Kindheit zurückfallen lassen, in kindliche Verhaltsmuster übergehen.
Selbst die Hauptfigur wechselt ja jedes Mal. Für mich waren wie gesagt alle 3 Bände spitze – jeder auf seine ganz eigene Art und Weise. Ich möchte keinen missen.
In „Totengleich“ bin ich auch über eine kleine Schwäche gestolpert. Hat meinem Lesespaß aber ebenfalls überhaupt keinen Abbruch getan. Dafür habe ich mich viel zu wohl gefühlt, in dieser merkwürdigen WG mit ihren faszinierenden Persönlichkeiten. Und überhaupt fand ich den Undercover-Einsatz sehr spannend. Überhaupt hatte das Buch auch wieder so einen unwiderstehlich Sog.
Ich kann Dir da also nicht helfen. Ich fürchte, das musst Du allein rausfinden.
Bist Du schon neugierig, wer in Band 4 die Hauptrolle übernehmen wird? Oder hast Du gar selbst eine Idee? Ich weiß es, weil Rachel eine Andeutung gemacht hat, der ich nachgegangen bin.
